Oft belächelt und nun doch fast in trockenen Tüchern: Das Projekt „Esch 2022“ rückt näher. Die woxx hat sich mit Janina Strötgen und Andreas Wagner, den Koordinatoren des Projekts, unterhalten, um Konkreteres zu erfahren.
woxx: Wer sich hinter die Völklinger Hütte verirrt, trifft dort auf eine traurige und vergessene Gestalt: einen blauen Hirsch, das Wahrzeichen der Kulturhauptstadt Luxemburg 2007. Wird von „Esch 2022“ auch nicht mehr als so etwas bleiben?
Andreas Wagner: Große Frage, komplexe Antwort. Zunächst muss man sich vor Augen halten, das sich seit 2014 die Bedingungen dafür, eine Kulturhauptstadt auf die Beine zu stellen, komplett geändert haben. Das hat auch mit den in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen zu tun. Eben um zu verhindern, dass die Festlichkeiten nur ein Jahr dauern und nichts darüber Hinausgehendes geplant wird, hat die Europäische Kommission entschieden, dass in Zukunft die Auszeichnung Kulturhauptstadt nur im Zusammenhang mit langfristigen Kulturstrategien vergeben werden kann. Es geht also überhaupt nicht mehr darum, eine Serie von Events über ein Jahr zu organisieren, die wie ein Feuerwerk abgebrannt werden. Die Aufgabe ist, im Vorhinein Initiativen aufzustellen, die auch nach dem Kulturhauptstadt-Jahr Bestand haben.
Nachhaltigkeit ist also festge- schrieben.
Andreas Wagner: Ja, deshalb arbeiten wir ja auch auf eine viel stärker strukturorientierte Weise. Wir haben die letzten Monate damit verbracht, herauszufinden, auf welchen Grundpfeilern hier im Süden gearbeitet werden muss – also welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir sie in unsere Planung einfließen lassen können.
„Mit dem Label ändert sich alles“.
Als da wären?
Andreas Wagner: Im Zentrum steht die Kultur, und die vier Pfeiler sind: Soziale Inklusion, öffentlicher Raum, lokale Identität und „Welfare“ – aber das kann auch ökonomische Faktoren abdecken. Und jedes Projekt muss alle diese vier Grundbedingungen erfüllen.
Und das Thema? Ist es noch immer so, dass „Esch 2022“ unter dem Thema „Liebe“ stattfindet, oder ist die Liebe gestorben?
Janina Strötgen: Ja, das Thema Liebe ist definitiv vom Tisch. Liebe hat doch nichts mit dieser Region zu tun.
Andreas Wagner: Unser Thema ist die Vermischung der Bevölkerung hier im Süden – daher „Remix Center“. Das ist nicht nur ein Begriff; wir wollen daraus auch einen konkreten Ort machen, wo jede Person ihre Ideen für Projekte einreichen kann und wir eher die Rolle von „Vereinfachern“ oder „Möglichmachern“ einnehmen würden.
Wo könnte dieser Ort sein?
Janina Strötgen: Wir denken zum Beispiel an die Verwaltungsgebäude der alten Arbeds-Universität in Richtung Esch-Schifflingen. Da müsste man natürlich noch klären ob, und falls ja, wie diese Gebäude zugänglich und verfügbar sind.
Was ist der nächste Termin, an dem man Konkreteres erfahren kann?
Janina Strötgen: Ende März entscheidet sich, wer unsere Partnerstadt wird. Wie jedes Mal sind bei einem Kulturhauptstadtjahr zwei Länder im Spiel – 2022 sind es Luxemburg und Litauen. In Litauen ist neben der Hauptstadt Vilnius auch noch Kaunas im Rennen.
Andreas Wagner: Wir haben beide Städte besichtigt. Und beide sind interessante Partner. Denn wenn man sich Europa geografisch anschaut – also vom Ural bis nach Portugal, dann liegt Litauen genau in der Mitte. Und wir wollen auch mit unseren zukünftigen Partnern ein neues Bild von Europa schaffen, eines das nicht so westorientiert ist, wie es bis jetzt in unseren Köpfen eingehämmert war.
„Liebe hat doch nichts mit dieser Region zu tun“.
Und bei „Esch 2022“, wie geht es da weiter?
Janina Strötgen: Unser wichtigster Termin ist der 15. September, der Stichtag für die Einreichung der Kandidatur. Vorher haben wir noch einen Termin mit Sylvain Pasqua, dem Verantwortlichen für alle Kulturhauptstadtprogramme der Union, der nach Luxemburg kommt – auch mit der Absicht, hier ein weiteres Mal mit den Gemeinden zu reden und ihnen die Rolle und auch die Möglichkeiten eines solchen Programms noch einmal darzulegen. Denn der politische Rahmen des gesamten Unterfangens ist nach wie vor schwierig. So wie auch die ganze Organisation. Wir haben da ja nicht nur Esch, sondern auch die Südgemeinden, die mitarbeiten wollen, und die CCPHVA (Communauté des Communes de la Haute Vallée de l’Alzette), d.h. die Gemeinden hinter der französischen Grenze, die ebenfalls mit eingebunden werden sollen. Es müssen Konventionen geschaffen werden, mit dem sich alle Akteure wohlfühlen. Hinzu kommt, dass bis 2022 noch zweimal in den luxemburgischen Gemeinden gewählt wird; deshalb ist es für uns wichtig, Engagements auf die Beine zu stellen, die nicht bei einem politischen Wechsel wieder gekippt werden können.
Ist es nicht riskant, erneut auf die Großregion zu setzen? Die Erfahrungen von 2007 waren ja nicht besonders ermutigend.
Andreas Wagner: Die Macher von 2007 waren mit die ersten Personen, mit denen wir uns getroffen haben – und bleiben auch enge Berater für uns. Andererseits haben sich die Bedingungen komplett verändert, und die Vorgaben sind viel strikter und detaillierter geworden.
Mit welchen Gemeinden haben Sie inzwischen schon gearbeitet?
Andreas Wagner: Mit Differdingen, Düdelingen, Petingen, Sassenheim, Audun-le-Tiche, Bettemburg, Monnerich und Kayl.
Und Bascharage?
Andreas Wagner: Nein, noch nicht.
Janina Strötgen: Da warten wir noch auf die Gemeinde. Aber ich glaube das kommt noch. Sobald wir das Label „Kulturhauptstadt“ haben.
Was ändert sich dann?
Andreas Wagner: Mit dem Label ändert sich alles – die politische, aber auch die budgetäre Situation und Unterstützung des Projekts werden dann in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn die Gemeinden, die Regierung und die Europäische Union an einem Strick ziehen, wird sich vieles ändern.
Janina Strötgen: Auch für die Gemeinden, die dann wissen können, was bei dem Ganzen für sie herausspringt. Denn bis jetzt begegnen wir oft der Frage: Das alles ist ja schön und gut, aber was haben wir davon? Es geht darum, den Verantwortlichen im persönlichen Gespräch näherzubringen, dass wir nicht beabsichtigen, eine Event-Serie loszutreten, die dann wieder im Sande verläuft, sondern dass „Esch 2022“ ein Projekt ist, das die gesamte Region nachhaltig verändern wird.
„Die Vorgaben sind viel strikter und detaillierter geworden“.
Zurück zur Mischung der Kulturen: Wie kann man verhindern, dass sich auch um das Projekt „Esch 2022“ Parallelgesellschaften bilden?
Andreas Wagner: Es geht darum, den nationalistischen Tendenzen, die sich in der Europäischen Union breitmachen, die Stirn zu bieten. Das passiert ja nicht nur in unseren Breitengraden, sondern überall. Unsere litauischen Partner werden da ihre eigene Sicht auf die Dinge einbringen können, denn unsere Regionen sind ja sehr verschieden. Während die „Minette“-Region von ihrer Diversität lebt, hat sich die Bevölkerung im Baltikum zunehmend homogenisiert. Was für uns wirklich klar ist: Das Europa der zwei Geschwindigkeiten hat die Spaltung vorangetrieben. Und jetzt haben wir den Salat mit dem Brexit und so weiter. Wir müssen wieder eine Zukunftsvision schaffen und nicht nur in die Vergangenheit schauen. Es geht darum, eine neue europäische zivile Identität zu schaffen – durch und mit der Kultur. Denn die Kultur hat die außerordentliche Fähigkeit, Unterschiede aufzunehmen und auch zu etwas Besserem zu machen.
Die „Minette“-Region hat bislang ja eher in die Vergangenheit geschaut.
Andreas Wagner: Ja, aber sie hat durchaus ein Potenzial, das man ausschöpfen kann. Es gibt hier noch Freiräume, die man in der Hauptstadtregion nicht hat, eine Sozialstruktur, die im Großherzogtum einzigartig ist, und eine ausgeprägte Diversität.
Janina Strötgen: Es geht auch darum, Vorurteile gegenüber der Region abzubauen – auch die Vorurteile, die die Region über sich selbst kultiviert.
Thema Zukunft: Wie sieht es mit Belval aus? Gibt es Kontakte mit der Universität?
Andreas Wagner: Sicher. Wir hatten einige gute Gespräche mit einzelnen Akteuren aus einzelnen Abteilungen – meistens in den Humanwissenschaften. Dort ist die Idee einer Zusammenarbeit gut angekommen. So langsam erkennt aber auch die ganze Universität das Potenzial des Projekts „Esch 2022“.
Janina Strötgen: Wir könnten uns durchaus vorstellen, die Universität auch mit in die Nachhaltigkeitsplanungen des Projekts einzubauen und – wieso nicht? – eine Kunsthochschule auf Belval zu gründen.
Sie beide wollen also kein eigenes Kulturzentrum, wenn alles vorbei ist, so wie es in Luxemburg der Brauch ist?
Beide: Nein! (Lachen).
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