Die Einführung der französischen Alphabetisierung wirft viele Fragen auf. Doch ausgerechnet die schärfste Kritik geht am Kern vorbei: Kinder lernen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen.

(© Arthur Krijgsman/Pexels)
Die Alpha-Reform ist umstritten – und das aus guten Gründen: Fehlende belastbare Langzeitstudien, der organisatorische Mehraufwand für Schulen, die Gefahr einer stärkeren Segmentierung nach Sprachgemeinschaften oder auch die höhere orthographische Komplexität des Französischen im Vergleich zu Deutsch oder Luxemburgisch. Gerade weil diese Einwände ernst zu nehmen sind, braucht es eine Kritik, die präzise und differenziert ist.
Diese Eigenschaften fehlen der jüngsten Pressemitteilung der „Association générale des professeurs de l‘enseignement secondaire et supérieur“ Agess. Statt die Reform nüchtern zu analysieren, setzt der luxemburgische Lehrer*innenverband auf Polemik und kulturkämpferische Zuspitzung. Die Debatte wird dadurch emotionalisiert, ohne dass sie inhaltlich an Tiefe gewinnt.
Schüler*innen und Eltern, die die französische Alphabetisierung vorziehen, wird pauschal unterstellt, ihren Horizont nicht erweitern zu wollen oder sich bewusst gegen Anstrengung zu entscheiden. Schulische Bildung ist für die Agess eine Art Sieb: Die „Starken“ kommen durch, die anderen bleiben hängen. Frustration wird dabei nicht als mögliches Risiko, sondern als notwendige, ja geradezu heilsame Lernerfahrung dargestellt. Kinder müssten Schwierigkeiten erleben, um Resilienz zu entwickeln. Das Konzept struktureller Benachteiligung scheint der Agess weitgehend fremd. In ihrer Argumentation wird Scheitern individualisiert: Nicht ungleiche Startbedingungen oder soziale Faktoren stehen im Fokus, sondern die vermeintlichen Defizite derjenigen, die im System nicht bestehen.
Für die Agess ist schulische Bildung eine Art Sieb: Die „Starken“ kommen durch, die anderen bleiben hängen.
Jede Kritik an der Bildungspolitik muss die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen Kinder und Familien dem luxemburgischen Schulsystem begegnen, miteinbeziehen. Ein Kind aus einem bildungsnahen, sprachlich unterstützenden Elternhaus erlebt ganz andere schulische Hürden als ein Kind, aus einer sozioökonomisch benachteiligten Familien, in der Zeit und andere Ressourcen fehlen. Was für die einen eine überwindbare Herausforderung ist, kann für andere zur dauerhaften Entmutigung werden, und Bildungswege frühzeitig blockieren. Wer diesen Unterschied ignoriert, argumentiert nicht realistisch, sondern privilegienblind.
In diese Denkweise passt auch die implizite Abwertung des bedürfnisorientierten Unterrichts: Sie zeichnet das Zerrbild einer Schule, die nur darauf aus ist, Kindern Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Dabei bedeutet Bedürfnisorientierung nicht Anspruchslosigkeit, sondern die Anerkennung unterschiedlicher Ausgangsbedingungen – als Voraussetzung dafür, dass Lernerfolge überhaupt erfüllbar werden.
Problematisch ist schließlich der Blick auf Eltern, die im Text pauschal als „gehetzt“ beschrieben werden. Gemeint ist offenbar fehlende Zeit: ein Alltag zwischen Erwerbsarbeit und organisatorischem Druck. Diese Realität jedoch als Defizit zu markieren, statt sie als gesellschaftliche Rahmenbedingung ernst zu nehmen, greift zu kurz und verkennt strukturelle Zwänge, denen viele Familien ausgesetzt sind.
Gerade von einer Lehrer*innen- vereinigung wäre zu erwarten, dass sie diese Perspektiven kennt und ernst nimmt. Immerhin erleben Lehrkräfte täglich, wie ungleich die Voraussetzungen sind, mit denen Kinder in die Schule kommen. Eine Kritik an Reformen, die diese Realität ausblendet und stattdessen auf moralische Überlegenheit setzt, wird dem eigenen professionellen Anspruch nicht gerecht. Die Alpha-Reform mag unzureichend vorbereitet sein und viele Fragen offenlassen. Doch wer sie kritisiert, sollte dies im Interesse der Schüler*innen tun – nicht aus der Verteidigung bestehender Hierarchien heraus.

