Die EU in der Coronakrise: Den Laden dicht machen

Auch in der Coronakrise leistet die EU einmal mehr einen Offenbarungseid: Auf nationale Alleingänge folgt nun Budgetstreit entlang altbekannter, aber mehr denn je verhärteter Frontlinien. Es sieht nicht gut aus für die Zukunft der Union.

Nichts geht mehr im Schengenraum: Stau an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn. Im März hatten verschiedene Länder, darunter prominent Deutschland, beschlossen, die Grenzen zu benachbarten EU-Staaten im Zuge des Kampfes gegen das Coronavirus zu schließen. (Foto: EPA-EFE/Christian Bruna)

Die Formulierung war drastisch. „Die EU hat heute nicht die Mittel für eine gemeinsame Reaktion auf die Krise. Wenn sie aber jetzt nicht beweist, dass sie existiert, wird sie aufhören zu bestehen.“ So stand es letzte Woche in einer ganzseitigen Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen. Gezeichnet war der Offene Brief von einer Reihe italienischer Politiker: dem sozialdemokratischen EU-Abgeordneten Carlo Calenda, den Ministerpräsidenten von Emilia-Romagna und Ligurien sowie verschiedenen Bürgermeistern schwer von der Coronapandemie betroffener Städte wie Mailand, Bergamo und Venedig. Adressat waren nicht näher genannte „liebe deutsche Freunde“, die man bat, ihren Platz unter den „großen europäischen Nationen“ und „Institutionen mit den Werten von Freiheit und Solidarität“ wieder einzunehmen.

Vorangegangen war eine sechsstündige Videokonferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs unter Leitung des Ratspräsidenten Charles Michel, um über Hilfsmaßnahmen für Länder, die von der Coronakrise massiv getroffen wurden, zu beraten. Im Mittelpunkt standen dabei Vorschlage, die schon in der Vergangenheit für Kontroversen gesorgt hatten, darunter die sogenannten Eurobonds. Gemeint sind damit gemeinschaftlich finanzierte Kapitalanleihen der EU-Länder, für deren Zinsen und Rückzahlung die Länder dann auch gemeinsam haften würden.

Eurobonds kämen vor allem hoch verschuldeten Ländern zu Gute, die auf diese Weise an Krediten zu besseren Konditionen teilhaben könnten, ohne die aufgrund der geringen Bonität jener Länder anfallenden hohen Zinsen. Während die einen also über Eurobonds die Schulden für finanzschwache Länder „billiger“ machen wollen, fürchten die anderen, für die Verbindlichkeiten anderer in die Pflicht genommen zu werden und am Ende bezahlen zu müssen.

Bei den am vergangenen Dienstag begonnenen Verhandlungen der Finanzminister der EU-Mitgliedsstaaten sorgten nicht nur die Eurobonds, sondern insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen Kredite aus dem 2012 ins Leben gerufenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in Anspruch genommen werden können, für heftigen Streit. Mit ihm sollen Eurostaaten zinsgünstige Kredite in Höhe von bis zu zwei Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung bereitgestellt werden, um die Folgen der Coronakrise zu bekämpfen. Insgesamt stehen dafür laut Euro-Gruppen-Chef Centeno rund 240 Milliarden Euro zur Verfügung. Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra hat jedoch gefordert, dies jeweils von Reformen der Sozialsysteme oder einer Erhöhung des Rentenalters abhängig zu machen, was die Länder des Südens zurückweisen. Die Verhandlungen dauerten bei Redaktionsschluss dieser Zeitung noch an. Zuletzt wurde von einem Kompromissvorschlag berichtet, wonach Länder für ESM-Hilfen, die ins Gesundheitssystem fließen, keine Bedingungen erfüllen müssen, für Investitionen in andere Bereiche hingegen schon.

Die Regierungen in Den Haag und Berlin sind bereits seit der Eurokrise hinlänglich als Verfechter eines harten Austeritätskurses bekannt. Doch mittlerweile gibt es in beiden Ländern nicht nur politischen Druck, endlich von dieser Linie abzurücken, sondern auch Signale eines Einlenkens in Form spezieller Solidaritätsfonds oder eben, wie auch Deutschland signalisiert, eines zumindest teilweise erleichterten Zugangs zum Stabilitätsmechanismus ESM. Um gemeinsame Schuldpapiere wie Eurobonds allerdings, die auch von vielen Ökonomen gefordert werden, macht man bislang weiter einen großen Bogen.

Sehr wahrscheinlich stehen in diesem Konflikt noch einige Runden bevor, und der Zeitpunkt ist denkbar schlecht für eine Auseinandersetzung dieser Dimension. Ein „financial distancing“ der wohlhabenden Länder hätte das Potenzial, die EU endgültig zu spalten. Nicht zuletzt, weil das Verhältnis zwischen Mitgliedsstaaten und supranationalen Institutionen ohnehin ein Problemtisches ist. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der die Idee weiterer europäischer Integration vermehrt umstritten ist.

In Zeiten, in denen Europa sich so fragil und machtlos zeigt, ist die Schließung der Außengrenzen auch ein verzweifelter Versuch, im Inneren wieder einheitliche Verhältnisse herzustellen.

Bei der Virusbekämpfung zeigt sich das auf ganzer Linie. So verkündeten Ursula von der Leyen namens der EU-Kommission und Charles Michel für den Europäischen Rat, man schlage den Mitgliedsstaaten ein koordiniertes Vorgehen vor, die EU-Außengrenzen für dreißig Tage zu schließen. Sogenannte „nicht- essenzielle“ Personenreisen ins Schengengebiet werden seither unterbunden. Die drastische Maßnahme folgte auf die bereits zuvor vollzogene Schließung der Binnengrenzen durch Mitgliedsstaaten wie Polen, Österreich, Deutschland oder Frankreich.

Dass die EU im Angesicht dieser Krise auf Abschottung setzt, überrascht nicht. Immerhin hat sie dieses Prinzip bereits in weit weniger bedrohlichen Situationen etabliert. Für einzelne Mitgliedsstaaten waren Grenzschließungen spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise in zunehmendem Maße ein Mittel, um unerwünschte Entwicklungen fernzuhalten. So sehr, dass sich Kommissionschefin von der Leyen und Ylva Johansson, die Kommissarin für Inneres, nach Ausbruch der Coronakrise ernsthaft um das Funktionieren von Güterverkehr und Binnenmarkt sorgten.

Danach wurde es still um die EU. Zumindest wirkte das zunächst einmal so, als die neue mediale Realität noch ungewohnt war: die täglichen Updates von Infektions- und Todesraten, Kurvenverläufen und Vergleichen, welcher Ansatz nun am besten zur Bekämpfung des Virus taugt. Denn auch dies ist eine Erkenntnis des Krisen-Modus: Die Maßnahmen gegen das Coronavirus werden nicht in Brüssel beschlossen, sondern unterliegen der Hoheit der Mitgliedsstaaten. Gesundheitspolitisch zeigt sich Europa weitestgehend in einem Zustand, wie ihn sich Verfechter einer nationalstaatlichen Renaissance wünschen.

In den einzelnen EU-Staaten wurden dann auch durchaus unterschiedliche Varianten der universal als „Lockdown“ bezeichneten Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit der Bürger praktiziert. Die Differenzen gingen soweit, dass etwa in Österreich Kinder schon seit Tagen zu Hause saßen, während in den Niederlanden noch diskutiert wurde, ob die Schulen zu schließen seien. Und während die Regierungen in Brüssel oder Berlin Kontaktverbote auferlegten und Gruppen, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten, mit Geldbußen drohen, werden in den Bars von Stockholm auch bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch Getränke ausgeschenkt.

Die Unterschiede zeigen sich besonders dort, wo unterschiedliche Ansätze in räumlicher Nähe aufeinandertreffen. So sah man, nachdem die belgische Regierung einen umfassenden Lockdown installiert hatte, zahlreiche Menschen am Wochenende über die Grenze in die Niederlande fahren, wo zu jenem Zeitpunkt die Gastronomie noch auf vollen Touren lief. Virologen und Politiker schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Die Folge: Ausgerechnet in Regionen, die seit Jahrzehnten von offenen Grenzen geprägt sind, tönte der Ruf nach Abschottung immer lauter.

In Zeiten, in denen Europa sich so fragil und machtlos zeigt, ist die Schließung der Außengrenzen auch ein verzweifelter Versuch, im Inneren wieder einheitliche Verhältnisse herzustellen. Auch, weil die Union im Vergleich zu den hektisch ergriffenen Maßnahmen nationaler Krisenstäbe bisweilen als untätig wahrgenommen wird. „Warum Europa nichts tut? Weil ihr es nicht wolltet“, kommentierte Sophie in´t Veld, langjährige EU-Abgeordnete für die liberale niederländische Partei D66, dies sarkastisch.

Dabei haben EU-Kommission und Parlament in diesen Wochen durchaus Schritte ergriffen: Janez Lenarcic, Kommissar für Krisenmanagement, twitterte etwa, ohne Solidarität werde die EU „die Epidemie nicht kontrollieren“ können. Für eine „koordinierte Antwort auf das Corona- Virus“ regte er an, Europa solle die Verteilung von medizinischem Material wie Beatmungsgeräte organisieren. Kein schlechter Ansatz – nur, dass die Beteiligung der Mitgliedsstaaten freiwillig ist und die Verfügbarkeit solcher Apparate begrenzt. Lenarcic’ Plan fand durchaus Gehör. Fraglich jedoch, wie er sich im täglichen Kampf jedes Mitgliedstaats um essenziellen Klinikbedarf umsetzen lässt.

Das EU-Parlament hat derweil so gut wie einstimmig ein Hilfsprogramm angenommen, das Investitionen in Höhe von 37 Milliarden Euro aus EU-Strukturfonds in die Gesundheitssysteme und Wirtschaft besonders betroffener Mitgliedsstaaten vorsieht. Zudem soll Geld aus dem EU-Solidaritätsfonds für Naturkatastrophen zugänglich gemacht werden. An eindringlichen Aufrufen zur Zusammenarbeit mangelt es in Brüssel derzeit nicht, egal ob diese von Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel oder aus verschiedenen Fraktionen des EU-Parlaments kommen.

Deutlich wird jedoch, dass die EU auch in der aktuellen Krise nicht substanziell anders handelt als bereits zuvor. Kaum mehr als einen Monat ist es her, dass die Staats- und Regierungschefs sich beim Gipfeltreffen in Brüssel Ende Februar nicht auf einen gemeinsamen Haushalt einigen konnten. Vom Coronavirus war damals noch keine Rede, doch die damaligen Konfliktlinien verliefen ähnlich wie im derzeitigen Streit um die Finanzierung der Covid-19-Krise. Damals hatten sich die nördlichen Mitgliedsstaaten einer Erhöhung des EU-Budgets entgegengestellt.

Dass die umstrittenen Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien nun doch begonnen werden sollen, dürfte nicht für mehr Einigkeit unter den Mitgliedsstaaten sorgen. Zugleich stehen die EU und von der Leyens proklamierte „geopolitische Kommission“ auch jenseits von Corona vor großen Herausforderungen: etwa den Westbalkan als Einflussgebiet nicht an Russland zu verlieren.

Damit ist das Konfliktpotenzial allerdings bei weitem nicht erschöpft. Im Zuge der täglichen Notstandsroutine hat man bislang noch keine Zeit gefunden, sich ernsthaft mit der neuen Realität in Ungarn auseinanderzusetzen, wo das Parlament sich im Namen der Virusbekämpfung entmachten ließ. Gleiches gilt für das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Weigerung Polens, Ungarns und Tschechiens zur Aufnahme von Geflüchteten EU-Recht verletze.

Und dann ist da noch ein Thema, das zu Wochenbeginn massiv ins Blickfeld rückte: Österreich will nach Ostern als erstes Land seine Corona-Beschränkungen lockern. Das wirft die Frage auf, ob die EU eine gemeinsame Exit-Strategie mitgestalten kann – oder ob die verschiedenen Mitgliedsstaaten einmal mehr nationale Alleingänge praktizieren.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.

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