Der EU-Austritt hat der britischen Ökonomie stark geschadet. In vielen Branchen herrscht Fachkräftemangel, weil kaum noch Arbeitskräfte aus der EU angeworben werden können. Zudem bleibt der Status von Nordirland ungeklärt.
In Großbritannien mangelt es an Ärztinnen und Krankenpflegern. Der National Health Service (NHS) hat zwar das Geld für neue Stellen, doch es gibt nicht genug Bewerberinnen und Bewerber. Eine Studie des „Nuffield Trust“, eine unabhängige Stiftung für Gesundheitsforschung, führt den Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich maßgeblich auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zurück: Nach Jahren, in denen die Zahl an aus anderen EU-Ländern stammenden Ärzten im NHS stetig gestiegen war, reduzierte sich die Wachstumsrate ab 2016, dem Jahr des Referendums zugunsten des EU-Austritts. Die Studie beziffert das derzeitige Defizit an Ärzten auf über 4.000. Bereits im Mai hatte das „Nursing and Midwifery Council“, die Zulassungsstelle für Pflegeberufe, bekanntgegeben, dass die Zahl der aus dem EU-Ausland stammenden Krankenpflegerinnen und -pfleger von fast 10.000 im Jahr 2016 auf 663 im vergangenen Jahr gesunken war.
In einer separaten Studie der Londoner Universitäten Brunel und Queen Mary waren aus der EU stammende Fachkräfte im britischen Gesundheitsbereich zum sogenannten Brexit und dessen Auswirkungen gefragt worden. Sie berichteten über Ärger, Frustration und Sorgen um ihren Aufenthaltsstatus, ihre Rente sowie ihre persönliche und berufliche Zukunft.
Fachkräftemangel herrscht in Großbritannien nicht nur im Gesundheitsbereich, auch Lastkraftwagenfahrer, Hochschullehrerinnen und Ingenieure fehlen, zudem sind in der Gastronomie und im Hotelgewerbe viele Stellen unbesetzt. Im Oktober hatte deshalb der Dachverband der britischen Industrie, die „Confederation of British Industry“ (CBI), auf ihrem Jahreskongress gefordert, dass Großbritannien wieder mehr Einwanderung ermöglichen solle. Der Generaldirektor der CBI, Tony Danker, sagte, die britische Industrie werde durch den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften behindert, die Regierung solle mehr Flexibilität zeigen.
Arbeitsvisa werden nach einem Punktesystem vergeben, welches ihre Bewilligung an das bisherige Gehalt und die Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber knüpft und viele Prüfungen mit sich bringt, die den Einstellungsprozess verkomplizieren und verzögern. Im Vergleich dazu war die Einstellung von EU-Bürgerinnen und -Bürgern bis zum britischen EU-Austritt unbürokratisch; nun sind sie Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern gleichgestellt.
Die britische Ökonomie müsse sich von ihrer Abhängigkeit von Einwanderung befreien, mehr Briten ausbilden und höhere Löhne zahlen, meint auch der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer.
Immer mehr Kritiker verbinden die wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens mit dem EU-Austritt. Der ehemalige Präsident der Bank of England, Mark Carney, sagte Ende November, man müsse die Sache einfach mal beim Namen nennen: „2019 entsprach die Größe der britischen Ökonomie 90 Prozent der deutschen, nun sind es weniger als 70 Prozent.“ Dieser Vergleich war zwar wissenschaftlich ungenau, weil Carney Zahlen präsentierte, in denen Währungsschwankungen nicht bereinigt waren, trotzdem gibt es in der Sache unter Ökonomen keinen grundlegenden Disput: Der EU-Austritt hat der britischen Nationalökonomie stark geschadet. Dies hatten die meisten Ökonomen auch erwartet. Doch nun sind es nicht länger Vorhersagen, sondern es lässt sich empirisch belegen: Der Handel mit der EU ist um bis zu 20 Prozent zurückgegangen, seit 2021 das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien in Kraft getreten ist. Nach dem Referendum kam es zu einem relativen Wertverfall des britischen Pfunds und einer damit einhergehenden Erhöhung von Import- und Lebenshaltungskosten; infolge dessen sind die britischen Reallöhne um circa drei Prozent gefallen. In Umfragen bewertet eine Mehrheit derer, die eine klare Meinung äußerten, den EU-Austritt Großbritanniens als Fehler – manchen Umfragen zufolge bis zu 60 Prozent der Befragten.
Dennoch bleibt die Thematisierung des britischen Verhältnisses zur EU schwierig. Das bekam zuletzt auch der neue Premierminister Rishi Sunak zu spüren. Dieser hat das Problem mit dem sogenannten Nordirland-Protokoll von seinen Vorgängern ungelöst weitergereicht bekommen: Nordirland war durch die geltenden Austrittsverträge als Teil des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt für Waren geblieben. So sollten Grenzkontrollen an der nordirisch-irischen Grenze vermieden werden. Doch nach dem Willen der britischen Regierung muss das Nordirland-Protokoll, das diese Situation regelt, nachverhandelt werden, was die EU ablehnt.
Nordirische Protestanten lehnen das Protokoll sogar in Gänze ab, denn es schafft eine Handelsgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs, ein Unding für die um die britische Einheit besorgten Unionisten. In Nordirland wird das Protokoll indes laut Umfragen mehrheitlich befürwortet, was dort die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen verstärkt. Seit der Wahl zur Nordirland-Versammlung im Mai, aus der die proirische Sinn Féin erstmals als politisch stärkste Kraft hervorging, verweigern die maßgeblichen protestantischen Gruppen die Zusammenarbeit, die nach der nordirischen Verfassung für eine Bildung der Regionalregierung notwendig ist; dem Friedensabkommen von 1998 zufolge müssen die fünf stärksten Parteien im Parlament auch in der Regierung vertreten sein. Die Unionisten fordern, dass erst das Nordirland-Protokoll abgeschafft werden müsse.
Wegen dieses Problems hat die britische Regierung zunächst unter Liz Truss und nun auch unter Sunak die harte Rhetorik fallengelassen, welcher sich die Regierung Boris Johnsons noch bedient hatte, und verhandelt relativ pragmatisch mit der EU. In Zuge dessen hatte die EU bereits im vergangenen Jahr vorgeschlagen, eine Art „Schweizer Modell“ zu kreieren: Wie Großbritannien ist auch die Schweiz weder Mitglied der EU noch der Zollunion oder des Binnenmarkts, hat aber mit der EU eine Reihe von Abkommen, die Grenzkontrollen unnötig machen, beispielsweise im Bereich der Landwirtschaft. In der vorvergangenen Woche berichtete die „Sunday Times“ unter Berufung auf Regierungskreise, dass eine solche Lösung nun auch in London erwogen werde.
Sunak sah sich unmittelbar danach gezwungen, panische EU-Austrittsbefürworter zu beruhigen, und dementierte den Bericht. Er sei selbst ein Austrittsbefürworter der ersten Stunde und unter ihm werde es keine Anpassung der Regeln an die EU, keine Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch keine „unnötigen Zahlungen“ an die EU geben. Damit setzte er nicht zuletzt Akzente gegen seinen eigenen Finanzminister Jeremy Hunt, dem die EU-Austrittsbefürworter nicht vertrauen, weil er 2016 für einen Verbleib in der EU gestimmt hatte. Die Regelung des Verhältnisses zur EU dürfte zu einer zentralen Herausforderung der Regierung Sunaks werden, wie zuletzt für alle konservativen Premierminister.
Auch Keir Starmer, der Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, sah sich genötigt, etwaigen Spekulationen über eine Annäherung an die EU unter einer möglichen Labour-Regierung eine Absage zu erteilen. Das ist eine radikale Kurswende. Starmer hatte 2019 seinen Vorgänger Jeremy Corbyn überzeugt, dass Labour gegen Johnson mit dem Versprechen eines zweiten Referendums über den Austritt aus der EU antreten solle. Doch diese Strategie kostete Labour fast 50 Sitze in nordenglischen Wahlkreisen der alten Industrieregionen, in denen viele EU-Austrittsbefürworter leben, der sogenannten „red wall“, vormals sichere Labour-Sitze.
Starmer, dessen Labour-Partei derzeit ein Umfragehoch erlebt, war auch zum Jahreskongress der CBI eingeladen. Er verweigerte dort direkt die Bitte der Kapitalvertreter nach mehr Immigration. Die britische Ökonomie müsse sich von ihrer Abhängigkeit von Einwanderung befreien, mehr Briten ausbilden und höhere Löhne zahlen, sagte Starmer. Er lehnte auch jede Änderung des von Johnson ausgehandelten Austrittsvertrags ab: Es gelte, den EU-Austritt zum Erfolg zu machen, so Starmer.