Ein Leben ohne Smartphone und technische Geräte ist kaum mehr vorstellbar. Doch besonders im Kontext häuslicher Gewalt werden sie oft zur Tatwaffe – und ermöglichen digitalen Psychoterror durch ständige Überwachung und (Cyber-)Stalking.
Wie jeden Donnerstagvormittag fährt sie mit ihrem makellos sauberen Tesla auf den Parkplatz einer großen Supermarktkette. Sie parkt in Straßennähe, stellt den Motor ab und lässt ihre Tasche samt iPhone im Auto – aus Sicherheitsgründen. Dann steigt sie in den nächsten Bus und fährt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Ihr Ziel: die Beratungsstelle Fondation Pro Familia. Zum Schutz ihrer Identität bleibt ihr Name in diesem Artikel ungenannt. Ihre Geschichte steht stellvertretend für die einer Vielzahl von Frauen in Luxemburg, die in ihrer (Ex-)Beziehung durch ihren (Ex-)Partner Gewalt erleben.
Mit dem Fortschritt der Technik ist „digitale Gewalt“ ein fester Bestandteil häuslicher Gewalt – und damit auch des Alltags von Frauenberatungsstellen geworden. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine Vielzahl von Methoden des Psychoterrors, darunter ständige Überwachung und (Cyber)Stalking. Der gemeinsame Nenner ist, dass die Täter* digitale Technologien wie Smartphones, Computer – und neuerdings auch Autos – nutzen, um Macht und Kontrolle auszuüben.
Ständige Überwachung
„Das ist der neueste Schrei unter all jenen, die Kontrolle über ihre Partnerinnen ausüben wollen“, erklärt Murielle Bohn der Beratungsstelle Pro Familia in Düdelingen, die sich auf digitale Gewalt spezialisiert hat. „Komplette Überwachung funktioniert mit einem technologisch modernen Auto ganz fantastisch. Per App lässt sich in Echtzeit verfolgen, wo das Auto ist und was darin geschieht.“ Früher kontrollierten Täter den Kilometerzähler; heute bieten moderne Technologien detaillierte Einblicke in das Leben ihrer Opfer. Das Motiv dahinter bleibt allerdings dasselbe: Es geht den Tätern darum, Macht und Kontrolle auszuüben, um das Opfer letztlich komplett zu isolieren. Die typische Vorgehensweise im Rahmen häuslicher Gewalt. Wer das Gefühl hat, ansonsten alleine zu sein, dem fällt es schwerer, die Beziehung zu beenden, und sei der Partner noch so kontrollierend und toxisch.
Für die komplette Überwachung braucht es jedoch kein teures Auto. Oft reicht ein Smartphone als Tatwaffe. In der Beratungsstelle Pro Familia können Klientinnen ihre Handys vor dem Termin in eine spezielle Box legen, die das Smartphone daran hindert Daten zu senden, um heimliche Mithörer auszuschließen. „Manche Frauen ‚vergessen‘ das Handy auch zu Hause“, sagt Bohn. Auf diese Weise bleiben die Daten zur Geolokalisation, die jedes Smartphone aussenden kann und die den genauen Standort des Handys verraten, für den überwachenden Täter unauffällig. Weil Smartphones ein fester Bestandteil des Lebens sind, bedeutet ein Eingriff eine massive Grenzüberschreitung mit schweren psychischen Folgen – auch nach der Beziehung. Dabei ist es egal, ob der Eingriff direkt – der Täter zwingt das Opfer, ihn ins Handy und in Chatverläufe schauen zu lassen – oder indirekt über Spyware oder eine geteilte Cloud passiert. In einer der wenigen Studien zum Thema beschreibt eine Betroffene die permanente Überwachung als „Vergewaltigung der Seele“ und die erlebte digitale Kontrolle als allumfassend und traumatisierend.
Auch im Rahmen der Orange Week versucht Pro Familia, zu dem Thema zu sensibilisieren. Noch bis zum 10. Dezember geht es darum, auf die weltweite Problematik von Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen und Maßnahmen dagegen zu fördern. Eine solche ist: Man kann das Smartphone auf Spyware überprüfen lassen. Ein Service, der auch im Rahmen einer Beratung zur Verfügung steht. Bei vergangenen Aktionen dieser Art konnte auf zwei Smartphones eine Spyware festgestellt werden. Dass diese Zahl angesichts der Masse der von digital überwachten Frauen so niedrig ist, hat laut Murielle Bohn einen einfachen Grund: „Es braucht gar keine Spyware mehr. Es gibt genügend ‚legale‘ Systeme, die eigentlich zur elterlichen Kontrolle gedacht sind, die dazu genutzt werden können.“
(Cyber)Stalking
Was digitale Überwachung und Stalking ausmacht, ist der Rahmen, in dem sie stattfinden. Innerhalb einer Beziehung werden die Betroffenen dazu gedrängt, Passwörter zu teilen oder im Rahmen von Systemen wie etwa der „Familienfreigabe“ von Apple, Zugriff auf ihre Telefondaten freizugeben. Eine altmodischere, aber dennoch gängige Form der Kontrolle ist der physische Blick ins Handy oder das ständige Einfordern von Informationen per SMS oder Messenger-Nachrichten. Aus Überwachung wird Stalking, also das gezielte und wiederholte Verfolgen, Belästigen oder Nachstellen einer Person gegen ihren Willen. Typisch sind physische Nähe, unerwünschte Nachrichten oder Anrufe, oder als reines Cyberstalking mit andauernde Kontaktversuchen über digitale Mittel. Eine Betroffene berichtet davon, dass ihr Ex-Partner während der Beziehung auf einer Familienfeier, zu der er nicht mitkommen konnte, alle zwei Minuten eine Snapchat-Nachricht einforderte. Verweigern es die Betroffenen, Informationen herauszugeben, tauchen die Täter wenig später am Standort des Opfers auf. Häufig ist eine Eskalation der Gewalt bis hin zu körperlichen Übergriffen die Folge. Aus Angst vor dem Täter kooperieren die Frauen häufig und geraten so in eine Spirale der Gewalt, aus der sie nur schwer wieder herauskommen.
Anders als digitale Überwachung, die primär in Paarbeziehungen auftritt, kommt Cyberstalking auch vermehrt außerhalb intimer Beziehungen vor. Unabhängig von bestimmter Software oder technischen Geräten werden häufig Social Media-Plattformen zum digitalen Tatort. Entweder, indem der Täter ein Fakeprofil des Opfers erstellt, um es bloßzustellen und weiter zu isolieren, oder auch indem gefälschte Profile genutzt werden, um weiter Kontaktversuche starten zu können, wenn das echte Profil bereits blockiert wurde. Klassische Spyware kommt nach Erfahrungen der Frauenberatungsstelle Vivre sans violence (Visavi) eher außerhalb von intimen Beziehungen zum Einsatz. „Wir hatten einen Fall, bei dem eine Frau von einem Arbeitskollegen gestalkt wurde“, berichtet Isabelle Wagner (Anm. d. Red.: Name auf Wunsch geändert), die bei „Femme en détresse“ arbeitet, dem Verein, der hinter Visavi steht. Die betroffene Frau wunderte sich, dass ihr Kollege immer wusste, wo sie war, bis ihr einfiel, dass sie das Handy ungeschützt an ihrem Arbeitsplatz hatte liegen lassen. „Ein Augenblick reicht“, sagt Isabelle.
Fehlende Zahlen
Sowohl Pro Familia als auch Visavi bestätigen, dass das Thema digitale Gewalt, in ihren diversen Formen, innerhalb ihrer Beratungstätigkeit einen immer größeren Raum einnimmt. Offizielle Zahlen gibt es in Luxemburg hierzu indes nicht. Auch die Beratungsstellen selbst führen keine Statistik. Auf Anfragen der woxx verwiesen sowohl das Ministerium für Gleichstellung und Diversität wie auch das Luxembourg House of Cybersecurity (LHC) auf die Initiative Bee Secure, die vom Service national de la jeunesse und dem Kanner-Jugendtelefon getragen wird, in Zusammenarbeit mit dem LHC, der Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft. Sie zielt darauf ab, die Öffentlichkeit, insbesondere Kinder, Jugendliche und deren Umfeld, für einen sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit digitaler Technologie zu sensibilisieren und durch gezielte Angebote zu stärken. Wie die Tätigkeitsbeschreibung vermuten lässt, liegt ihr Fokus auf Kindern und Jugendlichen als Opfer, weshalb Bee Secure für Zahlen zu betroffenen Frauen an die Polizei verweist. Auch die Polizei bestätigt, dass – wie so oft in Luxemburg – „keine spezifischen Statistiken zu digitaler Gewalt an Frauen“ geführt werden.
Auf die Frage, welche Straftat bei unerlaubtem Zugriff auf mobile Geräte vorliegt, lautet die Antwort der Polizei: „Grundsätzlich handelt es sich um einen illegalen Zugang zu einem System mit Veränderung und Diebstahl von Daten. Dies wird mit einer Haftstrafe von bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe von bis zu 25.000 Euro bestraft. Das gleiche Strafmaß gilt auch, wenn man über die Zugangsdaten des Telefons verfügt und Änderungen vornimmt, zu denen man nicht berechtigt ist. Dies ist in den Artikeln 509.1 – 509.7 des Strafgesetzbuches geregelt.“ Das Problem liegt jedoch nicht unbedingt im Strafmaß, sondern vielmehr in der Beweislast, die bei den Opfern liegt.
Digitale Gewalt ist kaum juristisch beleg- und nachweisbar, insbesondere dann nicht, wenn innerhalb von Paarbeziehungen legale Systeme zur Überwachung genutzt werden. „Es ist legal, genau darin liegt das Problem“, sagt Murielle Bohn. Die Überwachungsmöglichkeiten, die legale Spyware zur digitalen Kontrolle von Kindern durch ihre Eltern bietet, werde im Kontext häuslicher Gewalt zweckentfremdet. Sind gemeinsame Kinder vorhanden, werden diese häufig vom Täter mit digitalen Mitteln wie Smartphones und Tabletts ausgestattet. Vermeintliche Geschenke, mit denen nach der Trennung weiter überwacht und kontrolliert werden kann.
Einen Ausweg können betroffene Frauen mithilfe von Beratungsstellen wie Pro Familie und Visavi trotzdem finden. Nach einer Gefahrenanalyse werden hier zusammen Schritte zurück in die digitale Unabhängigkeit geplant. „Es fängt bei einer neuen E-Mail-Adresse mit einem neuen Passwort an. Diese wird dann dazu verwendet, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen, denn auch hier haben betroffene Frauen oft keinen Zugriff mehr. Am Ende steht der Kauf eines neuen Telefons. Nur so kann es gelingen: Alle Verbindungen müssen gekappt werden“, beschreibt Bohn den Prozess, bei dem sie schon unzählige Frauen begleitet hat. Mit der Spyware Aktion zur Orange Week verbindet sie die Chance, zum Thema digitale Gewalt zu sensibilisieren. Es sei auch für Personen, die in der Beratung tätig sind, wichtig bei diesem Thema auf dem neuesten Stand zu bleiben, um effektiv helfen zu können. Das, weil die Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle immer vielfältiger werden. „Manchmal klingt es wie Science-Fiction“, sagt sie. Und doch ist es ein fester Bestandteil des Alltags unzähliger Frauen.
* Bei den Gesprächen mit den Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen steht die Konstellation männlicher Täter und weibliche Betroffene im Vordergrund. Sie kommt in diesem Rahmen am häufigsten vor, weshalb dieser Text ausnahmsweise aufs Gendern verzichtet. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine weibliche, trans- und non-binäre Täter*innen oder männliche, trans- und non-binäre Opfer gibt.
„Cyber-Gewalt gegen Frauen in (Ex-)Beziehungen besteht aus Gewalthandlungen durch technische Mittel und digitale Medien. Sie stellt eine geschlechtsspezifische und häufig sexualisierte Gewaltform zur Ausübung von Macht und Kontrolle dar, die im digitalen Raum durch den (Ex-)Partner der Betroffenen oder durch von ihm angestiftete Personen ausgeübt wird.“ „(K)ein Raum. Cyber-Gewalt gegen Frauen in (Ex-)Beziehungen“ 2023, Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit, FH Campus Wien, Magdalena Habringer, Andrea Hoyer-Neuhold, Sandra Messner Sind Sie selbst von digitaler Gewalt betroffen oder vermuten überwacht zu werden? Pro Familia und Visavi bieten Ihnen Unterstützung und Beratung. Nutzen Sie bitte ein anderes Gerät als Ihr eigenes Handy, um Kontakt aufzunehmen. Sie erreichen Pro Familia telefonisch unter (+352) 51 72 72 440 oder online unter www.profamilia.lu sowie Visavi unter (+352) 49 08 77 1 oder www.fed.lu/visavi.