Mecokonferenz: „Nicht nur eine Klimakrise, sondern eine Zivilisationskrise“

Am Mittwoch, dem 30. November, lädt der Mouvement écologique zu einem Vortrag von Fabian Scheidler ein. Die woxx unterhielt sich im Vorfeld mit dem mehrfach ausgezeichneten Publizisten, der in seinem jüngsten Buch darstellt, wie ein mechanistisches Weltbild uns in die ökologische Krise geführt hat, aber auch Perspektiven für einen gesellschaftlichen Umbau aufzeigt.

woxx: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass unsere Auffassung der Natur ein tödlicher Irrtum ist, der nicht erst in den letzten Jahrzehnten eingetreten ist, sondern eine lange Geschichte hat. Woran kann man den Anfang dieses Irrtums festmachen?


Fabian Scheidler: In der westlichen Moderne ist ab dem 17. Jahrhundert für das Naturverständnis eine Metapher ganz entscheidend geworden: die Idee, dass die Welt und die Natur eine Maschine sind. Diese Vorstellung wurde zum Inbegriff dessen, was man später das mechanistische Weltbild genannt hat. Dieses Weltbild hat sich gemeinsam entwickelt mit dem Kapitalismus, der in gewisser Weise auch eine Art Maschine ist, die dazu dient, aaus Geld immer mehr Geld zu machen. In genau der Zeit, als das mechanistische Weltbild entstand, wurden die ersten Aktiengesellschaften geschaffen, es entstand in Amsterdam die erste Wertpapierbörse der Welt. Die kapitalistische Ökonomie beruht darauf, die Natur in Waren zu verwandeln, und zwar in einem immer schnelleren Rhythmus. Dafür muss alles zum Objekt werden, zu einem Maschinenteil. Insofern hängt die Geschichte unseres maschinellen, mechanistischen Naturverständnisses sehr eng mit der Geschichte unsrerer Ökonomie zusammen.

Gab es denn damals keinerlei Infragestellung dieses Weltbildes?


Es gab in der Geschichte der Wissenschaften immer sehr unterschiedliche Auffassungen von der Natur. In der Renaissance gab es die Vorstellung, wie sie etwa Johannes Kepler, der Pionier der Astronomie, vertreten hat, dass die Erde eine anima mundi besitzt, eine Art Erdseele. Auch später gab es immer wieder erheblichen Widerstand gegen die Totalisierung des mechanistischen Weltbildes. Dieses Weltbild hatte sicherlich Erfolge vorzuweisen, etwa was das Verständnis der Bewegung der Planeten anbelangt. Aber schon Isaac Newton hat aus verschiedenen Gründen Zweifel angemeldet, ob es sich auf alle Bereiche der Natur anwenden lässt. Zum einen war für ihn klar, dass man das Leben nicht auf dieselbe Weise betrachten kann wie einen Haufen Steine. Zum anderen musste er feststellen, dass auch die unbelebte Natur nicht vollständig durch mechanische Stöße regiert wird. Die Gravitation, die er erforscht hat, wirkt ja durch den leeren Raum. Das war der erste Punkt, wo das mechanistische Weltbild in der Wissenschaft selbst zum Wanken gekommen ist. Die Mechanisten glaubten ja, die Welt bestehe aus lauter kleinen Billardkugeln, die sich stoßen, und jede Art von Kausalität sei nur auf diese Art von Billardkugeleffekten zurückzuführen. Das hat sich als Irrtum herausgestellt, bei der Gravitation aber auch bei den elektromagnetischen Kräften. Im 19. Jahrhundert wollte kein Physiker glauben, dass der Elektromagnetismus als berührungslose Fernwirkung durch den leeren Raum wirkt. Man hat daher den sogenannten Lichtäther erfunden. Alle Versuche, ihn nachzuweisen, sind allerdings gescheitert. Und letztendlich hat dann Einstein mit seiner Relativitätstheorie mit dem ganzen Wirrwarr aufgeräumt: „Es gibt im modernen physikalischen Weltbild“, schrieb er, „keinen Platz für zwei Dinge, Materie auf der einen Seite und Felder auf der anderen. Es gibt nur Felder.“ Die Quantenphysik ist dann noch wesentlich weiter gegangen und hat festgestellt, dass sich im Inneren der Atome keine festen kleinen Billardkugeln befinden, sondern rätselhafte Energiephänomene, die unsere Vorstellungen von Kausalität, Raum und Zeit komplett sprengen. Die Wissenschaft hat das mechanistische Weltbild daher in der Physik längst überwunden, nur hat sich das noch nicht überall herumgesprochen.

Bei Lebenden Organismen ist das Modell also erst recht nicht anwendbar? 


Was das Leben angeht, sieht die Sache eigentlich noch deutlicher aus. Das mechanistische Weltbild kann es aus zwei prinzipiellen Gründen nicht erklären: Der erste Grund ist, dass Leben sich der Vorhersagbarkeit entzieht. Der amerikanische Anthropologe Gregory Bateson hat es einmal so formuliert: „Wenn ich einen Stein trete, dann bewegt er sich mit der Energie, die ihm mein Tritt verpasst, und ich werde seine Bahn ungefähr berechnen können. Wenn ich aber einen Hund trete, bewegt er sich mit der Energie, die ihm sein Stoffwechsel zur Verfügung stellt, und ich werde nicht genau sagen können, was der Hund tun wird.“ Der zweite Grund ist, dass viele Lebewesen über etwas verfügen, was man Bewusstsein nennt. Ich benutze den Begriff „Innenwelten“, weil Ersteres suggeriert, dass es nur um das reflektierende Denken ginge. Es handelt sich aber um mehr: unsere primäre Wirklichkeit, die Tatsache, dass wir Gefühle haben, dass wir Farben sehen, dass die Welt aus Qualitäten für uns besteht. Das mechanistische Weltbild kann das nicht erklären. Das alles bedeutet, dass der Stoff, aus dem wir sind, höchst rätselhaft ist, sowohl was seine geistige als auch was seine materielle Seite angeht. Die Frage ist nun: Was bedeutet das für unser Naturverständnis? Und was bedeutet das für die ökologische Krise, die dieses historische System, der historische Kapitalismus, mitsamt seinem Naturverständnis produziert hat.

Die kapitalistische Ökonomie beruht darauf, die Natur in Waren zu verwandeln.

Wie kann man belegen, dass das Wirtschaftssystem diesem Naturverständnis entspringt?


Unsere Wirtschaft beruht darauf, dass unsere Natur als Ressource betrachtet wird, die man beliebig zerteilen und zerlegen kann. Konkret heißt das, dass man Mineralien in Chile oder im Kongo aus der Erde reißen und sie irgendwo anders zu Smartphones zusammenbauen kann, um das Ganze dann irgendwann wieder wegzuwerfen, ohne in größere Schwierigkeiten zu kommen. Das betrifft alle Teile der Natur, auch die Menschen selbst sind zum Objekt geworden in diesem Wirtschaftssystem. Sie müssen jederzeit verfügbar sein. Der moderne Arbeitsmarkt ist ein Beispiel dafür. Er wurde in den letzten 400 Jahren mit Gewalt durchgesetzt. Der Begriff des Leiharbeiters symbolisiert das: Der Mensch kann als Objekt ausgeliehen werden, aus seiner Gemeinschaft herausgerissen werden. Er wird irgendwo eingesetzt und wenn die Fabrik ihn nicht mehr braucht, schmeißt sie ihn raus. Wir brauchen sowohl ein anderes Wirtschaftssystem als auch ein anderes Naturverständnis, das auf Kooperation mit komplexen lebenden Systemen beruht und nicht auf der Idee, dass wir diese Systeme beherrschen, zerlegen und neu zusammenbauen können.

Fabian Scheidler, Jahrgang 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie in Frankfurt am Main. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor. 2009 war er Mitbegründer des unabhängigen Fernsehmagazins Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit und Ökologie produziert. Für seine publizistische Tätigkeit bei Attac bekam er den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. 
2015 kam Fabian Scheidlers Buch „Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ im Promedia Verlag (Wien) heraus, das von der Robert-Junk-Zukunftsbibliothek im gleichen Jahr in die Top Ten der Zukunftsliteratur gewählt und mehrfach übersetzt wurde. Sein jüngstes Buch „Der Stoff, aus dem wir sind – Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“, erschien im Frühjahr 2021 im Piper Verlag (München). (Foto: © Privat/Piper Verlag
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Aber das System an sich funktioniert: Man kann Handys bauen aus diesen Grundelementen, warum aber werden die Effekte nicht erkannt?


Ein gutes Beispiel ist die Landwirtschaft. Wenn man nur ein einziges Ziel hat, nämlich die Erträge und damit die Profite von den großen Agrarunternehmen zu maximieren, dann wird man möglichst viele Pestizide und Hochertragssorten einsetzen. So kann man in kurzer Frist die Erträge maximieren. Das funktioniert. Aber auf lange Sicht zerstört man auf diese Weise die Mikro-organismen im Boden, die Insekten, in der Folge auch die Vögel. Dann verlieren die Böden die Fähigkeit, sich zu regenerieren. Die Nahrungskette bricht zusammen, die Biodiversität wird zerstört. Wir sind inzwischen an einem Punkt, wo die Landwirtschaft sowohl durch das Klimachaos als auch durch den Rückgang der Biodiversität existenziell gefährdet ist. EU-Klimakommissar Timmermans hat neulich erklärt, dass in 15 Jahren die Landwirtschaft in der EU zusammenbrechen könnte, wenn wir so weitermachen und die Pestizide nicht radikal zurückfahren.

Das Thema „loss and damage“ hat ja gerade hohe Aktualität. Gibt es noch eine Möglichkeit, die Apokalypse zu vermeiden?


Die Wissenschaft hat in den letzten zehn Jahren immer wieder neue schlechte Nachrichten hervorgebracht, vor allem dazu, dass es Kipppunkte im Erdsystem gibt. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung hat 16 Kipppunkte im Klimasystem identifiziert. Bei fünf stehen wir kurz davor, sie zu überschreiten. Vielleicht haben wir manche sogar schon überschritten – das lässt sich nicht genau sagen. Sie hängen möglicherweise auch zusammen: Wenn wir einen überschreiten, wie das Abschmelzen der Eisfelder in der Westantarktis oder der Zusammenbruch des Amazonas-Regenwaldes, triggert das andere Kipppunkte. Auch das Klimasystem ist ein nichtlineares System, das an bestimmten Punkten von einem Zustand in den anderen kippt. Die Klimawissenschaft nennt diesen neuen Zustand das „Hothouse Earth“. Es würde einen Temperaturzuwachs von vier bis fünf Grad im Mittel bedeuten. In manchen Regionen wären es sogar acht Grad. Ganze Regionen Afrikas, des Mittleren Ostens und Südasiens würden unbewohnbar werden. Auch bei den Eismassen haben wir möglicherweise schon Kippunkte erreicht, wie in der Westantarktis oder Grönland. Schmelzen sie komplett ab, würde das einen Anstieg des Meeresspiegels um 10 bis 14 Meter bedeuten. Die Metropolen in den Küstenregionen würden so verschwinden, von New York über Mumbai bis Shanghai. Man macht sich meist falsche Vorstellungen davon, wie Meeresspiegelanstieg funktioniert. Bei einem Anstieg um nur 50 Zentimeter bis einen Meter wäre eine Stadt wie New York wahrscheinlich nicht mehr zu retten. Sturmfluten, wie Hurrican Sandy, der vor einigen Jahren New York unter Wasser gesetzt hat, würden dann nicht mehr alle 50 oder 100 Jahre auftreten, sondern alle zwei bis drei und damit die Infrastrukturen zerstören. Wir stecken nicht nur in einer Klimakrise, sondern in einer Zivilisationskrise. Und wir befinden uns bereits in einer chaotischen Übergangsphase zu etwas Unbekanntem, das wir trotzdem noch teilweise gestalten können. Soziale und ökologische Bewegungen können in diesem Übergang noch einen riesigen Unterschied machen. In jedem Fall werden wir nicht um eine tiefgreifende Umgestaltung sowohl der Geografie dieses Planeten als auch der Ökonomien herumkommen. Die Frage ist nur, wie sie aussieht.

Jedes Zehntelgrad Erwärmung, das wir verhindern können, ist es wert, dafür zu kämpfen.

Bleibt noch Raum zum Handeln?


Jedes Zehntelgrad Erwärmung, das wir verhindern können, ist es wert, dafür zu kämpfen. Es entscheidet über Leben und Tod von vielen Millionen Menschen. Deshalb unterstütze ich auch die Aktionen von „Letzte Generation“, „Scientist Rebellion“ und vielen anderen, die sich in den Weg stellen und dafür kämpfen, dass in diesem entscheidenden Jahrzehnt die Weichen anders gestellt werden. Wenn wir jetzt schnell und umfangreich dekarbonisieren, können wir die Chancen, weiter in einer menschenwürdigen Welt zu leben, massiv erhöhen. Wir haben eine enorme Verantwortung und ich denke, dass wir tatsächlich einen Aufstand gegen den Kollaps brauchen.

Die Corona-Lockdowns haben zu einem Rückgang der Treibhausgase geführt. Die Methode war fragwürdig, aber lassen sich dennoch Lehren aus der Pandemie ziehen?


Sie hat gezeigt, dass der Staat massiv in die Wirtschaft eingreifen kann, wenn tatsächlich Gefahr im Verzug ist. Nun sind die Klima- und die Biodiversitätskrise eine Gefahr, die um viele Größenordnungen massiver ist. Es handelt sich hier um eine existenzielle Krise des Planeten – das ist Corona zu keinem Zeitpunkt gewesen. Man hat es also mit einem seltsamen Kontrast zu tun. Beim Coronavirus gab es massive Eingriffe, die sehr schnell durchgesetzt wurden und von der Bevölkerung auch zu großen Teilen mitgetragen wurden. Bei der Klimakrise wird aber immer wieder gesagt, man dürfe die Leute nicht einschränken. Eine absurde öffentliche Dissonanz. Der zweite Punkt ist, dass man zur Lösung der Klimakrise keineswegs so destruktive Eingriffe vornehmen muss wie Lockdowns, die die sozialen Beziehungen der Menschen schwer beschädigt haben. Im Gegenteil: Dieser Umbau lässt sich tatsächlich mit mehr Lebensqualität im Sinne von besseren sozialen Beziehungen verbinden. Wir brauchen eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum und der Logik der Kapitalakkumulation. Das kann man aber nur dann machen, wenn man gesellschaftliches Einkommen, Vermögen und Arbeitszeiten radikal umverteilt. Man muss das Geld bei den Milliardären abschöpfen – auch bei denen, die von der Coronakrise enorm viel profitiert haben. Die zehn reichsten Menschen haben ihr Vermögen in dieser Zeit verdoppelt. In der jetzigen Ukraine-Krise bereichern sich ja auch wieder die oberen zehn Prozent. Wir müssen das Geld von dort nehmen und in einen Umbau investieren, der die gemeinwohlorientierten Sektoren fördert. Das ist die Kultur, das ist Bildung, das ist ein egalitäres Gesundheitswesen und vieles mehr. Es gibt viele Beispiele wie etwa das umfassende Green-New-Deal-Programm, das Noam Chomsky und Robert Pollin vorschlagen. Das würde 4,5 Billionen Dollar pro Jahr kosten, knapp fünf Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Wichtig ist, dass wir die zerstörerischen Branchen, also den Flugverkehr, die Autoindustrie, die industrielle Landwirtschaft, das Militär sehr schnell schrumpfen lassen und in die gemeinwohlorientierten Bereiche investieren. Ein wichtiger Hebel dabei sind Subventionen. Die zerstörerischsten Branchen der Erde werden noch immer am höchsten subventioniert. Der Internationale Währungsfonds hat errechnet, dass unsere Regierungen die fossilen Energien mit 5.900 Milliarden Dollar jedes Jahr subventionieren. Diese Gelder gilt es in andere Formen des Wirtschaftens zu kanalisieren, in sinnvolle öffentliche Dienste und in Unternehmen, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind, nicht der Logik von Profit und Akkumulation. Letztlich geht es darum, die Struktur der Kapitalgesellschaften zu überwinden, dieser Maschinen, die immer weiterwachsen müssen, um die Aktionäre reicher zu machen. Das hat in einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft auf einem begrenzten Planeten keinen Platz. Diese Konstruktionen sind von Menschen geschaffen worden und sie können von ihnen auch wieder geändert werden.

Der deutschsprachige Vortag von Fabian Scheidler „Firwat a wéi mir d’Natur an d’Gesellschaft nei denke mussen“ findet am Mittwoch, dem 30. November 2022 um 20 Uhr im Oekozenter Pafendall (6, rue Vauban, Luxemburg) statt. Eine Übersetzung ins Französische ist gewährleistet. Im Anschluss lädt der Mouvement écologique zu einem Umtrunk ein.

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