In ihrem neuen Roman „Dunkelblum“ untersucht Eva Menasse das kollektive Schweigen in Österreich über die während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen.
„In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt.“ Mit diesen Worten beginnt der Roman „Dunkelblum“. Das gleichnamige Dorf in Österreich ist zwar fiktiv, doch wer selbst auf dem Land aufgewachsen ist, wird bestätigen: Unter Dorfbewohnern ist die soziale Kontrolle besonders ausgeprägt.
Dabei klingt von außen zunächst alles so verheißungsvoll. Sehnsucht nach frischer Landluft, Wäldern, Feldern und Seen – gerade in Zeiten von Corona scheint viele Städter eine Sehnsucht nach dem Landleben befallen zu haben. Dessen Nachteile werden dabei häufig übersehen. Der Soziologe Samuel Salzborn hält die dörflichen Strukturen hingegen geradezu für repressiv. Im Interview mit dem Kulturmagazin „Monopol“ sagt er: „Man ist – gar nicht unbedingt bewusst – in ein enges Netz nachbarschaftlicher Kontrolle und Überwachung eingebunden.“
Ein solches enges Netz veranschaulicht auch die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem neuen Roman: „Die Vorhänge im Ort bewegen sich wie von leisem Atem getrieben, ein und aus, lebensnotwendig. Jedes Mal, wenn Gott von oben in diese Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter ihren Vorhängen stehen und hinausspähen. (…) Man wünscht Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.“
Die Autorin spielt dabei allerdings nicht nur auf das übliche Maß an dörflicher Missgunst und Gemeinheit an. Es ist das Massaker von Rechnitz im österreichischen Burgenland, das für das von ihr beschriebene Szenario Pate steht. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war dort in dem unweit zur ungarischen Grenze gelegenen Schloss der Thyssen-Erbin Gräfin Margareta von Batthyány die Bauabschnittsleitung für den Südostwall untergebracht, den die Wehrmacht Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die anrückende Rote Armee errichten ließ.
Aus Ungarn verschleppte jüdische Zwangsarbeiter mussten die Erdarbeiten ausführen. Als die Gräfin am 24. März 1945 ein Fest feierte, hatte sie einige Nazi-Größen auf ihr Schloss eingeladen. In der anschließenden Nacht wurden Gewehre ausgegeben. Die Partygäste zogen zum „Kreuzstadel“ los, einer Scheune am Ortsrand. Dort erschossen und erschlugen sie 180 Zwangsarbeiter. Nach dem Massaker ging die Feier weiter.
„Man wünscht Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.“
Eva Menasse geht es in „Dunkelblum“ nicht so sehr um die zeitgeschichtlichen Ereignisse selbst, auch wenn das titelgebende Dorf wie Rechnitz im Burgenland verortet ist und obwohl sie im Zuge ihrer Recherchen entdeckte, dass es weitere Massaker dieser Art in der Umgebung von Rechnitz gegeben hat. Sie interessiert sich vor allem für das kollektive Schweigen nach dem Kriegsverbrechen. Insofern ist „Dunkelblum“ eher das Por- trät eines Dorfes, das so oder ähnlich vielerorts in Deutschland und Österreich zu finden ist, und weniger ein historisch detailliert recherchierter Roman.
Die Täter des Massakers sind alle entkommen – nach Argentinien, Südafrika oder in die Schweiz, wo Margareta von Batthyány später als Pferdezüchterin lebte und 1989 starb. Ausgerechnet in jenem Jahr, in dem Eva Menasses Roman „Dunkelblum“ spielt. Die Autorin hat ihr fiktives Dorf – auf dem Innencover des Buches ist ein Plan des Ortes mit Angaben, wo die verschiedenen Protagonisten des Buches leben, zu sehen – dem realen Rechnitz nachempfunden. Dort kennt jeder jeden, Fremde werden misstrauisch beäugt. Und jeder hat etwas zu verschweigen: Der Landarzt zum Beispiel, der die Praxis von seinem jüdischen Vorgänger übernommen hat, oder der Modehausbesitzer, ein ehemaliger Nationalsozialist.
1989 war auch das Jahr, in dem sich der Eiserne Vorhang öffnete und damit auch die Grenze zwischen Österreich und Ungarn. Mehr und mehr Menschen kamen in die Gegend, so ein Flüchtling aus der DDR, der von den Einheimischen mit Tritten und Schlägen empfangen wird. Auch ein US-Amerikaner taucht auf, der nach einem Massengrab sucht und unangenehme Fragen stellt. Die Alten des Dorfes vermuten in ihm den jüdischen Jungen, der am Kriegsende von zwei Frauen versteckt wurde und der seine Retterinnen wiederfinden möchte. Fremde, das wird schnell deutlich, sind in Dunkelblum nicht erwünscht.
Eine lineare Handlung lässt der Roman nicht erkennen. Häufig sind es Erinnerungen und Rückblenden, die bis in die 1930er-Jahre zurückreichen. Was dominiert, ist das Schweigen. Selbst „die Köpfchen der Blumen drehen sich zwar emsig hin und her, und die Mauern spitzen ihre grauen, bröseligen Ohren, aber sie nehmen nur auf, sie geben nichts heraus“. Wie es weiter heißt, übersteigt rund um Dunkelblum „die Anzahl der Geheimnisse seit jeher die der aufgeklärten Fälle um ein Vielfaches“. Und an anderer Stelle ist zu lesen: „Als ob das auch ihre Einwohner beträfe, die sich ähnlich disparat verhalten, alles beobachtend, nichts verstehend.“
Schweigsam ist auch Resi Reschen, die Wirtin des Hotels „Tüffer“, die alles hört und alles weiß, aber nichts erzählt. Die früheren jüdischen Besitzer ihres Gasthauses mussten in der Nazi-Zeit fliehen und kehrten nie mehr zurück. Während sich die Einheimischen nicht mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, ist ein paar Jugendlichen aus Wien daran gelegen, den fast vergessenen, verwahrlosten jüdischen Friedhof zu restaurieren. Immerhin ein Hoffnungsschimmer angesichts zunehmender antisemitischer Gewalttaten. Die jungen Leute, wohlgemerkt vornehmlich Ortsfremde, wollen außerdem den Verbrechen am Ort eine Ausstellung widmen.
Dann wird der jüdische Friedhof geschändet, mit antisemitischen Parolen beschmiert. „Eine Jugendtorheit“, wiegelt der Bürgermeister ab, „a b’soffene G’schicht, etwas, dessen Konsequenzen sicher nicht bedacht und nicht beabsichtigt gewesen sein können. Ganz sicher nicht! So sind die Leute hier nicht!“ Das erinnert nicht von ungefähr an den ehemaligen österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechtspopulistischen FPÖ, der in der sogenannten Ibiza-Affäre seine Bereitschaft zu Korruption und verdeckter Medienkontrolle signalisierte und dabei heimlich gefilmt worden war – bloß „ a b‘soffene G‘schicht“ meinte damals auch er.
Auch über die geplante Ausstellung ist der Bürgermeister von Dunkelblum empört: „Stell dir das vor. Kriegsverbrecher, bei uns!“ Die Vergangenheit soll ruhen, moralische Skrupel kennt die ältere Generation keine. Das kollektive Schweigen ist das zentrale Thema in Menasses Roman. Zwar ist zu Österreichs „dunklen Jahren“, wie ein Buch des Wiener Historikers Kurt Bauer über die Zeit seines Landes im Nationalsozialismus heißt, inzwischen regalweise Literatur veröffentlicht worden. Doch tut man sich immer noch schwer damit, sich der Vergangenheit zu stellen.
In „Dunkelblum“ gibt es keine zentrale Erzählperspektive. Sie wechselt von Kapitel zu Kapitel – diese sind meist kurz – zwischen den einzelnen Figuren hin und her. Dadurch werden die Personen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Verstrickung dargestellt.
Bisweilen enthält der Roman auch Krimielemente, wenn auf einer Wiese ein Skelett gefunden wird und es um den plötzlichen Tod einer Dunkelblumerin sowie um das Verschwinden einer jungen Studentin geht, die beide zur Geschichte des Dorfes im Zweiten Weltkrieg recherchiert hatten. Und wie in Krimis üblich, geht es um die Wahrheitsfindung: „Das ist eben das Problem mit der Wahrheit“, schreibt Menasse. „Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen. Oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis.“ Wenn man in Dunkelblum mit dem Fingernagel kratze, „kommt einem eine Schandtat entgegen“, sagt ein Dorfbewohner.
Durch die eingestreuten Austria- zismen – die sich in einem Glossar am Ende des Buches nachschlagen lassen – und einen durchweg leicht ironischen Unterton in der Sprache bekommt der Roman auch eine gallige Note. Es ist ein bissiger schwarzer Humor, wie man ihn von so manchen österreichischen Autoren kennt.