Nachtzug nach Lissabon (1)

Per Bahn in die portugiesische Hauptstadt – das hat einen ganz besonderen Charme. Eine sommerliche Mini-Serie über den Weg und das Ziel.

In Pascal Merciers Beststeller-Roman von 2004 reist der Held der Geschichte, ein alternder Schweizer Oberschullehrer auf der Suche nach einem portugiesischen Philosophen, mit dem Zug von Paris über Irún nach Lissabon, eine damals schon anachronistisch anmutende Reiseform. [1] Doch 14 Jahre später verkehrt der “Nachtzug nach Lissabon” weiterhin. Es ist einer der letzten Nachtzüge von West- nach Südeuropa, nachdem die italienische Verbindung abgeschafft wurde, und er bedient sowohl Spanien als Portugal. Von Luxemburg nach Lissabon benötigen Reisende einen ganzen Tag – und die Bereitschaft, lange Zugfahrten zu genießen.

Um mir die Hinfahrt zu versüßen, reise ich zunächst nur bis San Sebastián. Paris ist schnell durchquert, und der TGV von Montparnasse nach Hendaye erreicht sein Ziel ohne Zwischenfall. In Hendaye, das wissen die meisten Zugreisenden, muss der Zug gewechselt werden, weil die Gleise in den beiden Ländern unterschiedliche Breiten haben. Ich aber nehme dort den Euskotren nach San Sebastian, eine Art S-Bahn, die von Hendaye aus die spanische Küste bedient.

San Sebastián ist eine Stadt, in der sich urbane Genüsse mit Badefreuden leicht verbinden lassen. Vom bunten Treiben in den Geschäftsmeilen und der riesigen Fußgängerzone, in denen sich die unzähligen Boutiquen aneinanderreihen – nur unterbrochen von Kneipen und Konditoreien – sind es nicht mehr als ein paar Schritte bis zum gelben Strand der schönen Bucht. Der Frühabend versinkt allerdings im Regen, was jedoch einige Mitglieder des nautischen Clubs nicht vom Baden abhält. Einsame, durchtrainierte Gestalten tauchen aus dem Nass des Meeres auf und hinein ins Nass des Regens, erklimmen den langen Steg bis zum Clubgebäude, ein schöner modernistischer Bau aus den 1920er-Jahren. Wir anderen sitzen ein Stockwerk höher im Trockenen, genießen bei einem Glas Wein in der Bar die Architektur des Baus und den Blick auf die Abenddämmerung, die über der Bucht hereinbricht.

Am nächsten Tag hat der Himmel aufgeklart, der Strand ist noch nicht zu voll, und mit Badezeug und Roman bewaffnet, lasse ich mich inmitten der anderen Urlauber*innen nieder. Für ein paar Stunden ist Nichtstun angesagt: Mit den Füßen im warmen Sand versinken, mit geschlossenen Augen den Sand unter den Fingern spüren, die Hitze der Sonne auf der Haut,  Plantschen in den klaren Wellen. Und das alles vor dem wunderschönen Hintergrund einer historischen Strandpromenade.

Nach einem nachmittäglichen Spaziergang durch die hügelige Stadt heißt es, die Fahrt fortzusetzen. Es ist noch hell, als der Nachtzug den Bahnhof von San Sebastián verlässt. Proviant besorgen war vorher nicht notwendig, denn der Zug verfügt über den Luxus eines Speisewagens. Dorthin strebe ich nun, um noch einen Essplatz an der Theke zu ergattern. Beim Bacalhau „à Lagareiro“ mit Kartoffeln und Oliven und dem ersten Glas portugiesischen Weißweins schaue ich den betriebsamen Kellnern beim Servieren zu, helfe einer deutschen Dame mit 50 Cent aus und komme mit zwei jungen Backpackerinnen ins Gespräch. So entspannend kann Zugfahren sein…

Schlafen in den zwar renovierten, aber dennoch alten Liegewagen ist allerdings weniger angenehm. Das Rütteln und Schaukeln hält den müden Körper davon ab, in den Schlaf zu versinken. In Medina del Campo wird der Zug mit viel Gerassel geteilt, eine Hälfte fährt weiter nach Madrid, wir peilen dagegen den Norden Portugals an. In Vilar Formoso, dem Grenzort zwischen Spanien und Portugal, hält der Zug lange. Ich denke an den Luxemburger Zug, der hier vor 78 Jahren tagelang stand, beladen mit meist jüdischen Flüchtlingen, die ihre ganze Hoffnung, den Nazis zu entkommen, auf die Reise nach Portugal gesetzt hatten. Anders als bei den Transporten davor musste er schließlich wieder nach Frankreich zurückkehren, weil das Salazar-Regime sich querstellte. [2]

Mein Zug fährt lange durch einsame Nachtlandschaften nach Süden, nähert sich dabei immer mehr der Küste, um schließlich im ersten Morgenlicht in Lissabons Vorstädten einzufahren. Der schöne alte Endbahnhof Santa Apolónia ist für die Reisenden die Pforte zur Stadt: Links liegen die Hügel des populären Viertels Alfama, rechts der Fluss Tejo, der hier in einer breiten Bucht ins Meer mündet, überquert von der berühmten „Ponte 25 de Abril“, die einmal Salazar-Brücke hieß.

In Alfama herrscht noch frühsonntägliche Stille. Nur einige Reisende stolpern auf der Suche nach ihrer Mietwohnung über das Lissaboner Marmorpflaster, in der einen Hand den Griff des Koffers, der ratternd hinterherholpert, in der anderen das Handy mit Google Maps, und verlieren sich wie ich in den „Largos“ „Traversos“ und „Bicas“ der Lissaboner Altstadt. Ich nehme mir vor, morgen einen Stadtplan zu erstehen.

(Fortsetzung folgt)

[1] Mercier, Pascal (Bieri, Peter): Nachtzug nach Lissabon : Roman. München: C. Hanser, 2004.
[2] Flunser Pimentel, Irene  / De Magalhāes Ramalho, Margarida: O Comboio do Luxemburgo : Os refugiados judeus que Portugal nāo salvou em 1940. Lisboa: Esfera dos Livros, 2016.

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