Künftige EU-Kommission: Kalkül der Kompromisse

Chaotisch, konturlos: Noch ist sie nicht im Amt, doch die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits erheblich mit Kritik und Problemen zu kämpfen. Wann ihr Team vom Europaparlament bestätigt wird, ist weiterhin offen.

Hat zumindest beim 
Reitsport die Zügel fest 
in der Hand: die künftige 
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. (Foto: EPA/Uwe Ansprach)

Auch für sie war es eine Überraschung. Anfang Juli hatten die Staats- und Regierungschefs Ursula von der Leyen als Wunschkandidatin für die Präsidentschaft der künftigen EU-Kommission aus dem Hut gezogen und damit dem 2014 eingeführten Modell der Spitzenkandidat*innen schon im Zuge der zweiten Wahlperiode den Garaus gemacht. Ihre Nominierung ging auf Kosten jenes Prinzips, mit dem man eigentlich den oft beklagten Demokratiemangel innerhalb der EU-Institutionen bekämpfen wollte. Von einem „holprigen Start“ hatte von der Leyen deshalb schon damals selbst gesprochen. Doch seitdem hat die deutsche CDU-Politikerin ihre Kritiker*innen selbst immer wieder mit Stoff für Polemik versorgt.

Etwa ihre Art, die Wohnungssuche in der neuen Heimatstadt anzugehen. Als „Brussels born“ hatte sie sich auf ihrem neuen Twitter-Account präsentiert. Nun jedoch zieht sie es vor, in einer eigens umgebauten 25-Quadratmeter-Bude gleich neben ihrem Büro im Kommissionsgebäude zu logieren. Eine Wahl, die nicht unbedingt von ausgeprägtem „savoir vivre“ zeugt. Die Idee, das EU-Migrationsressort mit dem „Schutz unseres europäischen Lebensstils“ zu verbinden, brachte sie dann ernstlich in Erklärungsnot. Perfekt wurde der Fehlstart schließlich, als sie mit den Vorschlägen für ihr Kommissionsteam beim EU-Parlament gleich mit drei Kandidat*innen durchgefallen ist.

Von der Leyens Plan für eine gleichermaßen aus Männern und Frauen besetzte Kommission scheint damit ebenfalls passé. Da half es wenig, dass Mina Andreeva, die Sprecherin der scheidenden Kommission, dies vergangene Woche dem Abstimmungsverhalten des Parlaments in die Schuhe schob. Jean-Claude Juncker hatte seinerzeit beharrlich auf seinen Gestaltungswillen bei der Personalauswahl gepocht, auch gegenüber den die Kandidat*innen nominierenden Staats- und Regierungschefs.

Verkorkste Kandidaturen

Wie an so manchen Aspekten des „holprigen Starts“ der künftigen Kommissionspräsidentin war allerdings der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am Scheitern der Geschlechterparität nicht ganz unbeteiligt – ausgerechnet jener Mann also, der von der Leyen zuerst ins Spiel gebracht hatte, weil ihm die „Spitzenkandidaten“ nicht passten. Wohl auch wegen dieses Macron-Manövers wurde Sylvie Goulard, die französische Kandidatin für einen Kommissionsposten, vom Parlament abgelehnt. Der französische Präsident sprach von einer „schweren institutionellen Krise“ und gab nicht zuletzt von der Leyen die Schuld, weil sie trotz seiner Bedenken an Goulard festgehalten habe. Nun schickt er mit dem Wirtschaftsfachmann Thierry Breton einen Mann für den Posten des Binnenmarkt-Kommissars ins Rennen – eine „Retourkutsche“, wie so mancher Kommentator zu wissen glaubte.

Auch in Ungarn und Rumänien, wo ebenfalls Kandidat*innen nachnominiert werden müssen, fühlt man sich nach der französischen Personalwahl offenbar nicht mehr an von der Leyens Ziel einer gleichberechtigt besetzten Kommission gebunden. Viktor Orbán hat mit dem ehemaligen ungarischen Botschafter in Brüssel, Oliver Varhelyi, abermals einen Mann als Kandidaten für die Kommission benannt.

In Rumänien ist die Lage ohnehin wenig hilfreich für von der Leyen: Eine neue Regierung wird dort nach einem Misstrauensvotum gegen die bisherige sozialistische Regierung frühestens am 4. November vom rumänischen Parlament gewählt. Die besten Aussichten zur Regierungsbildung hat derzeit Ludovic Orban von der Nationalliberalen Partei (PNL). Laut Medienberichten könnte er statt der abgeblitzten Rovana Plumb entweder den Europaabgeordneten Siegfried Muresan oder dessen Kollegin Adina-Ioana Valean als Verkehrskommissar*in vorschlagen. Für Turbulenzen hat zudem die scheidende Regierungschefin Viorica Dancila gesorgt, als sie vergangenen Dienstag mit dem Ex-Europaminister Victor Negrescu abermals einen sozialistischen Kandidaten nominierte. Rumäniens Präsident Klaus Johannis sprach Dancila jedoch das Recht ab, einen solchen Vorschlag nun noch zu machen, und auch von der Leyen distanzierte sich rasch davon.

Aufgrund all dieser Verzögerungen kann das Team, dem von der Leyen vorsitzen wird, nicht wie geplant am 31. Oktober mit der Arbeit beginnen. Noch mindestens bis Ende November führt daher Jean-Claude Juncker die Geschäfte weiter. In der Zwischenzeit versuche die designierte Kommissionspräsidentin, all ihren künftigen Kommissar*innen deutsche Kabinettschefs unterzujubeln, wie die französische Tageszeitung „Libération“ zu wissen glaubt. Manche lehnten dies ab, wie laut dem Blatt Nicolas Schmit, der künftig für den Bereich Arbeit zuständig sein wird; andere jedoch fügten sich von der Leyens Wunsch. So angeblich ihr künftiger Vizepräsident Valdis Dombrovskis, der seinen bisherigen Kabinettschef Massimo Suardi durch einen Deutschen ersetzen lasse. Bislang jedoch ist Suardi noch im Amt.

Berliner Altlasten

Auch wenn die Vorwürfe übertrieben sein mögen, lohnt ein Blick darauf, wen die künftige Kommissionspräsidentin aus Berlin mitbringt. Da ist zum einen Jens Flosdorff, der von der Leyen bereits seit 2003 als Pressesprecher auf ihren Karrierestationen folgt. Als „beinharter Taktiker“ wird er in dem Fachportal „politik und kommunikation“ bezeichnet. In Berlin argwöhnt man jedoch, dass er nicht nur seiner Fähigkeiten wegen von seiner Chefin mit nach Brüssel genommen worden ist.

In der deutschen Hauptstadt nämlich steht von der Leyen wegen der sogenannten „Berateraffäre“ nach wie vor in der Kritik. In ihrer Eigenschaft als Verteidigungsministerin hatte sie eine Beratungstruppe angeheuert, um teure Rüstungsprojekte zu prüfen, wobei die Berater selbst Kosten in Höhe von 93 Millionen Euro verursacht haben. Laut den Finanzkontrolleuren vom Bundesrechnungshof wurde für 80 Prozent der Verträge mit dem Unternehmen die „Notwendigkeit der Beratung“ nicht nachgewiesen. Und so stehen jetzt die Vorwürfe des Rechtsbruchs und der Korruption gegen von der Leyen im Raum. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann mutmaßte daher, die Ex-Ministerin habe Spitzenbeamte und engste Mitarbeiter nicht zuletzt mit nach Brüssel genommen, damit sie in der Affäre als potenziell „wichtige Zeugen aus der Schusslinie genommen werden“.

Neben Flosdorff, der als ihr Chefberater für Kommunikation fungieren wird, gilt das möglicherweise auch für Björn Seibert. Vormals ihr Stabschef im Verteidigungsministerium und damit in einer zentralen Funktion, ist er nun Chef ihres Übergangsteams. Laut „Libération“ soll vor allem er es sein, der hinter den bereits erwähnten „deutschen“ Personalmanövern steckt. Seibert, der unter anderem in Harvard und am „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT) in Cambridge studiert hat, ist Fachmann für Sicherheits- und Verteidigungsfragen und hat sich intensiv mit den militärischen Kapazitäten und der Interventionsfähigkeit der Europäischen Union auseinandergesetzt. Vermutlich soll insbesondere er der künftigen Kommissionspräsidentin daher auch bei der Umsetzung von einem ihrer erklärten Schwerpunkte behilflich sein: einer stärkeren und aktiveren Rolle in der Welt, auch mit militärischen Mitteln.

„In den nächsten fünf Jahren müssen wir weiterhin energisch auf eine echte Europäische Verteidigungsunion hinarbeiten“, so von der Leyen in ihren Leitlinien, die für dieses Ziel auch den nächsten langfristigen EU-Haushalt deutlich aufstocken will. Problematisch jedoch sind nicht allein die militärischen Kapazitäten, sondern auch die Entscheidung darüber, wann und zu welchem Zweck sie eingesetzt werden.

Ohne Souveränität

„Wir müssen daher den Mut aufbringen, außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen“, forderte von der Leyen bereits bei ihrer Bewerbungsrede Mitte Juli in Straßburg. Statt einstimmiger Entscheidungen in außen- und sicherheitspolitischen Fragen würden bei einer „qualifizierten Mehrheit“ für einen Beschluss lediglich 55 Prozent der Stimmen aller Mitgliedsstaaten genügen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Doch auch diese Mehrheit dürfte nicht so leicht in einem überschaubaren Zeitraum für Entscheidungen von größerer Tragweite zu organisieren sein. Allzu groß sind die Interessenwidersprüche unter den einzelnen Mitgliedsstaaten. Zudem gelten gerade sicherheitspolitische und militärische Fragen als ureigene Domäne nationaler Souveränität.

Nicht umsonst hatte Jean-Claude Juncker im vergangenen Jahr die Frage der Souveränität Europas zum Dreh- und Angelpunkt seiner letzten Rede zur Lage der Union gemacht. Diese sei notwendig, um Europa „weltpolitikfähig“ zu machen. Wie diese europäische Souveränität zu schaffen sein soll, vermochte jedoch auch er nicht zu sagen, und bei von der Leyen ist nun nicht einmal mehr explizit die Rede davon. Sie pocht auf Solidarität und Geschlossenheit, bleibt ansonsten aber meist im Vagen. Wohl nicht zuletzt, um jene Mitgliedsstaaten nicht zu verprellen, die, wie die Visegrád-Gruppe (Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei), besonders besorgt sind um ihre nationale Souveränität.

Nur nicht anecken, das scheint auch jenseits der Souveränitätsfrage von der Leyens Devise zu sein, die damit die eigene Agenda schon vor Amtsantritt unglaubwürdig zu machen droht. Bei der „Achtung der Rechtsstaatlichkeit“ dürften „keine Kompromisse eingegangen werden“, hatte sie etwa in ihrer Straßburger Bewerbungsrede noch gemeint. Kurz darauf wurde sie gerade auch dank der Stimmen der polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zur Kommissionspräsidentin gewählt. Der Regierungspartei wird ein massiver Abbau rechtsstaatlicher Strukturen in Polen vorgeworfen. „Nobody’s perfect“, spielte von der Leyen nach ihrer Wahl die Probleme dort und auch in Ungarn herunter. „Vollumfängliche Rechtsstaatlichkeit ist immer unser Ziel“, so die Politikerin, nun jedoch gelte es erst einmal, die Debatte zu entschärfen und daher die osteuropäischen Mitgliedsstaaten nicht permanent an den Pranger zu stellen.

Auch ihr „Green New Deal“ steht in der Kritik. Dieser sei zum Scheitern verurteilt, so Pawel Wargan und David Adler von der Kampagne „Green New Deal for Europe“, was vor allem an der Aufgabenverteilung zwischen den künftigen Vizepräsidenten Frans Timmermans und Valdis Dombrovskis liege. Die maßgeblichen Kompetenzen lägen bei dem Konservativen Dombrovskis, der Sozialist Timmermans hingegen fungiere als Aushängeschild für von der Leyens umweltpolitische Ambitionen – auch im Falle eines Misserfolgs.

Weniger noch als Jean-Claude Juncker wird offenbar von der Leyen die faktisch bestimmenden Konflikte zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten innerhalb der Europäischen Union mittels einer eigenen politischen Agenda zu überspielen versuchen. Stattdessen identifiziert sie sich anscheinend vorweg mit der Rolle einer bloßen Repräsentantin der zwischen den jeweiligen Interessenfraktionen ausgefochtenen prekären Kompromisse. Ganz unpassend ist das nicht: denn durch einen ebensolchen Kompromiss ist Ursula von der Leyen ja auch ins Amt gekommen.


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