Neon Genesis Evangelion: Kampfroboter und Identitätskrisen

Der Anime Neon Genesis Evangelion ist nun auf Netflix verfügbar. Was den japanischen Zeichentrick zum Klassiker macht und wieso man ihn gesehen haben sollte.

Einer der Kampfroboter, die in der Kultserie Neon Genesis Evangelion eine große Rolle spielen – zumindest solange, bis die Psyche der Hauptcharaktere wichtiger wird. Ab Freitag ist die Serie auf Netflix verfügbar. (Foto: Netflix/Gainax)

Ein gigantisches Monster steigt aus dem Meer und bewegt sich von der japanischen Küste in Richtung Tokio. Die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte versuchen mit allen militärischen Mitteln, es zu besiegen, doch sie sind nicht erfolgreich. Selbst der Einsatz der stärksten konventionellen Bombe stoppt den Riesen nur für wenige Stunden, bis er seinen Zerstörungsfeldzug fortsetzt. Die Stunde der Geheimorganisation Nerv hat geschlagen, sie darf endlich ihre Geheimwaffe einsetzen. Es handelt sich um riesige Kampfroboter, die von Jugendlichen gesteuert werden und gegen Monster kämpfen, die von Nerv als Engel bezeichnet werden.

Das ist die Ausgangssituation, mit der die japanische Animationsserie (Anime genannt) Neon Genesis Evangelion 1995 die Zuschauer*innen konfrontierte. Der Name, der soviel wie bedeutet wie „die frohe Botschaft eines neuen Anfangs“, ist nur eins von vielen religiösen Symbolen, die in der Serie eingesetzt und meistens mit vielschichtigen Bedeutungen verbunden werden.

Ab Freitag, dem 21. Juni, sind die Serie und die dazugehörigen Kinofilme international auf Netflix verfügbar – davor mussten Fans auf DVD-Veröffentlichungen zurückgreifen. Vor einem Jahrzehnt erschien zwar sogar eine deutsche Synchronisation, die DVDs sind in den letzten Jahren jedoch kaum noch erhältlich gewesen. Die „Platinum-Box“, in der alle Folgen vereint sind, kostet bei einem großen Versandhändler rund 800 Euro. Nun ist die Serie also auch wieder für ein großes Publikum verfügbar – aber warum wird sie als eine der besten des Genres bezeichnet und warum sollte man sich eine Serie anschauen, in der Roboter gegen Monster kämpfen?

Gigantische Maschinen, die gegen eben so große Monster kämpfen – vor allem in Japan kein unbekanntes Motiv und nichts, was auf die psychologische und philosophische Tiefe von dem hindeuten würde, was in den insgesamt 26 Episoden auf das eher jüngere Fernsehpublikum zukommt. Wer den Erfolg und die Anziehung von Evangelion erklären will, muss die banal klingende Ausgangssituation erläutern, was mitunter dazu führt, dass das Interesse schnell wieder schwindet.

So klassisch der Beginn der Serie mit dem ewigen Kampf Gut gegen Böse auch sein mag, so unerwartet ist der weitere Verlauf und insbesondere das Ende von Evangelion. Religiöse Symbole, poststrukturalistische Philosophie und Elemente der freudianischen Psychoanalyse durchziehen die Serie, die sich am Ende mehr mit den inneren Kämpfen ihrer Charaktere beschäftigt als mit der äußeren Handlung. Die ungewohnte Erzählstruktur und die eingehende Beschäftigung mit der Psyche der Hauptcharaktere gehören zu den Gründen, warum Neon Genesis Evangelion zuerst in Japan und später weltweit Kultstatus erreichte.

Apokalypse und Psychoanalyse

Die Handlung spielt im Jahr 2015 – aus der Sicht von 1995 also in der Zukunft – in einer postapokalyptischen Welt. Im September 2001 hat ein Meteoriteneinschlag nahe dem Südpol die Hälfte der Menschheit ausgelöscht. Ein verändertes Klima und überflutete Ruinen ehemaliger Städte sind auch 14 Jahre später noch sichtbare Überbleibsel dieser Katastrophe. Innerhalb der Serie wird dieses Desaster „Second Impact“ genannt wird – der erste Einschlag war jener, der die Dinosaurier vor 65 Millionen Jahre von der Erde tilgte.

Gleich in der ersten Episode wird klar, dass diese Darstellung nicht ganz der Wahrheit entspricht und das Auftauchen des Engels etwas mit dem wahren Grund des „Second Impacts“ zu tun hat. Die Geheimorganisation Nerv hat immerhin jahrelang mit UN-Mandat im Untergrund an ihren Kampfrobotern namens „Evangelion“ (kurz EVAs) gearbeitet, um sie als Ass gegen das scheinbar aus dem Nichts auftauchende Monster einzusetzen. Die Mitgliedern der Organisation bezeichnen die Monster als Engel – „Shito“ im japanischen Original, was so viel wie „Apostel“ oder „Gesandter“ heißt. Wenn im Original, zum Beispiel für Zwischentitel, englische Begriffe benutzt werden, wird jedoch auch „Angel“ verwendet.

Und als wäre es nicht schon merkwürdig genug, dass Nerv seit dem angeblichen Meteoriteneinschlag an einer übermächtigen Waffe bastelt und den Angriff des Engels erwartet, müssen auch noch Kinder diese Waffe steuern. Der Halbwaise Shinji ist einer dieser Auserwählten und trifft im Nerv-Hauptquartier zum ersten Mal seit langer Zeit wieder auf seinen Vater, den Leiter der Organisation. Der Junge ist wenig begeistert von der Idee, der Retter Neo-Tokios (und der ganzen Welt) zu sein und wird wider Willen zum Held.

Er ist nämlich – aus Gründen, die erst später in der Serie offenbart werden – einer der einzigen Menschen, der einen EVA steuern kann. Dazu muss er, in einer Flüssigkeit schwimmend, seine Gedanken mit der Maschine verschmelzen. Obwohl diese Technik in späteren Folgen auch für einige Lacher genutzt wird, wird dies gemeinhin als Metapher für die freud‘sche Regression, als Wunsch nach der Rückkehr in den Uterus gedeutet.

Die Widersacher in Neon Genesis Evangelion heißen Engel und nehmen mitunter merkwürdige Formen an, wie Ramiel, der als schwebende Doppelpyramide daher kommt. (Foto: Gainax)

Philosophische Kampfroboter

Neben Shinji sind die mysteriöse und schweigsame Rei und die laute und selbstbewusste Asuka die Pilot*innen der EVAs, die in der Serie gegen die Engel kämpfen, die in verschiedenster Form erscheinen und immer bedrohlicher werden. Sind sie am Anfang der Serie noch klassische Monster mit Tentakeln und tierischen Formen, so wandelt sich ihr Erscheinungsbild recht schnell: Von der schwebenden Doppelpyramide über ein Computervirus bis hin zur menschlichen Gestalt. Das Gleiche gilt für ihre Taktiken. Je weiter die Serie fortschreitet, umso mehr versuchen die Engel, die Psyche der EVA-Pilot*innen anzugreifen, um diese zu destabilisieren.

Dies zeigt sich auch im Ton der Serie: Zwar ist Protagonist Shinji bereits von Anfang an nicht besonders glücklich mit seiner Lage, die Stimmung ist dennoch optimistisch. Er zieht mit seiner Vorgesetzten Misato und der EVA-Pilotin Asuka in eine Wohngemeinschaft, in der auch ein Pinguin lebt (im Kühlschrank). Seine Klassenkamerad*innen bewundern ihn ob seines „Nebenjobs“, sogar sein entfremdeter Vater lobt ihn nach einem Einsatz.

Doch die Situation wandelt sich schnell. Die zahlreichen Angriffe der Engel auf Neo-Tokio sorgen dafür, dass die meisten Einwohner*innen die Stadt verlassen, die ständigen Kämpfe mit den Monstern sorgen für psychologische Wunden. Immer wieder wird Arthur Schopenhauers Stachelschwein-Parabel herangezogen, um den Konflikt zwischen dem Sehnen nach Nähe und der Angst vor Zurückweisung, den die Charaktere in der Serie durchleben, zu illustrieren.

Alle drei Pilot*innen – und auch viele der Nebencharaktere – kämpfen mit der trostlosen Situation und müssen sich die Frage stellen, welchem Zweck ihre Tätigkeit eigentlich dient. Denn es wird immer klarer, dass Nerv keine edle Weltrettungsorganisation ist, sondern im Hintergrund dunkle Machenschaften betreibt.

Das „Seele“-Komitee (sowohl Nerv als auch Seele haben im japanischen Original diese deutschen Namen), das die Geschicke von Nerv leitet, will zwar die Engel bekämpfen, verfolgt selbst jedoch einen eher apokalyptischen Plan, das „Human Instrumentality Project“. Der Begriff lehnt sich an den Science Fiction-Autor Cordwainer Smith an, in dessen Werk die „Instrumentality of Mankind“ die Regierung der Menschheit beschreibt.

Budgetprobleme als Stilmittel

Seele plant jedoch, die Menschheit in einen vermeintlichen Urzustand zurückzuführen, in dem es keine Grenzen zwischen ihren Körpern und Seelen mehr gibt. Shinjis Vater Gendo, selbst Teil von Seele, will eine eigene Version des „Human Instrumentality Projects“ durchführen und schreckt nicht davor zurück, ihm nicht genehme Personen innerhalb Nervs umbringen zu lassen. Die EVAs sind integraler Bestandteil beider Pläne.

Gegen Ende der Serie sieht die Situation düster aus: Asuka ist durch die Kontaktaufnahme eines Engels psychisch so labil, dass sie nicht weiter kämpfen kann. Rei scheint nach der Explosion ihres EVAs zwar seltsamerweise unverletzt, jedoch ohne Kampfroboter und somit ohne Aufgabe. Shinji fühlt sich ohne die beiden und den Großteil seiner Klassenkamerad*innen komplett alleine gelassen. Die Serie präsentiert somit einen Höhepunkt, aber kein wirkliches Ende.

Die beiden letzten Episoden zeigen keine äußere Handlung mehr, sondern lediglich das Innenleben und die Psyche Shinjis, während das „Human Instrumentality Project“ zu Ende geführt wird. Wie schon in einigen Szenen davor psychoanalysieren sich die Charaktere selbst, indem sie mit alternativen Versionen ihres Ichs reden. Insbesondere Shinijs Wunsch nach Anerkennung und seine Verlustängste werden hierbei thematisiert. Die tiefe Auseinandersetzung mit Identität, Verlust und der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz reflektiert die klinische Depression des Regisseurs Hideaki Anno. Hinzu kamen Budgetprobleme, die dafür sorgten, dass für diese Folgen auf minimalistische Animationstechnik gesetzt wurde.

Ein Phänomen, das in Evangelion öfters vorkommt: Eine äußerst angespannte Szene zwischen Rei und Asuka zeigt beide Figuren schweigend bei einer minutenlangen Fahrt mit einem Aufzug, ohne dass viel animiert wurde. Das knappe Budget wurde vom Produktionsstudio Gainax einfach zur Tugend gemacht. Während dies bei einigen Szenen auf Begeisterung stieß, war das Ende der Serie in Japan quasi ein nationaler Skandal. Anno erhielt im Anschluss sogar Morddrohungen.

Bild: Netflix/Gainax

Ständige Neuinterpretation

Schlussendlich entschied man sich dazu, zwei Kinofilme zu produzieren, in denen das Ende neu erzählt wird. Während „Death and Rebirth“ eine Zusammenfassung der Serie – mit einigen bisher unveröffentlichten Szenen – zeigte, wurde mit „End of Evangelion“ ein visuell beeindruckendes Ende auf die Leinwand gebracht. Ob das mit seiner doch sehr metaphorischen Bildsprache und abermals vielen introspektiven Sequenzen allerdings alle Fans befriedigte, sei dahingestellt.

„End of Evangelion“ ist jedoch nicht die einzige Neuinterpretation: Auch die Geschichte, die in einer Manga-Adaptation in Papierform erzählt wurde, unterscheidet sich deutlich von der Serie. 2007 erschien der erste Teil einer weiteren, vierteiligen „Rebuild of Evangelion“-Filmserie, die abermals eine alternative Variante erzählt und erst 2020 abgeschlossen werden soll.

Auch daran zeigt sich, dass Evangelion ein „offenes Werk“ im Sinne des italienischen Medienwissenschaftlers Umberto Eco ist, das keine klaren Grenzen aufweist und vielfältig interpretiert werden kann. Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ benutzte übrigens wie Evangelion sehr stark Symbole der jüdischen mystischen Tradition der Kabbala, insbesondere der „Lebensbaum“ kommt in beiden Werken prominent vor.

Die Philosoph*innen Alba Torrents und Andreu Ballús beschrieben in einem wissenschaftlichen Fachartikel den Aufbau und die Wirkung von Evangelion als eng verknüpft mit poststrukturalistischen Ideen. Die Serie habe das „Mecha“-Genre, in dem Kampfroboter eine große Rolle spielen, dekonstruiert, indem sie mit gängigen Konventionen gebrochen hat.

Neben dem Poststrukturalismus und Schopenhauers Pessimismus beschäftigt sich Evangelion immer wieder mit den existenzialistischen Ideen Søren Kierkegaards und Jean-Paul Sartres – wohlgemerkt passiert dies alles, während 20-stöckige Kampfroboter gegen Monster kämpfen. Die Energiefelder, die sowohl Engel als auch EVAs vor Angriffen schützen, stellen sich im Laufe der Serie als ihre „Seelen“ heraus – und es sind genau diese „Barrieren zwischen den Menschen“, also die menschliche Individualität, die das Seele-Komitee auflösen will, was sowohl auf philosophische als auch auf mystische Ansätze Bezug nimmt.

Kierkegaard, Schopenhauer 
und ein Pinguin

Doch es ist nicht nur der philosophische und psychologische Unterbau, der Evangelion zu einer sehenswerten Serie macht. Sie wartet auch mit vielen starken Frauenfiguren auf. Shinjis Vorgesetzte Misato wird zwar als chaotisch und unordentlich dargestellt, ist in ihrem Job als militärische Führerin jedoch sehr kompetent und unerschrocken.

Die Wissenschaftlerin Ritsuko Akagi hat nicht nur die EVA-Kampfroboter mitentwickelt, sondern rettet in einer Folge auch eigenhändig Nervs kybernetisches Computersystem vor einem Engel, der als Virus auftritt. Unter ihr arbeitet unter anderem Maya Ibuki, deren homosexuelle Zuneigung zu Ritsuko in einer Szene kurz angedeutet wird. Dieses positive Frauenbild steht jedoch im Kontrast zu den oft sehr sexualisierten Darstellungen mancher Frauenfiguren.

Es lohnt sich, über den ersten Eindruck des eher banalen Settings von Neon Genesis Evangelion hinwegzublicken und der Serie eine Chance zu geben. Sie offenbart nämlich nicht nur einen tiefen Einblick in die Seele ihres Schöpfers, sondern bietet auch ein Eintrittstor für die Beschäftigung mit einer Vielzahl von philosophischen Themen und stellt existenzielle Fragen. Außerdem gibt es einen äußerst süßen Pinguin.


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