Niederlande: Zwischen den Fronten

Die junge Schriftstellerin Lale Gül hat einen Roman über das rigide islamische Milieu geschrieben, in dem sie aufgewachsen ist. Das Buch wurde zum Bestseller, die Autorin zur Zielscheibe. Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer in einer politisch aufgeheizten Diskussion.

Die Bürgermeisterin von Amsterdam setzt sich für die Schriftstellerin Lale Gül ein: „Lale steht in einer langen Amsterdamer Tradition von Freidenkern, die mit großen persönlichen Risiken ihre Freiheit einforderten“, schrieb Femke Halsema auf Instagram. (Foto: EPA-EFE/ANP/ EPA-EFE/Jeroen Jumelet)

Als die Fotos mit den darauf abgebildeten Waffen kommen, hat Lale Gül genug: Sie taucht unter. Die Beweisstücke hat sie auf ihrem Telefon als Screenshots gespeichert. So wie alle Drohungen, die sie in den letzten zwei Monaten erhalten hat. Sie zeigt eines der Fotos, auf dem eine Pistole zu sehen ist. Auf einem anderen sieht man ein Maschinengewehr. Auch ein Video mit einer Hymne des Islamischen Staates hat man ihr geschickt, verbunden mit der Ankündigung, sie stehe „offiziell auf der schwarzen Liste von sharia4holland“. Die gleiche Gruppe teilte ihr mit, man habe „große Pläne“ mit ihr und sei „überall in Amsterdam aktiv“.

Siebzig solcher Drohungen hat die 23-jährige Frau empfangen, seit am 10. Februar ihr Debüt-Roman „Ik ga leven“ („Ich werde leben“) in den Niederlanden erschienen ist. „Und das sind nur die, die explizit mit Gewalt drohen“, stellt sie klar. Woche für Woche erstattet sie Anzeige gegen Unbekannt. Inzwischen steht das Buch an der Spitze der Bestsellerliste des Landes. Lale Gül, die Studentin der niederländischen Literatur und Tochter aus der Türkei eingewanderter Eltern, lebt versteckt und bewegt sich in der Öffentlichkeit nur per Taxi – auch zum Treffen mit der woxx.

Güls autobiographischer Roman beschreibt das konservativ-türkische Milieu in Amsterdam-West, in dem sie aufgewachsen ist. Er ist eine Anklage gegen die Benachteiligung als Mädchen und junge Frau. Sie durchläuft die Koranschule der von der Türkei aus gesteuerten internationalen islamistischen Milli Görus-Bewegung, erlebt den Kopftuchzwang und die Propaganda der türkischen Regierungspartei AKP per Satellitenfernsehen, alles „maßgeschneidert für das reaktionäre, kollektivistische und ultrareligiöse Publikum“, wie sie sagt. Doch Lale Gül verweigert die Rolle, die ihr in diesem Mikrokosmos aus Tugend und Angst zugedacht ist: „Kind Gottes, Dienstmädchen, konformistisches Mitglied des Gemeinwesens, keusche Ehefrau eines koranfesten Gatten. Ich bekomme Flecken im Gesicht, wenn ich daran denke.“

Wenn Lale Gül über den Sturm berichtet, der über sie hereinbrach, klingt sie erstaunlich abgeklärt. „So atheistisch, wie man nur sein kann“, nennt sie sich. In ihrem Debüt beschreibt sie ihre Entwicklung zur Anhängerin von Aufklärung und individueller Freiheit. „Ich dachte, dass man mich versteht, wenn ich das so gründlich wie möglich erkläre.“ Was sie außerdem dachte: dass sich Frauen in ähnlichen Situationen in ihrem Schicksal wiedererkennen würden. Zwar rechnete sie damit, dass ihre ultrareligiöse Mutter ihr nicht vergeben, sie für einige konservative Muslime zur „Ausgestoßenen“ würde – aber nicht damit, dass die Lage derart außer Kontrolle geraten würde.

„Die halbe Nachbarschaft saß in unserem Wohnzimmer, und alle schrien mich an: ‚schämst du dich nicht?‘“

Wie sehr sie die zu erwartende Resonanz auf ihr Buch unterschätzt hat, wird ihr klar, als sie kurz nach dessen Veröffentlichung von ihrer ersten Talkshow nach Hause kommt. Sie bekommt vierzig wütende Anrufe, weil sie fordert, dass in Moscheen Niederländisch gesprochen werden solle und sich negativ über Koranschulen äußert. „Es war, als sei eine Bombe explodiert“, erinnert sich die Schriftstellern: „Die halbe Nachbarschaft saß in unserem Wohnzimmer, und alle schrien mich an: ‚schämst du dich nicht? Wir Muslime haben es schon schwer genug. Warum schreibst du so ein Buch? Das sorgt für Hass und Rassismus!‘“

Es folgt ein wochenlanger Spießrutenlauf: Empörte Nachbarn klingeln, Verwandte aus der Türkei fallen am Telefon über Lale Gül her. Auf der Straße wird sie beschimpft und bespuckt. Zu Hause herrscht „jeden Tag Krieg“. Die Mutter, schon länger depressiv, droht mit Selbstmord oder sagt ihrer Tochter, sie hätte lieber einen Stein geboren. „Irgendwann schaltest du deine Emotionen aus“, so Lale Gül. Die kleine Schwester, die sie über alles liebt, macht sie für die Traurigkeit der Mutter verantwortlich. Dem Vater zittern die Hände vor Anspannung. Überall bekommt er zu hören: „Schämst du dich nicht? Warum hältst du sie nicht zurück?“

Zu dieser Zeit verlässt Lale Gül kaum noch das Haus. Die Bedrohungen sind inzwischen landesweit ein Thema in den Medien. Sie erwägt, die gerade begonnene Karriere als Schriftstellerin zu beenden, und entscheidet sich dann dazu, nicht mehr über den Islam zu schreiben. In den Niederlanden wurden schon Menschen für ihre Äußerungen über den Islam ermordet: der rechtspopulistische Politiker Pim Fortuyn 2002, zwei Jahre darauf der Regisseur Theo van Gogh 2004. Die ständig bedrohte Politikerin Ayaan Hirsi Ali war 2006 in die USA geflohen. In ihrem Viertel in Amsterdam-West weiß jeder, wo Gül, die Tochter des Briefträgers, wohnt. Kurz bevor sie das Elternhaus verlässt, zieht sie sich – vorübergehend – auch aus den Medien zurück. „Ich habe es so satt. Ich schaffe es mental nicht mehr“, twittert sie.

Nun, im Versteck, fühlt sie sich sicherer. Sie hat „mehr Ruhe im Kopf“, doch macht ihr die Situation zu schaffen, vor allem, dass sie Schwester und Bruder nicht mehr sieht. Schon länger hatte man ihr geraten, den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen. „Deine Familie ist auch dein Safe House, wo du immer hinkannst, wenn es dir nicht gut geht“, gibt sie zu bedenken: „Darum wollte ich den Kontakt nicht abbrechen. Sie sind auch keine schlechten Menschen, nur sehr konservativ. Aber ihre Liebe ist eben nicht bedingungslos.“

Aus dem persönlichen Drama Lale Güls ist längst eine nationale Angelegenheit geworden – gerade, weil sich auch viele in ihrem Schicksal wiederfinden. Sie berichtet von Hunderten Mails von Frauen, homosexuellen Männern und anderen, die sich von ihrem Buch ermutigt fühlten. Das Onlinemanifest „Lasst Lale frei“ wurde knapp 8.000 Mal unterzeichnet, auch von vielen Politikern, Publizistinnen und Prominenten. Zu Femke Halsema, der Bürgermeisterin von Amsterdam, hat sie regelmäßig Kontakt, die Stadt unterstützt sie auch bei der Finanzierung ihres Verstecks. „Lale steht in einer langen Amsterdamer Tradition von Freidenkern, die mit großen persönlichen Risiken ihre Freiheit einforderten“, schrieb Halsema auf Instagram.

In der latent explosiven niederländischen Debatte um Islam und Integration war vorauszusehen, dass „Ik ga leven“ und seine Verfasserin zwischen die fest abgesteckten Fronten geraten würde. So kanzelt der Rotterdamer Sozialdemokrat Zeki Baran, Vorsitzender des Mitbestimmungsorgans der Türkinnen und Türken in den Niederlanden, das Buch als „Hetzerei“ ab, das kurz vor den Wahlen veröffentlicht worden sei, um die Rechte zu stärken. Als der Rechtspopulist Geert Wilders Lale Gül in einer TV-Debatte „tapfer“ nennt und in ihrem Schicksal den Beweis sieht, dass „der türkische Islam sich in den Niederlanden nicht integriert“, kommt es im Hause Gül zur finalen Eskalation.

Die junge Autorin kannte diese diskursiven Schützengräben da längst aus eigener Erfahrung: Drei Jahre hatte sie eine heimliche Beziehung zu einem Jungen in Den Haag, dessen Vater die rechtspopulistische „Partei für die Freiheit“ (PVV) wählte und mit Spenden unterstützte. Nachdem er sich von dem Schock angesichts ihres Kopftuchs erholt hatte, baute Lale just zu diesem Vater eine herzliche Beziehung auf. Als das Paar unterwegs in Den Haag zur Zielscheibe permanenter rassistischer Anfeindungen wurde, ließ es der Vater an tatkräftiger Unterstützung für die beiden nicht fehlen. An seiner politischen Ausrichtung änderte das indes nichts.

„Ich identifiziere mich mit säkulären Türken“, verortet Lale Gül sich selbst. „Mit religiösen dagegen nicht, genauso wenig wie mit religiösen Niederländern.“ Was ihr aufstößt, ist der Relativismus mancher Progressiver im Land. „Sie denken, die islamische Kultur besteht aus schönen Kopftüchern und der Geselligkeit des Ramadan, und sehen nicht, dass sich Schwule in dieser Gemeinschaft nicht outen können oder Frauen, die anders leben wollen, als ‚Huren‘ bezeichnet werden. Neulich wurden in einem Artikel Feministinnen zitiert, die mich mutig fanden, sich aber kein Urteil anmaßten, weil es nicht ihre Kultur sei.“

Wer in den Niederlanden nach progressiven Akteuren sucht, die vor der heiklen Thematik nicht zurückschrecken, landet schnell bei der freisinnigen linken Initiative „Vrij Links“, die sich seit 2018 für individuelle Rechte und Säkularität einsetzt. „Ich finde es feige, wenn Lale seitens orthodox Religiöser als Nestbeschmutzerin bezeichnet wird, oder von Linken als Schoßhund der Rechten”, sagt Femke Lakerveld, die Vorsitzende des Zusammenschlusses.

Zugleich stellt sie fest, dass die Kritik Lale Güls deutlich mehr politische Unterstützung bekomme als einst jene von Ayaan Hirsi Ali, was durchaus als positive Entwicklung gewertet werden könne: „Früher liefen Leute wie Lale gegen eine Mauer der kulturrelativistischen Linken.“ Sie selbst hat in den vergangenen Jahren viele Menschen in einer vergleichbaren Situation getroffen, die sich von „Vorschriften, die ihnen andere auferlegen“, befreit haben. „Eigentlich ist es sehr einfach“, meint Lakerveld: „Antidemokratische Äußerungen, Rassismus, Frauenhass und Homophobie müssen gleich deutlich abgelehnt werden, egal aus welcher politischen oder kulturellen Ecke sie kommen.”

Lale Gül sorgt sich derweil, wie sie ihr Studium fortsetzen soll, wenn die Hochschulen nach der Corona-Pandemie wieder ihre Türen öffnen. In Onlinekursen fühlt sie sich sicherer als vor Ort an der Universität, ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht in öffentliche Verkehrsmittel traut. Ihr Fazit mit Blick auf ihr neues Leben ist denn auch ein sehr gemischtes: „Ich habe zum ersten Mal Freiheiten: ich kann gehen, wohin ich will, treffen, wen ich will, eine Beziehung haben, mit wem ich will, und anziehen, was ich will. Ich brauche kein Kopftuch zu tragen und kann im Sommer an den Strand. Aber ich habe auch meine Anonymität verloren.“

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.

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