Atomkraft gehört zur britischen Strategie, CO2-Emissionen in der Energieversorgung zu reduzieren. Die dortigen Meiler stammen bis auf eine Ausnahme aus den Siebzigerjahren. Derzeit sind mehrere Neubauten im Gang, doch nicht allein aufgrund der Beteiligung Chinas wird die Kritik daran immer lauter.
Längst sollten die alten britischen Atomkraftwerke (AKW) durch neue Blöcke teils ersetzt, teils ergänzt werden. Das hatte bereits im Jahr 2008 die damalige Labour-Regierung beschlossen. Insgesamt acht neue Blöcke waren geplant. Obwohl auch die konservativen Folgeregierungen zu den Plänen standen und stehen, ist der Ausbau kaum vorangekommen. Seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima im März 2011 haben immer mehr Firmen von der Atomenergie Abstand genommen und sind aus den geplanten britischen Projekten ausgestiegen.
Eine der wenigen Ausnahmen ist das börsennotierte „Unternehmen Électricité de France“ (EDF), an dem der französische Staat etwa 85 Prozent der Anteile hält; es ist der zweitgrößte Elektrizitätserzeuger der Welt. Über die Tochterfirma „EDF Energy“ besitzt und betreibt das transnationale Unternehmen seit 2010 alle existierenden AKW in Großbritannien. Die EDF baut derzeit auch das erste der geplanten neuen AKW, und zwar in Hinkley Point in Somerset in der Nähe von Bristol; der Kraftwerksblock Hinkley Point C soll aus zwei Reaktoren bestehen.
Die EDF errichtet hier zwei sogenannte „European Pressurized Reactors“ (EPR), Druckwasserreaktoren der dritten Generation, die nach der Fertigstellung sieben Prozent des britischen Strombedarfs liefern sollen. Doch die Bauarbeiten in Hinkley Point hinken um Jahre hinter dem ursprünglichen Zeitplan her. Ursprünglich sollte das neue AKW 2017 ans Netz gehen und den alten Reaktor Hinkley Point B ersetzen, der nach Ablauf mehrerer Verlängerungen 2022 abgeschaltet werden soll. Derzeit erwartet die EDF, dass das neue AKW 2027 hochgefahren werden kann.
Hinkley Point illustriert die Schwierigkeiten, Atomenergie gemäß eines neoliberalen Wirtschaftsmodells zu realisieren. Im Kern geht es um die hohen Risiken der Atomkraft und die entsprechend hohen Kosten für Sicherheit, die private Firmen nicht auf sich nehmen wollen. Die britische Regierung unter dem konservativen Premierminister David Cameron hatte geplant, neue Atomkraftwerke ohne britische Subventionen zu bauen. Die EDF ist als staatsdominierte Firma letztlich durch die Steuergelder der französischen Bevölkerung abgesichert.
Die britische Regierung und die EDF verhandelten die Finanzierung über Jahre. Die Planung sieht vor, dass die EDF das Kraftwerk auf eigenes Risiko baut. Die britische Regierung garantiert im Gegenzug die Einspeisevergütung für den in Hinkley Point produzierten Strom. Damit wollte sich die Regierung nicht zuletzt gegen steigende Baukosten absichern.
Doch die EDF verlangte dafür einen hohen Einspeisepreis, der bereits unter Cameron mit 92,50 Pfund pro Megawattstunde (MWh) Strom vereinbart wurde, und zwar für 35 Jahre inflationsbereinigt vom Hochfahren des AKW an. 2016, als der Verwaltungsrat der EDF den Bau genehmigte, war dieser Betrag doppelt so hoch wie der durchschnittliche Marktpreis im Vereinigten Königreich und lag über 30 Pfund höher als der Preis für Offshore-Windstromproduktion. Der Preis für hier produzierten Strom ist in den vergangenen vier Jahren weiter gefallen und liegt nun unter dem durchschnittlichen Marktpreis. Windkraft könnte damit profitabel ohne Subventionen ausgebaut werden.
Doch trotz des überaus lukrativen Vertrags für den Strom aus Hinkley Point C brauchte die mit Schulden überlastete EDF weitere finanzielle Unterstützung. 2015 stand das Projekt kurz vor dem Aus. Potenzielle Hilfe fand der Konzern bei einer Partnerin in der Entwicklung und Realisierung des EPR-Reaktortyps: der Firma „China General Nuclear“ (CGN), die sich im Besitz des chinesischen Staates befindet. Gemeinsam mit der CGN hat die EDF bereits in Taishan in China ein AKW vom EPR-Typ fertiggestellt. Andere EPRs der EDF in Finnland und in Frankreich befinden sich hingegen seit Jahren im Bau und werden nicht fertig. Der Reaktor in Taishan, der seit 2018 am Netz ist, musste kürzlich abgeschaltet werden, weil es Schwierigkeiten mit den Brennstäben gab. 2016 erklärte sich die CGN bereit, den Bau des Kraftwerks in Hinkley Point finanziell zu unterstützen, übernahm ein gutes Drittel der geschätzten Kosten und rettete damit das Projekt.
2016 wechselte die britische Regierung nach dem Referendum über den Austritt aus der EU, Theresa May löste ihren Parteikollegen David Cameron ab. Einer der ersten Beschlüsse Mays war es, die unter Cameron und seinem Finanzminister George Osborne getroffenen Vereinbarungen zu Hinkley Point zu prüfen. May und vielen anderen in der Konservativen Partei war die umfangreiche Kooperation der Regierung Cameron mit China suspekt. Generell verfolgten Cameron und Osborne eine Politik der engen Kooperation mit China. Diese erstreckte sich auf viele Wirtschaftsbereiche, unter anderem Telekommunikation. China erhoffte sich, dass der Einstieg in Hinkley Point den Weg zum Bau von AKW chinesischen Typs in Großbritannien ebnen werde.
Angesichts der sinkenden Preise von Strom aus Wind- und Solarenergie bleibt die Frage, weshalb die Regierung weiter den Ausbau der Atomkraft betreibt.
Mays Prüfung ließ den Vertrag über Hinkley Point C zwar bestehen, aber die Zeit der Chinafreundlichkeit der britischen Politik war vorbei. Seit 2016 wird die chinesische Wirtschaftspolitik mehr und mehr im Licht der Außenpolitik des Landes bewertet. Die Situation in der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong und die militärischen Projekte Chinas im Pazifischen Ozean sowie in dessen an China angrenzenden Randmeeren werden als Zeichen einer aggressiven Expansionspolitik gedeutet. Auch die zögerliche Informationspolitik Chinas beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Wuhan und die Unterdrückung der muslimischen Uiguren im Westen Chinas spielen eine Rolle.
Zuletzt verschärfte die britische Regierung den bereits im vorigen Jahr vorgenommenen Ausschluss des chinesischen Technologiekonzerns Huawei aus der Konstruktion des britischen 5G-Mobilfunknetzes; ab September gilt, dass keinerlei Huawei-Komponenten beim Ausbau verwendet werden dürfen. In Hinblick auf die Atomkraft folgen nun anscheinend ähnliche Schritte. Der Plan der EDF, auch beim zweiten geplanten neuen Meiler, Sizewell C in Suffolk, mit CGN zusammenzuarbeiten, diesmal mit einer stärkeren technischen Rolle der chinesischen Firma, werde derzeit geprüft, berichtete die britische „Financial Times“ unter Berufung auf Regierungskreise Ende Juli. Es gilt als wahrscheinlich, dass CGN seinen Anteil von 20 Prozent am Bauprojekt in Sizewell abgeben wird. CGN allein mit dem Bau eines dritten neuen Reaktors in Essex zu beauftragen, wie ursprünglich avisiert, steht nicht mehr zur Diskussion. Dort plante CGN, einen Reaktor der eigenen Baureihe HPR1000 zu installieren.
Doch ohne die finanzielle Beteiligung von CGN muss die britische Regierung selbst Geld investieren, und zwar viel Geld. Für Sizewell verhandeln die EDF und die Regierung derzeit über ein neues Finanzierungsmodell: Demnach würden die Stromabnehmer über einen Aufschlag auf den Strompreis bereits von Baubeginn an de facto das neue Kraftwerk finanzieren, während der Staat möglicherweise einen großen Teil der Kreditkosten trägt. Der Staat kann Geld weitaus günstiger leihen als die EDF, und damit, so hofft die Regierung, könnten die Kosten im Vergleich zu Hinkley Point reduziert werden. Doch klar ist: Die Kosten bleiben dennoch hoch.
Angesichts der sinkenden Preise von Strom aus Wind- und Solarenergie bleibt die Frage, weshalb die Regierung weiter den Ausbau der Atomkraft betreibt. Ihre Befürworter behaupten, Atomenergie sei notwendig, um eine CO2-freie Stromversorgung zu ermöglichen. Sie verweisen zudem auf die angeblich begrenzte Kapazität von erneuerbaren Energien. Deren Ausbau schreitet zwar rasant voran; doch die Dekarbonisierung von Straßenverkehr und Wärmegewinnung wird den Stromverbrauch steigern. Ein weiteres Argument, das sich auch die britische Regierung zu eigen macht, betrifft die Aufrechterhaltung der Grundlaststromkapazitäten im Stromnetz, das heißt den gleichmäßig eingespeisten Strom: Dafür brauche es, weil Wind- und Solarenergie nicht jederzeit zur Verfügung stehen, die Atomenergie.
Die Gegner des Atomkraftausbaus weisen beide Argumente zurück. In Hinblick auf die Grundlast sehen sie die in ihren Produktionsmengen unflexible Atomkraft als ungeeignet für eine weitgehend mit regenerativen Energien gewährleistete Versorgung: Batterien sowie eine weiträumige Verknüpfung der Versorgungsnetze seien besser geeignet, die Schwankungen in der Produktion von Wind- und Sonnenenergie auszugleichen.
Mit Blick auf das unterstellte unzureichende Ausbautempo bei regenerativen Energien verweisen die Gegner auf die Schwierigkeiten und Verzögerungen beim Bau der neuen Meiler, die Zweifel nähren, ob die Atomenergie überhaupt eine effektive Rolle bei der Emissionsreduktion spielen kann. Nicht zuletzt treiben die Sicherheitsvorkehrungen die Kosten der Atomkraft in die Höhe. Nach wie vor ungeklärt ist auch die Entsorgung des Atommülls, die zudem ebenfalls mit erheblichen Kosten einhergeht.
Kritiker kommen daher zu der Einschätzung, dass es beim Ausbau der Atomkraft weniger um den Klimawandel geht als um die Erhaltung von technologischem Know-how und Infrastruktur, die gebraucht werden, um beispielsweise die atomaren Sprengköpfe einer neuen Generation der britischen Trident-Raketen herzustellen. Das besagen auch die Recherchen von Akademikern wie Andy Stirling, Professor für Wissenschaft und Technologie an der Universität Sussex. Die hohen Kosten für Nuklearwaffen könnten demzufolge teilweise durch Einnahmen im Bereich der Energieversorgung gedeckt werden. Militärische Interessen könnten auch einer der Gründe sein, weshalb eine Beteiligung Chinas am Bau britischer AKW nicht länger willkommen ist.