Schwere, schmerzende Beine durch Fett, das nicht abgenommen werden kann: Lipödem schränkt die Lebensqualität vieler Menschen massiv ein. Ab 2026 übernehmen die Krankenkassen in Deutschland deshalb die Kosten einer operativen Behandlung. Trotz aktueller Studie tut sich die hiesige CNS mit diesem Schritt schwer.

Martine Alzin setzt sich seit 2018 in Luxemburg für von Lipödem Betroffene ein. (FOTO: Privat)
In Martine Alzins Haus gibt es drei Etagen mit zwei Treppenabsätzen. Sie trennen Schlafzimmer und andere Räume von der Wohnfläche im Untergeschoss. Nahezu jeden Tag geht sie etliche Stufen auf und ab. Es ist noch nicht allzu lange her, dass sie diese Übung nur unter starken Schmerzen vollführen konnte. Auch heute noch gibt es Tage, an denen ihr dieser Weg schwerer fällt als an anderen. Dann sind ihre geschwollenen Beine wie Blei und schmerzen bei jedem Schritt. „An manchen Tagen komme ich die Treppe nicht hoch, an anderen könnte ich 15 Stockwerke hochlaufen“, sagt sie. Denn Martine Alzin lebt mit Lipödem – eine Fettverteilungsstörung, die fast ausschließlich Frauen und Personen, die „Afab“ (assigned female at birth) sind, betrifft. Krankhaftes Fett, das ganz anders ist als gesunde Fettreserven, bildet sich dabei an Beinen und Armen. „Die Fettzellen wachsen unregelmäßig und können auf Lymphbahnen drücken. Gestautes Lymphwasser führt zu schweren Beinen und kann zu einer Entzündung des umliegenden Gewebes führen. Daher kommen auch die Schmerzen“, erzählt Alzin. Die 37-Jährige suchte seit ihrer Pubertät wegen ihrer Beschwerden wiederholt verschiedene Ärzt*innen auf, lange Zeit vergebens. Immer wieder bekam sie dieselben zwei Ratschläge: „Mehr Sport, weniger Essen.“
Als Teenagerin nahm sich Martine Alzin dies zu Herzen, trainierte sogar für einen Halbmarathon, und kon- trollierte jeden Bissen, den sie zu sich nahm. Bis heute ist sie sportlich aktiv, vor anderen zu essen fällt ihr schwer. Die Nachlässigkeit des Gesundheitssystems hat tiefe Spuren hinterlassen. Doch was sie an Bauch und Rumpf an Fett abnahm, wuchs in Schüben an Beinen und Armen weiter, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. „Ich habe mit jedem Schub krankhaftes Fett zugenommen und beim Abnehmen gesundes Fett verloren“, erzählt sie. Erst mit 29 Jahren – über ein Jahrzehnt nach dem Auftreten der ersten Symptome – bekommt sie die richtige Diagnose. Und das auch nur, weil sie ihren damaligen Arzt direkt auf diese Möglichkeit anspricht, nachdem sie zufällig in einer RTL-Sendung einen Bericht darüber gesehen hatte.
„Es gibt einen deutlichen Diagnose-Gap“, sagt Prof. Dr. Tobias Hirsch, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Universitätsklinikum Münster in Deutschland, im Gespräch mit der woxx. „Viele Frauen kommen erst im mittleren Alter zu uns, obwohl die Problematik meistens bereits seit der Pubertät besteht.“ Als Grund sieht er die Erfahrung, die auch Martine Alzin als Patientin gemacht hat. Betroffene würden nicht ernst genommen und trauten sich danach lange nicht, das Problem anzusprechen. „Man muss aber auch dazu sagen, dass das Krankheitsbild lange Zeit recht unbekannt war und erst seit einigen Jahren in den Fokus der Wissenschaft gerückt ist“, erklärt Hirsch, der selbst als Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins LipödemGesellschaft e.V. in Deutschland aktiv Aufklärungsarbeit leistet.
Der blinde Fleck

Lipödem ist nicht durch Sport und Diät zu bekämpfen. Auch sieht man Betroffenen häufig die Erkrankung nicht auf den ersten Blick an. Leitsymptom sind Schmerz und Druckempfindlichkeit der betroffenen Stellen. (Foto: Aiden Craver/ Unsplash)
Schätzungsweise sind zehn Prozent von Frauen und Afab-Personen betroffen. Lipödem und Hormonhaushalt sind eng miteinander verknüpft, der Beginn der Krankheit sowie Fettwachstumsschübe werden hormonell getriggert. Als Auslöser gelten deshalb die Pubertät, Schwangerschaft, Menopause, aber auch der Anfang oder das Absetzen der Antibabypille. Das Leitsymptom der Erkrankung ist jedoch nicht die Fettablagerung an sich, sondern der Schmerz. „Beim Lipödem haben wir eine schicksalhafte Konstellation. Es wird zum einen häufig mit Adipositas verwechselt, wo es auch eine falsche Schuldzuweisung gibt, und zum anderen ist das Leitsymptom, der Schmerz, wie bei der Endometriose nur schwer zu fassen“, so Hirsch. Als „Frauenkrankheiten“ werden sowohl Lipödem als auch Endometriose zum blinden Fleck einer sexistischen und patriarchalen Wissenschaft und Gesellschaft. „Ich habe im Gesundheitsausschuss des Bundestages schon mal ein bisschen provokativ gesagt, wenn Menstruationsbeschwerden eine Männersache wären, dann würde mich mal interessieren, wie hoch die Krankschreibungsrate in Deutschland wäre.“ Erst in den letzten Jahren ist in Deutschland und Luxemburg etwas Bewegung in die Sache gekommen, hauptsächlich durch die Arbeit und den politischen Druck durch die Betroffenen selbst.
Auch Martine Alzin ist Teil davon. Gemeinsam mit anderen Betroffenen war sie seit 2018 im Verein Lipödem Lëtzebuerg aktiv. Nach dessen Auflösung gründete sie 2024 einen eigenen Verein, Lipödem Lymphödem Lëtzebuerg, der im Februar dieses Jahres jedoch seine Arbeit einstellen musste. Seither macht sie allein weiter und betreibt die Website www.lipoedem.lu, auf der sie sämtliche Informationen zur Erkrankung, aber auch zu Behandlungskosten und politischen Entwicklungen versammelt. „Zunächst hieß es von der CNS, sie würden ab Stadium vier die Kosten übernehmen“, sagt Georg Clees, Direktor des Vereins Patiente Vertriedung. Das tragisch komische an dieser Aussage: Die Stadien-Skala bei Lipödem hört bei Stadium drei auf (siehe Kasten). Laut Clees sei es auch in Luxemburg zum Großteil der Arbeit des Betroffenenvereins zu verdanken, dass die CNS seit 2018 ab Stadium drei zumindest einen Teil der Kosten für eine Liposuktion übernimmt.
Eine kostspielige Erkrankung
Die Behandlungsmöglichkeiten bei Lipödem teilen sich in zwei Optionen, die sich in den meisten Fällen ergänzen. Auf der einen Seite steht die konventionelle Therapie, die grob aus Lymphdrainagen (speziellen Massagetechniken, die darauf ausgerichtet sind, angestautes Lymphwasser zu lösen und für eine Entlastung der Anspannung zu sorgen) sowie das Tragen von Kompressionskleidung besteht. Auf der anderen Seite steht die Liposuktion, also die Fettabsaugung an den vom krankhaften Fett betroffenen Stellen. Meist sind mehrere Operationen notwendig. Bis vor kurzem war es auch in Deutschland üblich, dass die Behandlungskosten für eine Liposuktion erst ab Stadium drei übernommen wurden. Da es sich hierbei um eine kostspielige Behandlung handelt – pro Operation entstehen Kosten von mehreren Tausend Euro – ist dies für viele Betroffene ein Schlag ins Gesicht.
Im Juli dieses Jahres kam aber dann die Wende: Der Gemeinsame Bundesausschuss in Deutschland (G-BA), das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, das über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen entscheidet, kündigte an, ab 2026 Liposuktionen Stadien unabhängig aufnehmen zu wollen. Grundlage sind die Zwischenergebnisse der vom G-BA in Auftrag gegebenen großangelegten LipLeg-Studie, die den Nutzen der operativen Behandlung in jeder Phase der Erkrankung belegen konnte. Damit folgt der G-BA auch der Lipödem-Leitlinien-Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie, die bereits Anfang letzten Jahres einstimmig festlegte, dass sich die Durchführung einer Liposuktion nicht mehr an die Stadieneinteilung orientieren solle, „da es keine Korrelation zwischen der Schwere der Symptomatik und Stadieneinteilung gibt.“
Tobias Hirsch erklärt die Entscheidung gegenüber der woxx: „Diese Stadieneinteilung bezieht sich rein auf die Fettverteilungsstörung, also auf das Ausmaß der Fettverteilungsstörung. Das Leitsymptom, der Schmerz, ist allerdings unabhängig vom Ausmaß. Das heißt, eine Patientin, die große Fettmengen an den Beinen hat, kann weniger Schmerzen empfinden als eine Patientin mit weniger Fett.“ Während Betroffenenverbände den Beschluss des G-BA, trotz Kritik an den teils hohen Auflagen, als Erfolg feiern, sind das Gesundheitsministerium und die CNS in Luxemburg noch weit davon entfernt, den Schritt mitzugehen.
Die Lage in Luxemburg

(© Getty images)
Auf eine parlamentarische Anfrage von Alexandra Schoos (ADR) hin, antwortete Gesundheitsministerin Martine Deprez (CSV) ausweichend auf die Frage, ob Luxemburg bereit sei, dem Beispiel des Nachbarlandes Deutschlands zu folgen. Stattdessen weist Deprez darauf hin, dass die Kostenübernahme dieser Pathologie in Luxemburg gut abgesichert sei, „insbesondere im Vergleich zu unseren Nachbarländern, wie etwa Frankreich und Belgien.“ Auch hier wird, wie so oft, nur auf jene Nachbarländer verwiesen, die Luxemburg besser dastehen lassen. Dass in allen anderen parlamentarischen Antworten zuvor auch und gerade Deutschland als Vergleichsgröße herangezogen wurde, fällt unter den Tisch. Fragwürdig ist das Argument auch, weil Deprez in ihrer Antwort auf das aihta-Review verweist. Zwar empfiehlt dieses eine Liposuktion aufgrund mangelnder Studienlage nicht unabhängig der Stadien, sie weist aber ausdrücklich darauf hin, dass eine Neubewertung dieses Urteils nach Veröffentlichung der oben erwähnten LipLeg-Studie – also jener Studie, die auch die Kurswende des G-BA eingeleitet hat – dringend erfolgen soll. Die naheliegende Nachfrage, inwiefern das Argument des Gesundheitsministeriums angesichts dessen haltbar sei, blieb seitens des Ministeriums bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet (nachträgliche Antwort wird in der Online-Version des Artikels eingefügt – siehe unten).
Die Kostenübernahme durch die CNS sei laut des Vereins Patienten Vertriedung und von Martine Alzin, die nahezu täglich mit anderen Betroffenen im Austausch steht, schon jetzt problematisch, selbst bei Patient*innen mit Stadium drei. Ein bekanntes Problem ist die häufige Verweigerung der Kostenübernahme bei Eingriffen im Ausland, mit dem Verweis darauf, dass Behandlungen auch in Luxemburg möglich seien. Hierzulande gibt es allerdings nur sehr wenige Ärzt*innen, die sich mit Lipödem und dessen Behandlungen auskennen. „Ich kann sie an einer Hand abzählen“, sagt Alzin. Auch Georg Clees unterstreicht „unserem Kenntnisstand nach gibt es in Luxemburg niemanden, der diese OP mit derselben Routine und derselben Erfahrung durchführen kann, wie das zum Beispiel in Deutschland geschieht.“ Es sei wichtig, zu betonen, dass es sich hierbei um einen anderen Eingriff handele als bei einer „normalen“ Fettabsaugung. Es handele sich eben nicht um eine „Schönheitsoperation“, wie sie unter plastischen Chirurg*innen üblich ist, bestätigt Tobias Hirsch. „Man könnte meinen, Fettabsaugung ist Fettabsaugung, aber so trivial ist es nicht. Damit man einen nachhaltig schmerzreduzierenden Effekt hat und auch Komplikationen vermeidet, müssen die Operierenden auch eine entsprechende Erfahrung mit diesem Krankheitsbild haben.“
Operiert und geheilt?
Auch Martine Alzin hat sich in Deutschland operieren lassen. Obwohl der erste Eingriff eine Tortur war und nicht ohne Komplikationen verlief, ist sie heute zufrieden mit dem Ergebnis. Gerade bei der ersten OP sei sie mental und körperlich noch nicht bereit für einen Eingriff gewesen. Sie warnt davor, die Liposuktion als alleiniges Allheilmittel zu sehen. „Meine Angst ist, dass viele Betroffene sich in eine OP stürzen, ohne zu wissen, worauf sie sich für das Leben danach einlassen.“ Sie meint damit, dass Lipödem auch mit Operation nicht heilbar ist. Ernährung, Bewegung, psychische Belastung und konventionelle Therapien werden auch weiterhin eine feste Rolle bei vielen Betroffenen einnehmen. Die Lebensqualität wird bei den allermeisten Patient*innen dennoch durch die Liposuktion signifikant erhöht: „Ich kann jetzt fast ohne Schmerzen gehen“, sagt Martin Alzin. Sie wolle zwar nicht mehr wie früher, als sie für den Verein Patient*innen Gespräche führte und Betroffene auf dem Weg zur Diagnose begleitet habe, die Rolle der Ärzt*innen übernehmen, ihr Einsatz ist dennoch unermüdlich. Der Kontakt zum Gesundheitsministerium besteht weiter – demnächst wird sie wieder als Referentin bei einem Informationstag zum Thema Lipödem dabei sein. Und auch für die Übernahme der Behandlungskosten engagiert sie sich nach wie vor. Sie wird weiterkämpfen, bis sie an ihrem Ziel angekommen ist. Stufe für Stufe.
Lipödem ist eine schmerzhafte, symmetrische Fettverteilungsstörung an Beinen und Armen. Hände und Füße bleiben ausgespart. Typisch sind Spannungsgefühle, Druck- und Berührungsschmerz, die nicht durch Sport oder Diät beeinflusst werden. Das Lipödem wird in drei Stadien unterteilt: In Stadium I ist die Haut noch glatt, in Stadium II zeigen sich grobe Dellen und Knoten, in Stadium III bilden sich ausgeprägte Fettlappen und Gewebeverhärtungen. Entscheidend ist jedoch: Das Leitsymptom ist der Schmerz – er kann unabhängig vom Stadium stark ausgeprägt sein. Informationen zu Lipödem, Lymphödem, sowie dem aktuellen Stand der Kostenübernahme sind auf der Website www.lipoedem.lu zu finden. Weitere Informationen zur LipLeg Studie finden sich auf der Seite www.lipoedem-gesellschaft.de/online-veranstaltung-zur-aktuellen-versorgungslage-2025/
Die Antworten des Gesundheitsministeriums.
Frage: Das AIHTA-Review (2021) nennt explizit die Neubewertung nach LIPLEG als nächsten Schritt. Diese Neubewertung hat in Deutschland im Juli 2025 stattgefunden und zur Aufnahme der Liposuktion für alle Stadien geführt. Wie begründet die Regierung, dass Luxemburg weiterhin auf der Einschätzung von 2021 verharrt, obwohl die geforderte Grundlage zur Neubewertung inzwischen vorliegt und in Deutschland bereits gesundheitspolitische Konsequenzen hatte?
Antwort: Wie in der parlamentarischen Antwort auf die Frage 2782 erläutert, führt der CMSS (Contrôle médical de la sécurité sociale) bei der Erstellung seiner Gutachten einen kontinuierlichen Prozess der Überprüfung medizinischer Beweise durch. In der parlamentarischen Antwort werden bestimmte Studien hierzu hervorgehoben.
Frage: In der Antwort vom 16. Mai 2023 wurde Deutschland noch als Referenzland im Vergleich genannt (Kostenübernahme ab Stadium III). In der Antwort vom 15. September 2025 wird Deutschland im Ländervergleich nicht mehr aufgeführt; stattdessen wird nur noch auf Frankreich/Belgien verwiesen. Warum wird Deutschland — das gerade anhand LIPLEG reformiert hat — im aktuellen Vergleich nicht mehr berücksichtigt?
Antwort: Die Erwähnung Frankreichs und Belgiens ist nicht ein selektiver Vergleich aber ermöglicht es, die parlamentarische Anfrage, die sich auf den deutschen Kontext bezieht, besser zu verstehen.
Frage: Die jüngste Meta-Analyse (Cureus, 29. Februar 2024) berichtet signifikante postoperative Verbesserungen (u. a. Schmerz, Ödem, Hämatomneigung, Mobilität, Lebensqualität) — bei gleichzeitiger Einordnung der Liposuktion als adjuvante/experimentelle Maßnahme ohne kurativen Anspruch. Weshalb sind diese belegten symptomatischen und lebensqualitätsbezogenen Verbesserungen aus Sicht der Regierung nicht bereits hinreichend, um eine erweiterte, klar definierte Kostenübernahme (z. B. in ausgewählten Indikationskonstellationen mit QS-Vorgaben) zu rechtfertigen?
Antwort: Es ist zu beachten, dass die zitierte Studie aufgrund der Komplexität des Lipödems, der starken Abhängigkeit von Selbstauskünften und der Einschränkungen der untersuchten Studien dennoch zur Vorsicht mahnt. („Despite these promising results, the study suggests caution due to lipedema’s complexity, significant reliance on self-reported data, and limitations of the studies reviewed.”). Wie bereits erläutert, wird eine umfassendere und fortlaufende Überprüfung der medizinischen Evidenz in Betracht gezogen.
Frage: Wie wird die nachweislich hohe psychische Belastung (Fehldiagnosen, Stigma, Depression) systematisch in die Versorgung integriert (z. B. Zugang zu Psychoedukation, Psychotherapie, Selbsthilfe, verbindliche Schnittstellen zwischen konservativer, chirurgischer und psychosozialer Behandlung)?
Antwort: In Luxemburg gibt es viele medizinische Fachkräfte, die auf die verschiedenen angesprochenen Pathologien reagieren können.

