Lange Zeit sah die öffentliche Erinnerungskultur nach Kriegsende über mehrere Menschengruppen hinweg. Das Musée national de la résistance et des droits humains in Esch gedenkt nun erstmals diesen vergessenen Opfern des National- sozialismus.
Es ist dunkel im unteren Raum. Die drei Namen, die in Schreibmaschinenschrift auf einem blauen Papierheft abgedruckt sind, sind im spärlichen Licht dennoch lesbar. Christine, Egon und Robert Georg Lehmann. Robert Georg war knapp zwei Jahre alt, als er gemeinsam mit seinem fünfjährigen Bruder Egon in einem Einzeltransport aus Luxemburg ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Die Mutter Christine Lehmann starb am 28. März 1944 im dortigen Häftlingskrankenhaus. Robert kam am 27. Juni um, von seinem Bruder fehlt die Spur.
Wie Christine Lehmann und ihren Kindern erging es vielen. Ihre Schicksale lagen lange Zeit im Verborgenen, teils weil die notwendigen Recherchearbeiten sehr aufwendig sind, doch auch wegen ihrer ‚Kategorisierung‘. Denn anders als die meisten Häftlinge, sind die drei weder jüdisch noch Widerstandskämpfer. Als unwürdig erklärten die Nationalsozialisten ihre Leben, weil die Sinti-Familie rassistisch als ‚Zigeuner‘ erfasst worden war.
Nach Kriegsende gedachten die ersten Monumente und Denkmäler Widerstandskämpfer*innen. Erst in den 1950er-Jahren begann dann die Aufarbeitung und das Gedenken an die sechs Millionen ermordeten Juden und Jüdinnen. Außer einzelner Ausstellungen erinnert sich die Öffentlichkeit im „Konkurrenzkampf“ der Erinnerungskultur jedoch bis heute nur wenig an sogenannte Randgruppen.
Deren Schicksalen bietet das frisch renovierte Escher Museum mit der Ausstellung „Vergessene Opfer des NS-Regimes in Luxemburg‟ erstmals einen (wenn auch temporären) Platz. Den dunkelgrau polierten Pflastersteinen folgend, gelangen Besucher*innen eine Treppe hinunter in einen kleinen Raum. Anhand von Schwarz-Weiß-Fotos, Archivtexten und Alltagsobjekten stellt das Museum das Ergebnis mehrerer jahrelanger Recherchen vor.
Denn die Ausstellung stützt sich größtenteils auf die Arbeit von fünf Historiker*innen, die in den letzten Jahren die Geschichten von Betroffenen aufgedeckt haben. Neben Sinti, Roma und jenischen Personen, halten die Experten sieben andere „vergessene“ Minderheiten fest: Personen schwarzer Hautfarbe; Personen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung; Zeug*innen Jehovas; Prostituierte und andere Menschen, die von den Nazis als „asozial“ kategorisiert wurden; als sogenannte „Berufsverbrecher“ klassifizierte Menschen; und Homosexuelle.
Wenngleich nicht neu
Die Ausstellung legt von vornherein fest: Die NS-Ideologie beruhte auf vermeintlicher Biologie, nicht Politik. Mithilfe der Rassenideologie, deren Ursprung im 18. Jahrhundert liegt, kategorisierten die Nationalsozialisten Menschen in verschiedene Gruppen. Das NS-Regime verneinte so das Individuum. Betroffen waren alle, die in den Augen der Nationalsozialisten nicht zur „Aufbesserung“ der kollektiven Volksgemeinschaft beitrugen.
Auch in Luxemburg, so erfahren Besucher*innen, fand die Ideologie der Rassenhygiene Anklang. Denn Minderheiten wie die Jenische ‒ die hierzulande als „Kiermesläit“ bekannt waren ‒ wurden schon seit Jahrhunderten diskriminiert und ausgegrenzt.
Mit der biologischen NS-Ideologie, die von Vereinen wie dem hiesigen für Volks- und Schulhygiene verbreitet wurde, verschärft sich die Lage ab 1933 jedoch zunehmend. Deutsche Gesetze und Institutionen, wie die 1899 gegründete und bis in die 1960er-Jahre weitergeführte „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, wurden ab der Besetzung im Mai 1940 auch in Luxemburg eingeführt.
Auf flimmernden Leinwänden bringen zwei gegensätzliche Propaganda-Filme die NS-Ideologie bildlich auf den Punkt: Während Luxemburger*innen für die Nationalsozialisten zur „guten, deutschen Rasse“ gehörten, waren religiöse, rassifizierte Minderheiten und Menschen aus ärmeren Sozialschichten den Nationalsozialist*innen ein Dorn im Auge, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Deutschsprachige Sinti, jenische und sichtbar behinderte Menschen wurden als „Schmarotzer“ und „biologische“ Gefahren dargestellt. Schwarze Menschen galten als „feindliche Staatsbürger“. Die für gewöhnlich pazifistischen Zeugen Jehovas und homosexuelle Menschen stellten dagegen durch ihre vermeintliche „Verhaltensstörung“ eine soziale Gefahr dar. Und als „asozial“ eingestufte Menschen, etwa Prostituierte oder Alkoholiker, galt es wegen vermeintlicher Erb- und Geschlechtskrankheiten „auszusäubern“. „Sie alle‟, fasste der Historiker Vincent Artuso im Rahmen eines Rundtischgesprächs über die Ausstellung zusammen, „waren für die Nationalsozialisten Probleme, die es zu lösen galt‟.
Die Schlinge zieht sich zu
Mithilfe akribisch erstellter Listen, Gesetzesentwürfen und Zeitungsartikeln, die hinter Glas und auf Wänden ausgestellt sind, stellt die informative, wenn auch textlastige Ausstellung dar, inwiefern das NS-Regime hiesige Bereiche für die Ausgrenzung und Deportation der Minderheiten miteinbezog. Ab 1933 kamen monatlich neue Verordnungen hinzu, immer mehr Gruppen gerieten ins Fadenkreuz der Nationalsozialist*innen. Übernahmen anfangs noch die Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes die Verfolgung, wurden nach und nach das Gesundheits-, Justiz- und Verwaltungssystem mit einbezogen.
Als 1940 Gauleiter Gustav Simon die Zivilverwaltung in Luxemburg übernahm, setzte er ein „Ehe- und Tauglichkeitszeugnis‟ durch. Ehen mit „Nichtdeutschen“ wurden verboten. Es folgten Arbeitsverluste, Festsitzungsbefehle, Zwangssterilisierungen, Zwangsschwangerschaftsabbrüche, Verfolgungen, Todesurteile und Deportationen.
Unter dem von den Nationalsozialisten verschärftem Paragraph 175 wurden etwa 30 homosexuelle Männer in Luxemburg verhaftet, drei von ihnen wurden in ein Konzentrationslager deportiert. Nach einem Reichserlass von Oktober 1942 wies die administrative Verwaltung von Luxemburg-Stadt eine schwarze Person aus. Jenische und Menschen mit einer Behinderung wurden zwangssterilisiert. 60 jenische Familien aus Luxemburg wurden ermordet. Die Sterberate in der Ettelbrücker Anstalt für Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung lag im Schnitt bei jährlich 12 Prozent. Zehn luxemburgische „Berufsverbrecher“ und eine Frau, die ihr Leben mit Prostitution verdiente, starben in den Konzentrationslagern.
Trotz des Titels der Ausstellung, liegen diese individuellen Geschichten nicht im Vordergrund. Stattdessen bilden große Plakate mit kontextualisierenden Beschreibungen und historischen Fakten den Hauptteil der Ausstellung. Ihr Beitrag zum öffentlichen Bewusstsein sowie ihr Archivwert ist dank der unzähligen Informationen unbestreitbar.
So nennt die Ausstellung neben der systematischen und bürokratischen Natur der Verfolgungen auch einzelne Nationalsozialisten und Kollaborateure, die aktiv an der Umsetzung der NS-Ziele arbeiteten, beim Namen. Beispielsweise hängt ein Schwarz-Weiß-Foto des Arztes Franz Demuth neben einer mit Pelz besetzten Robe des Juristen Adolf Raderschalls, der ab 1941 als Landgerichtsdirektor homosexuelle Menschen verurteilte.
Während die einzelnen Täter mitten im Raum und auf den Wänden ausgestellt werden, liegen die Geschichten der Betroffenen in farbigen Papierakten. Wer über individuelle Schicksale erfahren möchte, muss sich also die Zeit nehmen, durch dieses in Regalen ausgestellte Archiv zu blättern. Auch wenn dies zusammen mit den textlastigen Abbildungen den Besucher*innen das Kennenlernen der einzelnen Geschichten etwas erschwert: Entsprechend interaktiv und vor allem intim ist das Erfahren über das Leben der Betroffenen, die jede*r für sich entdeckt.
Nach dem Krieg erhalten die wenigsten der überlebenden Vergessenen eine Entschädigungszahlung. Zu groß sind noch die Tabus, verdeutlichen ausgestellte Video-Interviews mit Experten, die Diskriminierungen halten bis heute an. Eine genaue Gesamtzahl der „vergessenen Opfer“ aus Luxemburg gibt es keine, antwortete die Historikerin Kathrin Mees auf Nachfrage der woxx. Schätzungen zufolge lag die Anzahl der Betroffenen aus minderheitlichen Gruppen, die in Konzentrationslager interniert wurden, zwischen 15 und 20 Prozent.
Da das Bewusstsein für diese Opfergruppen heutzutage noch sehr begrenzt ist, sei die temporäre Ausstellung nur ein erster Schritt, so Mees. Als nächstes wollen die Historiker*innen die heutige Situation der Minderheiten beleuchten. Mit aktuellen Schicksalen wird sich das Museum demnach in einer künftigen Ausstellung befassen.
„Vergessene Opfer des NS-Regimes in Luxemburg“, Musée national de la résistance et des droits humains (Place de la Résistance, L-4041 Esch-sur-Alzette), Di. – So. 10 – 18 Uhr. Bis zum 23. Dezember.
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