Kunst im öffentlichen Raum: Störend sind nicht 
die Wahrheiten

„Störende Wahrheiten“ ist ein Kunstprojekt der Gemeinde Lorentzweiler, das sich entlang der Route de Luxembourg (N 7) erstreckt. Der Grundgedanke ist gut, die Umsetzung nicht. Über Irrwege und Leuchtreklamen.

Um Werke wie
„Rise of the Machine“ von Gilles Pegel zu verstehen, braucht es leicht zugängliche Zusatzinformationen –
doch die fehlen bei der
Open Air Ausstellung „Störende Wahrheiten“. (COPYRIGHT: Privat)

„Es geht zum einen um die kommunale Selbstdarstellung. Zum anderen soll ‚Störende Wahrheiten‘ als Reflexionsplattform für wichtige aktuelle gesellschaftliche Debatten dienen und diese einer breiten Öffentlichkeit näherbringen“, steht im Begleitflyer zur Ausstellung „Störende Wahrheiten“, die es noch bis zum 3. Oktober an der N7 in der Gemeinde Lorentzweiler zu entdecken gibt. Erfüllt die Ausstellung ihre eigenen Voraussetzungen? Nicht wenn es darum geht, eine „breite Öffentlichkeit“ anzusprechen.

Das misslingt, noch bevor der kostenlose und unbegleitete Rundgang beginnt. Zwar wehen an den Straßenlaternen Fähnchen mit der Aufschrift „Störende Wahrheiten“ und an der einen oder anderen Litfaßsäule klebt ein Ausstellungsplakat, doch schon der Weg zum ersten Kunstwerk ist schwer zu finden. Die entsprechenden Wegweiser sind klein und inmitten des Baustellenchaos am Bahnhof schlecht sichtbar.

Gilles Pegels „Rise of the Machine“ liegt nicht an der N7, sondern auf einem Fahrradweg gegenüber vom Bahnhof. Das Kunstobjekt liegt lieblos auf einer Grasfläche und geht als kreativer Fahrradständer durch – denn ein Hinweis auf die Ausstellung fehlt. Dabei stecken hinter dem Werk interessante Gedanken: Pegel thematisiert die Beziehung zwischen Mensch und Technik, zwischen Kreation und Schöpfer*innen. Das steht im Begleitflyer, den es erst drei Stationen weiter in einem der wenigen schwarzen Infokästen gibt. Die Erklärungen kann man auch auf dem Smartphone nachlesen, wenn man die Ausstellungswebsite aufruft. Spaziergänger*innen, die ohne Vorwissen an der Metallkonstruktion vorbeilaufen, bleibt die tiefere Bedeutung verborgen.

Auch Claudia Passeris „So Long“ ist weder als Ausstellungsstück gekennzeichnet noch mit Infos versehen. Wer sich in Lorentzweiler nicht auskennt, übersieht die weiße Hand, die auf dem Dach einer ausgedienten Tankstelle platziert ist, oder hält sie für eine vergessene Leuchtreklame. Dabei soll die Hand „ein Zeichen des positiven Anschlusses, der Rehumanisierung des öffentlichen Raums nach (…) Monaten des Lockdowns sein“.

Das Exponat, das am meisten unter der mangelhaften Kunstvermittlung leidet, ist jedoch Nora Wagners „Meine Traumgemeinde“. Was wie ein kunst- und liebevoll angerichteter Haufen Sperrmüll vor dem Rathaus aussieht, ist ein komplexes, interaktives Kunstwerk, auf das ein Theaterstück folgt. Die Installation besteht aus einem Briefkasten für Beschwerden, einem Safe für Wünsche und einer Sammelkiste für Geschichten. Wagner traf sich für das Projekt zu Diskussionsrunden mit Gemeindeangestellten und erarbeitete die Kästen in Workshops mit den Mitarbeiter*innen des Technischen Dienstes von Lorentzweiler.

Vor Ort weist nichts daraufhin, dass die darauf warten, mit Briefen der Bürger*innen und Passant*innen gefüttert zu werden. Dabei ist das ein wesentlicher Bestandteil des Werkes: Im Anschluss an die Ausstellung wird Wagner mit Lokalpolitiker*innen auf die Theaterbühne steigen und aus den Mitteilungen vorlesen. Nach einer öffentlichen Debatte kommt jeder Brief vor den Augen des Publikums – das übrigens mitreden darf – entweder in den Kasten „Wir denken darüber nach“ oder „Wir kümmern uns nicht weiter darum“.

Chiara Dahlems „Toujours les autres“ und Jerry Frantz‘ „Ici prochainement“ sind die einzigen Kunstwerke an der N7, die erklärungslos einleuchten. Dahlem hat im Kreisverkehr mehrere gesichtslose Figuren positioniert. Sie halten sich eine Hand vor die Augen, zeigen mit ausgestrecktem Finger der anderen auf die Straße. Zum einen sind die Figuren durch ihre Platzierung und Größe sichtbar, zum anderen lässt ihre Körpersprache gleich mehrere Interpretationen zu.

Der ausgestreckte Finger wirkt verurteilend, gleichzeitig wie die Ablehnung einer Schuldzuweisung. Die verdeckten Augen erinnern an Uneinsichtigkeit oder Ignoranz. Im Ausstellungskatalog, der als PDF heruntergeladen werden kann, wird Dahlems Werk mit Jean-Paul Sartres Satz „L’enfer c’est les autres“ in Verbindung gebracht, der „das innere Drama des Gewissens“ schildert, das „ständig dem Blick des Anderen ausgesetzt ist“.

Jerry Frantz macht es dem Publikum ebenfalls leicht: Er hat sein Werk signiert und es ist auffällig. Er kündigt vor dem ehemaligen Jugendhaus den Bau einer „Verwahranstalt für mit anormal hohem Unwissenheitsstand auffällig gewordene Personen“ an. Auf dem Plakat, das an die Ankündigungen von Baufirmen erinnert, sind potenzielle Patient*innen aufgelistet: Politiker*innen, die ihren Job schlecht machen, ihre Wähler*innen, Rassist*innen, aber auch Künstler*innen. Auch wenn sich einem nicht gleich erschließt, dass Frantz damit einen selbstreflexiven Prozess lostreten will, ringt es einem zumindest entweder ein Schmunzeln, empörtes Stöhnen oder verwirrtes Kopfschütteln ab.

Frantz‘ Werk ist damit an sich das einzige, das zum Titel „Störende Wahrheiten“ passt. Störend bis verstörend ist ansonsten nur, wie schlecht das Ganze kuratiert wurde. Dabei ist die Idee hinter dem Projekt, sich als „weltoffene Gemeinde mit einer heterogenen, aufgeschlossenen Bevölkerung“ zu präsentieren. Jedoch schließt es gleich mehrere Menschen aus. Nicht alle Menschen besitzen ein Smartphone, um den ausführlichen Ausstellungskatalog aufzurufen; nicht jede*r versteht genug Französisch oder Deutsch, um den Begleitflyer zu lesen, und nicht alle haben ein Kunstverständnis, das es ermöglicht, sich Kunst auch ohne Hinweis und weiterführende Erklärungen zu erschließen. Kunstobjekte unvermittelt in die Landschaft zu stellen, ist weit von Kunst im öffentlichen Raum entfernt, die eine offene Debatte anstößt.

An. d. R.: Die Ausstellungsrezension basiert auf einem Besuch am 24. Juli 2021, dem Eröffnungstag, und schildert gegebenenfalls nicht die aktuellen Umstände.

Störende Wahrheiten. Gemeinde Lorentzweiler, N7 und Fahrradweg am Bahnhof. Bis zum 3. Oktober.

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