Die Kooperation „BeFree“ begleitet Frauen, die Gewalt und Diskriminierung erfahren haben oder Opfer von Menschenhandel geworden sind. In Rom hat die woxx die Anti-Gewalt-Einrichtung „Donatella Colasanti und Rosaria Lopez“ besucht und mit „BeFree“-Mitarbeiterin Francesca De Masi über ihre Arbeit gesprochen.
woxx: Die Anti-Gewalt-Einrichtung „Donatella Colasanti und Rosaria Lopez“, in der wir sind, befindet sich auf einem frei zugänglichen Gelände. Ist es nicht gefährlich, dass Gäste unkontrolliert in das Gebäude gelangen können?
Francesca De Masi: Die Einrichtung ist kein geschlossener, geheimer Ort. Die Frauen müssen sich für die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht schämen. Die Gesellschaft soll wissen, dass es diese Gewalt gibt, denn sie geht alle an. Am Anfang haben die Frauen Angst, die Wohnung zu verlassen, sie fühlen sich von ihren Männern verfolgt und glauben, sie könnten nicht in Rom bleiben, müssten die Stadt verlassen. Aber sobald sie psychologische Unterstützung bekommen, sich ihrer eigenen Ressourcen (wieder) bewusst werden und soziale Kontakte knüpfen, gewinnen sie Zutrauen zur Welt. Es ist sehr viel Leben auf dem Gelände und das ist für die Frauen das Wichtigste. Zwischen den verschiedenen sozialen Einrichtungen, die hier angesiedelt sind, den Betreuerteams und den Bewohnerinnen und Bewohnern herrscht große Solidarität. Aber wir haben natürlich auch Vorsichtsmaßnahmen getroffen, der Eingang zu unserem Stockwerk lässt sich von außen nicht öffnen, er ist videoüberwacht und nachts wird das Eingangstor abgeschlossen.
Können Sie die Aktivitäten von BeFree genauer beschreiben?
BeFree ist eine von Frauen gegründete Kooperative, die seit 2007 im Auftrag von öffentlichen Institutionen Frauen begleitet, die Gewalt und Diskriminierung erfahren haben oder Opfer von Menschenhandel geworden sind. Wir sind zurzeit für verschiedene Einrichtungen im Stadtgebiet von Rom zuständig. Zu den wichtigsten zählt die Anlaufstelle in der Notaufnahme des Krankhauses San Camillo Forlini. Frauen, die sich infolge der erlittenen Aggressionen in ärztliche Behandlung begeben, kommen dort mit geschultem Personal in Kontakt, mit Mitarbeiterinnen, die sich ihre Geschichten anhören und weitere Schritte einleiten können, wenn Frauen den Weg aus der Gewalt suchen. Eine weitere wichtige Einrichtung ist „SOS Donna“ gewesen, eine Beratungsstelle, bei der sich Frauen psychosoziale und juristische Unterstützung holen konnten.
„Die Frauen müssen sich für die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht schämen“.
„SOS Donna“ wurde im Juni von der Stadt geschlossen. Wie ist es dazu gekommen?
Es gab bürokratische Probleme. Infolge des Korruptionsskandals „Mafia Capitale“ (demzufolge vor allem im Müll- und Reinigungssektor städtische Aufträge an Kooperativen vergeben wurden, die wiederum im Auftrag eines als „Hauptstadtmafia“ bezeichneten Verbrecherkartells arbeiteten; die Red.), sollte die nationale Antikorruptionsbehörde neue Richtlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge erarbeiten. Da diese Richtlinien noch nicht vorlagen, als im Sommer unsere Verträge mit der Stadt ausliefen, hat die damalige Verwaltung das neue Ausschreibeverfahren blockiert und die betroffenen Einrichtungen geschlossen. Es ist ein Sieg der Bürokratie über die realen Bedürfnisse der Frauen, die sich an Anti-Gewalt-Einrichtungen wenden.
Seit einigen Wochen gibt es eine neue, vom „Movimento 5 Stelle“ geführte Stadtverwaltung. Hatten Sie Gelegenheit mit der Bürgermeisterin, Virginia Raggi, zu sprechen?
Wir haben wenige Tage nach ihrem Amtsantritt vor dem Rathaus gegen die Schließung von SOS Donna protestiert, sie hat daraufhin eine Delegation von Frauen empfangen. Sie meinte, es sei zu spät, die von den Vorgängern angeordnete Schließung zu verhindern, sie werde sich aber in Zukunft für die Finanzierung der Anti-Gewalt-Zentren einsetzen.
Auch die Einrichtung, in der wir uns befinden, sollte zunächst geschlossen werden. Wie ist es gelungen, die Schließung zu verhindern?
Meiner Meinung nach wurde das Zentrum gerettet, weil wir hier auch Aufnahmeplätze bereitstellen, das ist der einzige Unterschied zum SOS Donna. Aktuell wohnen hier sechs Frauen und sechs Kinder, die im Falle einer Schließung ohne Dach über dem Kopf geblieben wären. Dieses Vorgehen zeigt aber auch die Art und Weise, wie das Problem seitens der Institutionen angegangen wird, denn selbstverständlich brauchen nicht alle Frauen, die Gewalt erfahren, einen Wohnplatz, sondern vornehmlich juristische und psychologische Unterstützung, um ihre eigenen Ressourcen zu nutzen. Nur diese Einrichtung zu erhalten und alle anderen Dienstleistungen zu streichen, heißt, das Problem allein aus einer Perspektive zu betrachten, in der Frauen völlig hilflos sind.
Was ist aus dem von der Regierung schon 2013 aufgelegten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen geworden?
Finanzielle Mittel, die von der Regierung längst bewilligt sind, konnten bisher nicht ausgegeben werden, weil ihre Verteilung zwischen den Regionen, Provinzen und Städten nicht geklärt ist. Das zuständige Ressort der Gleichstellungsbeauftragten wurde von Ministerpräsident Matteo Renzi viel zu lange unbesetzt gelassen. Weil die Finanzierung fehlt, wurden in Neapel und Palermo Einrichtungen geschlossen, auch in Sardinien drohen Schließungen, in Pisa musste das Hilfsangebot reduziert werden.
„Die Erzählungen über Gewalt gegen Frauen laufen darauf hinaus, dass der Mann die Frau ‚zu sehr geliebt’ hat.“
Die Schließung von „SOS Donna“ in Rom erfolgte wenige Wochen nach der Ermordung von Sara di Pietrantonio. Ohne die Schlagzeilen in Folge des brutalen Mordes hätte die prekäre Situation von Anti-Gewalt-Einrichtungen in Rom möglichweise überhaupt keine mediale Aufmerksamkeit erfahren. Trotzdem haben einige feministische Gruppen die Bericht- erstattung kritisiert.
Die Zeitungen tendieren dazu, aus der Ermordung von Frauen einen Verkaufsschlager zu machen. Sie fokussieren sich auf den jeweiligen Mann, der mutmaßlich mit der Trennung nicht zurechtkam, der das Gefühl hatte, alles verloren zu haben usw. Die Erzählungen über Gewalt gegen Frauen laufen darauf hinaus, dass der Mann die Frau ‚zu sehr geliebt’ hat oder einen ‚Aussetzer’ hatte. Aber die Gewalt gegen Frauen ist zu verbreitet, um mit einer psychopathologischen Abweichung des einzelnen Individuums erklärt zu werden, sie verweist auf ein kulturelles Problem, man muss das Geschlechterverhältnis diskutieren. In anderen Fällen heben die Medien die fremde Nationalität des Täters hervor. Das führt nicht nur zu einer verzerrten, xenophoben und total irreführenden Darstellung des realen Problems, es führt auch dazu, dass Gesetze zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen im Rahmen von Verordnungen zur öffentlichen Sicherheit verabschiedet werden. Aber Gewalt gegen Frauen geschieht in 90 Prozent der Fälle im privaten Raum.
Laut Statistik sind im ersten Halbjahr 2016 über 70 Frauen von ihren Partnern, Ex-Freunden oder Söhnen ermordet worden. Diese Gewalt wird allgemein als „Feminzid“ wahrgenommen und diskutiert. Die Gewalt, die Frauen durch Menschenhandel erfahren, wird dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Wie erklären Sie sich diese Unterscheidung in der öffentlichen Wahrnehmung?
Historisch gesehen haben sich die Anti-Gewalt-Einrichtungen ausschließlich um Fälle häuslicher Gewalt gekümmert, „BeFree“ gehört zu den wenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Gewalt gegen Frauen und den Frauenhandel, die sexuelle Ausbeutung von Frauen gemeinsam zu bekämpfen.
Wie sieht die Arbeit gegen den Frauenhandel konkret aus?
Wir führen eine Beratungsstelle im römischen Identifikations- und Abschiebegefängnis Ponte Galleria. An diesen furchtbaren Ort, von dem wir uns wünschen, es gäbe ihn gar nicht, werden Frauen und Männer gebracht, die keinen Aufenthaltstitel haben und abgeschoben werden sollen. Nach einer Revolte ist der Männertrakt zurzeit unzugänglich, die Frauenabteilung ist weiterhin in Betrieb. Wir sprechen mit den Frauen, versuchen etwas über ihre Geschichte zu erfahren. Häufig haben die Frauen selbst in einer akuten Gefahrensituation die Polizei gerufen und wurden dann aufgrund fehlender Papiere in das Abschiebegefängnis gebracht. Nach dem italienischen Gesetz ist jedoch allen von Menschenhandel betroffenen Personen Schutz zu gewähren. Wir klären die Frauen über ihre Rechte auf, helfen, den ihnen zustehenden Aufenthaltstitel zu bekommen und versuchen sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, was aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Situation in Italien natürlich sehr schwer ist. Hauptsächlich geht es darum, ihre Abschiebung zu verhindern.
Das Anti-Gewalt-Zentrum ist nach zwei Frauen benannt, die 1975 in einem Küstenort südlich von Rom von drei jungen Männern vergewaltigt und misshandelt wurden. Rosaria Lopez starb noch vor Ort, Donatella Colasanti überlebte schwer verletzt. Das „Massaker von Circeo“ hat damals viele feministische Gruppen mobilisiert, die ersten Anti-Gewalt-Zentren entstanden aus der autonomen Frauenbewegung. Wie ist das Verhältnis zwischen den Kooperativen, die wie „BeFree“ im öffentlichen Auftrag arbeiten, und den noch existierenden selbstverwalteten Frauenzentren?
Das Phänomen der Gewalt gegen Frauen ist sehr komplex, es muss professionell angegangen werden. „BeFree“ ist entstanden, um diese Professionalisierung zu garantieren, es bedarf gewisser Kompetenzen, nicht nur guter Absichten. Deshalb halten wir nicht viel von Organisationen, die mit Ehrenamtlichen arbeiten. Der politische Aktivismus ist allerdings eine andere Sache, wir stehen beispielsweise in engem Austausch mit dem aus einer Hausbesetzung hervorgegangenen Zentrum „Lucha y Siesta“. Viele Einrichtungen haben Probleme mit der Stadtverwaltung. Einigen wurde das Licht abgestellt, anderen plötzlich und übermäßig die Miete erhöht. Viele dieser Gruppen und Organisationen waren daher im Sommer anlässlich der Schließung von „SOS Donna“ im Protest vereint.
Sind in den nächsten Monaten weitere gemeinsame Aktionen geplant?
Anlässlich des Internationalen Tages zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen hat das von verschiedenen Frauengruppen getragene Netzwerk „Io decido“ („Ich entscheide“) für den 26. November zu einer nationalen Demonstration aufgerufen. Gegen den sensationslüsternen Blick auf die Gewalt gegen Frauen geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Gewalt nicht mit Worten, sondern mit Taten zu bekämpfen ist. Wir brauchen Aufklärungs- und Präventionsprogramme in den Schulen und Universitäten und eine Sensibilisierung aller staatlichen Institutionen von den Kommissariaten bis zu den Justizbehörden. Der nationale Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen muss überarbeitet und mit den Einrichtungen vor Ort gemeinsam umgesetzt werden.
Kampf gegen den Feminizid
Im Frühjahr 2016 machte die Ermordung von Sara di Pietrantonio Schlagzeilen. Die 22-jährige Studentin war auf dem nächtlichen Heimweg durch die Peripherie Roms von ihrem Ex-Freund verfolgt, durch ein Überholmanöver zum Anhalten ihres Wagens gezwungen, mit Alkohol übergossen und angezündet worden. Francesca De Masi ist Mitarbeiterin der von Frauen gegründeten Kooperative „BeFree“, die in Rom mehrere Schutzeinrichtungen betreut. De Masi deutet die medial geschürte Empörung nach besonders grausamen Frauenmorden als Ablenkung von der alltäglichen Gewalt gegen Frauen sowie deren schwierige Bedingungen, sich aus häuslichen Gewaltverhältnissen zu befreien.