Luxemburg und Pisa: Den Status Quo verteidigen


Luxemburg schneidet in der Pisa-Studie wie gewohnt schlecht ab. Vor allem eins wird – wieder einmal – klar: Luxemburgs Schulsystem ist hochgradig ungerecht.

„Wenn ein Schüler mit Migrationshintergrund anderthalb Jahre Bildungsrückstand aufweist, heißt das im Umkehrschluss auch, dass ein Schüler ohne Migrationshintergrund anderthalb Jahre Vorsprung hat.“

Claude Meisch lächelte gequält, als Tun Fischbach von der Forschungseinheit Lucet der uni.lu die Resultate der 2015er Pisa-Studie vor versammelter Presse kommentierte. Und holte gleich danach zum Gegenschlag aus: „Als Reaktion auf Pisa hieß es in der Vergangenheit oft, alles sei schlecht, man müsse alles verändern. Dabei muss man einen viel differenzierteren Blick auf die Resultate werfen.“ Natürlich dürfe man Probleme nicht schönreden, so der Bildungsminister, nur bringe es nichts, „alles systematisch in Frage zu stellen“. Die schlechten Resultate seien darauf zurückzuführen, dass es in den luxemburgischen Schulen deutlich mehr Kinder mit Migrationshintergrund gibt als in anderen Ländern, auch die Mehrsprachigkeit werde nicht berücksichtigt. Er stelle sich außerdem die Frage, ob es wirklich notwendig sei, die Pisa-Studien wie bisher alle drei Jahre durchzuführen.

Es ist alle drei Jahre die gleiche Leier: Pisa nimmt keine Rücksicht auf die sprachliche und demografische Spezifität Luxemburgs, luxemburgische Kinder können als einzige die gestellten Fragen nicht in ihrer Muttersprache beantworten, und die OECD, von der die Pisa-Studie ausgeht, ist ohnehin eine neoliberale Organisation. Kaum waren die Resultate von 2015 bekannt, wütete in den Kommentarspalten der digitale Mob. Wenige Stunden später sprang Patrick Remakel vom Syndicat national des enseignants (SNE-CGFP) auf RTL in die Bresche, um das Luxemburger Schulsystem zu verteidigen. Und Claude Meisch, dessen „Diversifizierungs“-Agenda man durchaus als teilweise neoliberal orientiert bezeichnen könnte, ließ es sich bei der Pressekonferenz nicht nehmen, der Pisa-Studie ihre neoliberale Prägung vorzuwerfen.

Wenige Minuten zuvor war Tun Fischbach hart mit dem luxemburgischen Bildungssystem ins Gericht gegangen. Trotz aller teilweise berechtigten Kritik an Pisa ließen sich doch drei unbestreitbare Schlüsse aus 15 Jahren Pisa-Beteiligung ziehen, so der Bildungswissenschaftler. Nämlich: Luxemburg hat ein generelles Leistungsproblem, liegt das Land doch in allen Bereichen konstant unter dem OECD-Durchschnitt. Das nationale Schulsystem produziert systematisch sehr große Leistungsunterschiede zwischen Schülergruppen unterschiedlicher sozioökonomischer und kultureller Herkunft. Die Gesamtsituation ist über die letzten anderthalb Jahrzehnte verteilt trotz demografischen Wandels recht stabil geblieben, Entwicklungstrends sind, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht zu erkennen.

Versteckter Trend

Und doch gibt es diese Trends, wenn man dem Bildungswissenschaftler Glauben schenken darf. Der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund hat sich über die letzten Jahre nämlich stetig vergrößert, während das Gesamtresultat stabil geblieben ist. Zu erklären ist das laut Fischbach dadurch, dass bei den Leistungen der Schüler mit Migrationshintergrund ein leichter Aufwärtstrend zu verzeichnen ist, während das Niveau der einheimischen Schülerschaft sich im wesentlichen nicht geändert hat. „Offensichtlich gibt es Lehrer, die herausragende Arbeit leisten“, kommentierte Fischbach. Doch sei dies beileibe kein Grund, sich auszuruhen: für 2021 müsse man von einer Schülerschaft ausgehen, die sich zu zwei Dritteln aus Menschen mit Migrationshintergrund zusammensetzt.

Die Leistungsunterschiede zwischen Schülern mit und solchen ohne Migrationshintergrund sind nämlich trotz leichter Fortschritte immer noch beträchtlich. Dabei spielt der Migrationshintergrund an sich nur eine untergeordnete Rolle: eine viel größere kommt sozioökonomischen Faktoren zu, die oft mit den kulturellen einhergehen. Im Klartext: Schwer haben es im Luxemburger Schulsystem vor allem Kinder aus ärmeren Familien. Sind diese dazu auch noch ausländischer Herkunft, oder wird in ihnen keine der drei Landessprachen bei der Alltagskommunikation genutzt, verstärkt dies die Differenzen noch zusätzlich. Von einem Bildungsrückstand von anderthalb Jahren kann man bei Kindern mit Migrationshintergrund sprechen. Bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien beträgt der Bildungsrückstand sogar zwischen 2,4 und 2,7 Jahre.

„Wir haben es hier mit einer hochgradigen Bildungsungerechtigkeit zu tun“, kommentierte Tun Fischbach die Test-Ergebnisse zu den kulturell und sozioökonomisch bedingten Leistungsunterschieden. Diese habe in Luxemburg Tradition, so der Bildungswissenschaftler: Bereits bei der 1968 (und 2009 zum zweiten Mal) durchgeführten Magrip-Studie sei das Luxemburger Schulwesen als hochgradig ungerecht aufgefallen. Doch damals habe man dieses Resultat noch nicht durch den hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund erklären können. „Das System produziert und verstärkt systematisch Unterschiede“, so Fischbach.

Nicht alles schlecht?

„Wenn ein Schüler mit Migrationshintergrund anderthalb Jahre Bildungsrückstand aufweist, heißt das im Umkehrschluss auch, dass ein Schüler ohne Migrationshintergrund anderthalb Jahre Vorsprung hat.“ Mit diesem famosen Argument wehrte Claude Meisch die vorgebrachten Kritiken am Luxemburger Bildungswesen ab. „Das heißt für mich, dass durchaus nicht alles schlecht ist.“ Luxemburg verfüge über Schulen, die für einen Teil der Kinder gut funktionierten, „dann braucht es eben auch Schulen, die für den Rest funktionierten“, erklärte der Minister.

Die für Pisa in Luxemburg verantwortlichen Forscher zeigen eigentlich ganz konkrete Erklärungs- und Lösungsansätze für die Probleme auf. So heißt es im Pisa-Bericht unter anderem, das Luxemburger Schulsystem greife traditionell „exzessiv und vorzugsweise kombiniert auf zwei hochgenerische und deshalb verhältnismäßig ineffiziente Strategien zum Heterogenitätsmanagement zurück: Klassenwiederholungen und relativ frühe Leistungsgruppierungen in unterschiedlich anspruchsvolle Schulgruppen“. Beide Maßnahmen seien erwiesenermaßen dafür verantwortlich, dass die beobachteten Bildungsdisparitäten „sich zu der Größenordnung entwickeln konnten, wie wir es hierzulande beobachten“.

Weiterhin erklärt der Pisa-Bericht, der adäquatere Umgang mit der Heterogenität der luxemburgischen Schülerschaft bestehe darin, „die Sprachenpolitik und -Anforderungen grundlegend zu überdenken“ und mitunter die eine oder andere „historisch gewachsene Selbstverständlichkeit“ in Frage zu stellen. „Die Anforderungen im Sprachenbereich sind enorm“, so Tun Fischbach von der Universität Luxemburg. Nahezu perfekte Drei-, wenn nicht Viersprachigkeit werde von der Schülerschaft verlangt. „Diese Ansprüche sind unrealistisch. Wir lügen uns da in die eigene Tasche.“ Auch der Übergang von Deutsch zu Französisch als Unterrichtssprache in den Naturwissenschaften sei geradezu „unverständlich“. Die Sprachensituation grundsätzlich zu überdenken, heiße nicht, eine „Nivellierung nach unten“ anzuregen. Allgemein gelte es, „das Schulwesen endlich an die Schülerschaft anzupassen“ und nicht umgekehrt, so die Autoren des Berichts.

Zielt Meischs Diversifizierungs-Strategie zumindest vordergründig in Richtung der Anpassung des Schulwesens an die Schülerschaft, werden die mit Nachdruck angemahnten Veränderungen im Bezug auf die Klassenwiederholungen und die frühe Einteilung der Schülerschaft in verschiedene Schulformen weiterhin außen vor gelassen. Stattdessen kann einen die von Meisch geäußerte Idee, Schulen zu schaffen, die für die Kinder „funktionieren“, die im aktuellen Bildungswesen schlecht abschneiden, aufhorchen lassen: hieße das, dass es irgendwann Schulen für die einheimische, und andere für die migrantische Schülerschaft gäbe?

Man kann an den Pisa-Studien mit Sicherheit einiges kritisieren. Auf viele der Kritikpunkte gehen die Autoren selber im Bericht ein – und entkräften sie größtenteils. Dass das Luxemburger Schulsystem hochgradig ungerecht ist, bestätigen aber auch diverse andere Studien, vom nationalen Bildungs- bis zum Jugendbericht. Gerade in Anbetracht der Debatte um Bevölkerungswachstum wären mutige, ja auch radikale Reformen mehr denn je erforderlich. Die ersten Reaktionen auf den 2015er Pisa-Bericht geben leider nicht zur Zuversicht Anlass: Meisch, und mit ihm wohl einem Teil der Lehrerschaft, scheint es vor allem darum zu gehen, den status quo zu verteidigen.


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