Der englische Musikjournalist Jon Savage, Chronist der frühen Punk- und Post-Punk-Ära, porträtiert in seinem neuesten Buch vielstimmig die Geschichte der legendären Band Joy Division.
Mitte der 1980er-Jahre in einem dunklen Kellerloch tief in der Nacht in meiner Heimatstadt am Rande des Nordschwarzwalds. Aus den Lautsprecherboxen dröhnt „She’s Lost Control“. Wer nicht schwarz gekleidet ist, seine Haare toupiert und mit Spray bearbeitet hat oder nicht mindestens den Nacken und die Seiten ausrasiert hat, fällt auf. Und wer keine Pikes trägt, wie die nach vorn extrem spitz zulaufenden Schuhe genannt werden, der schreitet zumindest breitbeinig und mit großen Schritten in Springerstiefeln durch das „Skandal“, die Underground-Disco in der alten badischen Industriestadt, die schon einmal bessere Tage gesehen hat. Und wer beim Tanzen nicht bereits in düstere Trance verfallen ist, der oder die bewegt sich irgendwie zwischen Epilepsie und Veitstanz, wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden, bewegt die Arme raumgreifend und tritt mit den Beinen um sich. Oder tanzt den „Tote-Fliege-Tanz“, wie er in Jon Savages Buch „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ genannt wird, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen nach oben verdreht.
Wer einmal das Lebensgefühl dieser längst vergangenen Zeit verspürt hat, kann vielleicht besser als andere nachvollziehen, was Jon Savage in seiner Biographie der Band „Joy Division“ beschreibt. Von London haben damals mindestens so viele geträumt wie von Berlin. An Manchester dachte kaum jemand. Die nordenglische Stadt war in den 1970er-Jahren heruntergekommener, als man es sich heute wohl vorstellen kann. Sie war vor allem trist und grau. Ein ultrareaktionärer Polizeichef schwang die Keule und ließ einem Musikclub nach dem anderen den Strom abdrehen, wenn es ihm gerade passte. In diesem Klima spross zwischen Beton und Asphalt eine Subkultur, die noch weit über die Landesgrenzen hinweg ihre Anhänger finden sollte. Aus der alten Industriemetropole, dem früheren Zentrum der englischen Textilproduktion und der Keimzelle der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, kamen zwei der wichtigsten Bands des Post-Punk: The Fall mit ihrem legendären, vor zwei Jahren verstorbenen Sänger Mark E. Smith, einem begnadet grantigen Griesgram, „Poet der spuckenden Wortkaskaden“, wie ihn die Zeitschrift „Rolling Stone“ posthum nannte, und eben Joy Division, die sagenumwobene Gruppe, die vielen anderen Bands, darunter kaum weniger wegweisende wie The Cure bis The National, Interpol oder The Editors als Vorbild diente. In „Madchester“, das zu einem Mittelpunkt der Subkultur gedieh, entstand mit Factory Records außerdem eines der einflussreichsten Independent-Plattenlabels.
Im Mai 1980 nahm sich Ian Curtis, der ikonische Frontmann von „Joy Division“, im Alter von 23 Jahren das Leben und gehört seither zu den lebenden Untoten der Popgeschichte. Filmemacher wie Anton Corbijn mit „Control“ und Michael Winterbottom mit „24 Hour Party People“ und Autoren wie Dave Haslam haben sich ihm und seiner Zeit angenommen. Curtis hinterließ eine Frau, die später ihre Memoiren über die Zeit mit ihm verfasste, eine Tochter und zwei Alben: das 1979 erschienene „Unknown Pleasures“, ein Meilenstein des Rocks mit dem ikonischen Cover, das mehrere weiße Radiopulse auf schwarzem Hintergrund zeigt, und „Closer“ aus dem Jahr 1980, das nach Curtis’ Tod erschien, ebenso in der für Joy Division typischen Schwarz-Weiß-Ästhetik.
Wie die damalige Musikszene von Manchester um The Fall und Joy Division entstand, hat schon der Musikjournalist Simon Reynolds in dem 2005 erschienen „Rip It Up And Start Again“ beschrieben, einem umfassenden und vorwiegend gut recherchierten Werk über die Post-Punk-Ära von 1978 bis 1984. Es war fast eine Frage der Zeit, bis sich Reynolds’ zehn Jahre ältere Kollege, der Pophistoriker und Publizist Jon Savage, Jahrgang 1953, einst für die Zeitschriften „Sounds“, „New Musical Express“ und – wie Reynolds – für den „Melody Maker“ tätig, des Themas annahm. Schließlich war er selbst im Publikum gestanden, als Curtis zusammen mit Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris auftrat. Die drei Letztgenannten gründeten nach Curtis’ Tod die New-Wave-Gruppe New Order.
„Weil alles so hässlich war, hielt man ständig nach etwas Schönem Ausschau, wenn auch vielleicht nur unterbewusst.“
Die düstere, minimalistische Kühle von Joy Division hatte es Savage angetan. Sie stand im Gegensatz zu den Sex Pistols und war mit ihrer Bassgitarrenlastigkeit ähnlich stilbildend wie die musikalische Explosion der Punkbands, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen, wie The Clash, The Damned – oder The Buzzcocks, als deren Vorband Joy Division auftrat und die aus Bolton in der näheren Umgebung von Manchester kamen.
Über den Punk-Urknall, der seine Vorgeschichte sowohl in England als auch in den USA hatte, schrieb Savage 1991 das Kult-Buch „England’s Dreaming. The Sex Pistols and Punk Rock“. Hunderte Gespräche mit Protagonisten und Zeitzeugen ergaben eine kaleidoskopische Chronik jener Zeit, in der Punk die Rockmusik revolutionierte. Im selben, collagenhaften Stil der Oral History entstand auch das Buch über Joy Division. Zu Wort kommen Curtis’ Bandkollegen und andere Musiker, Manager und Produzenten, Fans, Journalisten. Savage schildert die Lebensumstände der Jugendlichen von damals, die zu den ersten Punkkonzerten kamen und selbst eine Band gründeten, die sich für die Literatur von William S. Burroughs und Philip K. Dick interessierten und die Platten von Bands wie Can oder Kraftwerk, aber auch Reggae anhörten. Nicht zuletzt erklärt er den Kult um Joy Division und destilliert die Bandgeschichte aus den zahlreichen Stimmen.
Ob eine Oral History nun Literatur ist, darüber haben sich die Kritiker schon bei der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch die Köpfe zerbrochen. Der Rezensent meint: In der Tat ist es als eine Art von Collage aus individuellen Stimmen die literarische Annäherung an ein Thema oder an den menschlichen Alltag. Gerade bei Punk, der die Collage zum Stilmittel erhob wie vor ihm der Dadaismus, ist diese Form die naheliegende. Auch wenn Joy Division keine Punkband war, so war sie von Punk entscheidend inspiriert.
Eine Initialzündung für viele Musiker aus der Gegend in und um Manchester stellte sicherlich ein Auftritt der Sex Pistols im Jahr 1976 vor kaum mehr als ein paar Dutzend Zuschauern dar, darunter auch Curtis. Bei Savage kommt er selbst zu Wort. Der schüchterne Polizistensohn hätte kaum eine gewöhnlichere Laufbahn beginnen können. Er war beim Arbeitsamt angestellt, mit 19 verheiratet und früh Vater geworden. Doch die Musik bestimmte mehr und mehr sein Leben. Auf der Bühne verwandelte er sich in einen anderen Menschen. Auf seiner Jacke stand mit Klebestreifen „Hate“. Seine Texte handeln von Isolation und Verlorenheit. Die Stimmung der Musik reicht von Melancholie und Erhabenheit bis zu Verzweiflung und Coolness. Zunehmend litt Curtis an epileptischen Anfällen. Die Krankheit verschlimmerte sich mit zunehmendem Erfolg der Band.
Der Buchtitel „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“, eine direkte Übersetzung des englischen Originaltitels (The Searing Light, the Sun and Everything Else), wirkt verstörend seltsam und passt nicht zu dem Bild, das viele von Joy Division haben. Beim Lesen wird einem bewusst, was er bedeutete: „Weil alles so hässlich war, hielt man ständig nach etwas Schönem Ausschau, wenn auch vielleicht nur unterbewusst“, wird Bernard Sumner zitiert, der Gitarrist und spätere Sänger von New Order. „Bis ich ungefähr neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen“, sagt er und spricht von „einem Zustand der sensorischen Deprivation“.
Savage meint: „Ich empfinde die Musik von Joy Division gar nicht düster. Licht und Dunkelheit befinden sich bei der Band vielmehr im Gleichgewicht.“ Dem kann der Rezensent nur zustimmen. Zu Missverständnissen hat auch der Name der Band verleitet. Zuerst nannte sie sich Warsaw, nach dem Song „Warszawa“ von David Bowie. Die Umbenennung ging auf den Vorschlag von Ian Curtis zurück, der den Roman „The House of Dolls“ von Yehiel Feiner gelesen hatte. Die „Joy Division“ war darin eine Gruppe jüdischer Frauen in einem Lagerbordell eines Konzentrationslagers. Peter Hook und Stephen Morris haben mehrfach darauf hingewiesen, dass für sie die Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus prägend war, und nicht etwa die mit den Tätern, wie bisweilen behauptet wurde.
Der Sound von Joy Division hat bis heute nichts von seiner Wirkung verloren. Das vermittelt Savages Buch eindrucksvoll. Es macht das Lebensgefühl dieses Nachbebens der Punk-Ära spürbar. Die Euphorie, die damals herrschte, kann Savage lebendig machen. Was generell eine Stärke der Oral History ist, die nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten erzählt; eine potenzielle Schwäche hingegen ist sicherlich die Gefahr von Monotonie und Redundanz. Nicht alle Autorinnen und Autoren beherrschen diese dokumentarische Methode, Zeitzeugen im O-Ton und Stil eines Radio Features erzählen zu lassen. Auf eine gelungene Montage der verschiedenen Elemente kommt es an. Savage hat dies mit seinem neuen Buch nach „England’s Dreaming“ ein weiteres Mal erfolgreich getan.