Literatur: Lyrische Lektüretipps, Teil 3

von | 30.10.2025

Herbstzeit ist Lesezeit. Die Lektüre der folgenden drei Gedichtbände lohnt sich besonders.

„Small Talk“ von Dagmar Leupold

(© Jung und Jung)

Small Talk zu betreiben heißt, sich in der Kunst des beiläufigen Plauderns zu üben. Das Wetter bietet sich dabei als Gegenstand für die unverfänglich-lockeren Gespräche an, die bei Zusammenkünften eine gesellige Stimmung schaffen sollen und damit an schnell verlöschende Teelichter erinnern, die die Atmosphäre sanft aufhellen, ohne je eine ernstzunehmende Brandgefahr darzustellen. Denn erfreulich und harmlos sollen diese kurzlebigen Konversationen sein, so lautet der gesellschaftliche Konsens. Wer das Nebensächliche, leicht Verdauliche nun aber bei Dagmar Leupold sucht, wird unweigerlich enttäuscht werden, geht es der Schriftstellerin doch um das Wesentliche, um die bedrohlichen Umschläge des politischen Klimas und die aufziehenden Wolken am Horizont der Weltlage, die unmissverständlich verdeutlichen: Die Zeichen stehen auf Sturm. Angesichts der Schieflage der Welt hat die im Anfangsgedicht „Lautschrift: Krieg“ dargestellte beharrlich-tapfere Zeugenschaft von Sonne und Mond etwas durchaus Staunenswertes. Immerhin kommt den Gestirnen die undankbare Pflicht zu, das von ihnen Gesehene wahrheitsgetreu festzuhalten beziehungsweise sichtbar zu machen, so „bescheint / und bescheinigt“ der Mond zum Beispiel „pünktlich die neuen Wunden“. Die Himmelskörper werden zu unbestechlichen „Protokollanten“ der „Sepsis“ und auch „Skepsis angesichts / der berufenen Heiler / und Akrobaten / Advokaten des Worts“. Der ganze Himmel wird zur Spiegelwelt des Irdischen, zur Theaterbühne, auf der die Dramen des Diesseits nachgespielt oder vorweggenommen werden. Im Gedicht „Blattschuss“ heißt es dementsprechend: „Krieg wird hier großgeschrieben: in den Jet- / Streams am enthofften Himmel, […] Blut und Kreide, Spurrillen der Vernichtung.“ Beißender Spott schärft die Verse der Autorin, die zum Beispiel eine schlüpfrige Mehrdeutigkeit in den Begriff „Stellungskrieg“ hineinlegt und so ungerührt eine Brücke von der kriegerischen Auseinandersetzung zur körperlichen Vereinigung zweier Menschen schlägt, aus der gegebenenfalls neues Leben – und damit tragischerweise auch neues Kanonenfutter – entstehen kann. Wie eine Infrarotkamera, die selbst kleine Temperaturunterschiede und damit auch Verletzungen oder Entzündungsherde sichtbar machen kann, vermögen es die Gedichte von Dagmar Leupold, globale Stimmungslagen und vor allem Blessuren im politisch-gesellschaftlichen Weltgefüge Farbe und Kontur zu geben – damit werden sie zu einem passgenauen diagnostischen Instrument.

Dagmar Leupold: „Small Talk“, Gedichte, Jung und Jung Verlag, Salzburg 2025, 128 Seiten, 22 Euro

„Verschlissenes Idyll“ von Marit Heuß

(© Poetenladen)

Räumlichkeit, in ihrer physikalischen, mathematischen, historischen und geografischen Ausprägung, ist nicht nur ein Thema der Philosophie. Sie bietet auch der Literatur ein würdiges, ja faszinierendes Sujet. Denn jede Positionsbestimmung – und als Menschen positionieren wir uns ständig zueinander – setzt ein räumliches Bezugssystem voraus. Auch ist die menschliche Wirklichkeitserfassung, da sie im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne vom jeweils eingenommenen Betrachtungswinkel abhängt, grundlegend perspektivisch. In Marit Heuß’ Lyrikdebüt „Verschlissenes Idyll“ spielen Räume eine zen- trale Rolle, denn sie durchdringen Zeitschichten und verändern sich zugleich zwangsläufig in ihrem Rhythmus. Dabei finden sich in der Gegenwart Reminiszenzen an vergangene Epochen, der Regen fällt auf stille Bergmannsstätten, der Blick wird auf den „Steinstaub der Jahre“ gelenkt. Badende werden als Entdecker*innen imaginiert, die Expeditionen ins Erdinnere und damit in die uns verborgene Geschichte unseres Planeten unternehmen: „wir binden den Badegästen Grubenlampen / an die Stirnen, schicken sie in Schächte, / die neu geschichteten Erdteile zu durchglühen“. Doch wie diese Textstelle schon andeutet, ist kaum ein Raum vom menschlichen Tun unberührt geblieben, schon lange ist der Mensch zum Vollstrecker jener Gesetzmäßigkeiten geworden, die zu unablässigem Wandel drängen. Hügel wurden „von unsichtbarer Hand künstlich gebildet“, gleiches gilt für das Schilf vor dem Schwimmbad. Gerade in Siedlungsräumen werden Menschen mit der Zerbrechlichkeit ihres Daseins konfrontiert: „sind meine Freunde auf den Straßen / wie in stetiger Bedrängnis oder wie ausgesetzt auf ihren Wegen“. Da keine „Götterberge“ am Horizont mehr zu erblicken sind, sondern nur „Silotürme“, beginnt der Mensch bei anderen Menschen nach Transzendenz zu suchen: „scheinbar können wir, indem wir uns / nicht als Attrappen begreifen, / unsre Münder sich als Münder treffen, / nicht mal sterben, du rufst / flieg! Und ich rufe, diese Luft!“ Dass hier, wo eine gefühlvoll-wahrhaftige Begegnung stattfindet, auch eine mirakulöse Auffahrt literarisch inszeniert wird, zeigt: Nach der Vertreibung aus dem Garten Eden sind, trotz der Gefahr des Stillstands, traumhafte Schwebezustände, Entwicklungssprünge und Aufwärtsbewegungen noch möglich. So vermag, obschon verloren, das Paradies aus den Gedichten manchmal visionsartig aufzublitzen.

Marit Heuß: „Verschlissenes Idyll“, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2025, 96 Seiten, 19,80 Euro

„Versuch einer Verpuppung“ von Isabella Feimer

(© Haymon)

Es sind die surrealen Bilder, die am besten einfangen, worum „Versuch einer Verpuppung“ unablässig kreist: die Liebe, die Wunden schlägt und Verletzungen heilt, Narben hinterlässt und in eine berückende Ent-Fesselung des Ichs im Sinne einer Ausdehnung des Verständnisses von Selbst mündet. Auf die „Ausweitungen / der eigenen Existenz“ folgen demnach gleich die „Ausweidungen“, die Verliebten „umschwirren […] die Wünsche des anderen / und lassen sie nicht in Erfüllung gehen“. Komplex ist die Liebe, und bittersüß. Keine neue Erkenntnis, und doch schafft es die Dichterin Isabella Feimer, die Doppelwertigkeit des Eros behutsam in neue Bilder wie in Samtstoff einzuschlagen: „du tauschst meine Adern mit Seegras aus / versteinerst die Stücke meines Herzens […] / ich bausche mich am Horizont / als Wolke auf / färbe dich im Abendlicht“. Die Liebe bäumt sich zu einer Elementargewalt auf, und so wird die Natur in ihrer unbändigen Schönheit zum primären Bildreservoir, aus dem die Autorin schöpft. Immerzu drängen die Verliebten zu- und ineinander, diese Verschränkungen und Verflechtungen werden poetisch eingerahmt durch Wendungen wie diese: „schwärme aus in dich / bin im Summen Blütenstaub“ oder „wenn ich Stille nur zertrümmern könnte / wenn ich Wüste wäre / legte mich stäubend in dich“. In fortlaufenden Metamorphosen, auf die der Titel schon anspielt, findet hier ein Balztanz statt, der so alt ist wie die Menschheit und dabei doch immer den Zauber des Neubeginns in sich trägt. Wuchtige Wortschöpfungen wie „Lichterkettenseele“, „Rosenheckewärmen“ und „Lindenblütenschwere“ verdeutlichen, dass in den Gedichten darauf geachtet wird, den zentralen Gegenstand auszuleuchten, ohne ihn durch sterile Rationalität zu dekomponieren. Vielmehr vertraut die Autorin in ihrer Auseinandersetzung auf den Assoziationsreichtum der lyrischen Sprache, und selbst wenn das Liebesobjekt schon „leer […] gedichtet“ erscheint, schreibt sich die hier vorsichtig konturierte romantische Erzählung fort: „Ich weiß, solange ich deine Stimme nicht vergessen / habe, schlägt ein Verlangen nach Welt in mir, nach / dem bedrohlichen, mit bloßem Auge sichtbar.“ Ein Kulminationspunkt, auf den sie zuläuft, ist sicherlich der welten- erschaffende Geburtsvorgang, der eindrücklich in einem Text beschrieben wird: „im Sand forme ich Welten / die ich statt dieser einen / gebäre / […] presse / presse / in Wellen / die Wunder rasch / in deine Arme“. „Versuch einer Verpuppung“ ist eine Hommage an die einerseits gefährliche, andererseits lebenserneuernde Kraft der Liebe und zeigt zugleich, dass Gedichte nie sterile, dafür aber umso fertilere Umgebungen bilden, in denen fortwährend Neues gedeihen kann.

Isabella Feimer: „Versuch einer Verpuppung“, Gedichte, Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2025, 128 Seiten, 22,90 Euro

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