Gedenken: Textiles Gedächtnis

„1000 Tücher gegen das Vergessen“ heißt eine bemerkenswerte Ausstellung, die derzeit in der Tufa Trier zu sehen ist. Die Schweizer Künstlerin Anna S. Brägger materialisiert das Sterben und Morden auf dem Balkan durch Gedenktücher – ein ständig wachsendes Werk.

Fotos: woxx

„Und, welchen Kursus suchen Sie?“ – der Empfangsherr im zweiten Stock der Tufa Trier ist es offensichtlich noch nicht gewohnt, dass tatsächlich wieder Menschen auftauchen, um sich die Ausstellungen anzusehen. Das Erwachen der Kulturinstitutionen in Trier verläuft ähnlich wie auch sonst in Europa: Gemächlich und ein bisschen ungläubig kommen die Menschen zurück – oder bleiben vor der Tür, wie die Schüler*innen des Ballettunterrichts, der pandemiebedingt im Hof stattfinden muss.

Eigentlich umso besser, denn ganz alleine im Ausstellungsraum entfaltet sich einem das Kunstwerk „1000 Tücher gegen das Vergessen“ noch spektakulärer. Die „Rola sjecanja“ (bosnisch für „Rolle des Gedenkens“) mit den gestickten Tüchern umfasst den gesamten Raum des Ausstellungsflügels. Und bedarf, bei Sonnenlicht, keiner extra Beleuchtung. Im Gegenteil, das natürliche Licht, das von hinten durch die Tücher dringt, verleiht dem Ensemble eine friedliche Ausstrahlung – ganz im Kontrast zu seinem bedrückenden Inhalt.

Denn jedes Tuch steht für eine Person, die in einem der blutigen Ex-Jugo-
slawien-Konflikte ums Leben kam, ungeachtet auf welcher Seite sie stand. Die Familie, Nachbar*innen und Freund*innen – meistens Frauen – gedenken ihrer mit diesen Stofftaschentüchern, auf denen sie Namen, Geburts- und Todesdatum und Persönliches sticken. Seien es die Lieblingsfarben der verstorbenen Person, ihre Lieblingsblume oder andere Symbole, es geht vornehmlich darum, das Leben des Verstorbenen auf die Quadratzentimeter Stoff zu bannen. Gesichter findet man übrigens keine auf den Tüchern, als ob dies ein Tabu wäre.

Das Projekt der Rolle läuft übrigens schon seit 18 Jahren. 2002 begann die Schweizer Künstlerin Anna S. Brägger mit dem Sammeln, und das im Rahmen der Traumatherapie, die der Berliner Verein „südost Europa Kultur“ seinen Mitgliedern zur Verfügung stellt. Der 1991 gegründete Verein, der sich psycho-sozialer Arbeit widmet und sich für die Förderung der Völkerverständigung einsetzt, entwickelte den Ansatz, durch Stickereien die Trauerarbeit zu begleiten und zu materialisieren. Was auf einem Tuch erscheint, ist raus und kann auch abgetrennt werden. Durch den Einsatz von Brägger gingen die Frauen von der Seidenstickerei, die sie anfangs einsetzten, zu Taschentüchern über. Diese sind weniger vergänglich und besitzen zudem noch doppelte Symbolik: Die des Weinens natürlich aber auch jene der Freude, des Winkens mit den Taschentüchern an Bahnsteigen sowie des Tanzens.

Durch Bräggers Einsatz entstand die „Rola sjećanja“, die nun auf Gedenkfeiern weltweit gezeigt wird. Nicht nur das: Sie wächst seit 2002 beständig, sodass die Dimensionen der verschiedenen Konflikte und auch der Trauer, die diese auslösen, haptisch erfahrbar wird. Sie eschränkt sich deshalb nicht nur auf den Bosnien-Krieg, auch wenn viele der Taschentücher die Aufschrift „Srebrenica“ tragen und an Menschen erinnern, die beim dortigen Massaker 1995 ermordet wurden.

Die Ausstellung wird begleitet durch viele Audiodokumente, Tafeln mit geschichtlichen Erläuterungen zum Zerfall Jugoslawiens und einer Fotoausstellung von Nihad Nino Pušija mit Landschaftsaufnahmen aus den Regionen Südosteuropas, die in den Kontext einführen sollen.

Noch bis zum 28. Juni in der Tufa.

Abschlussveranstaltung mit 
Till Zimmermann, 26. Juni, 19h30. 
Einschreibung erforderlich: 
info@tufa-trier.de

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