Das Projekt OpenStreetMap ist wohl die detailreichste und aktuellste Karte der Welt. Zusammengestellt wird sie von Freiwilligen – denen manchmal sture Verwaltungen im Weg stehen.
„Ah, da ist eine Bäckerei und ein Malereibedarfsladen eingetragen, den gibt es nicht mehr. Kann ich das löschen?“ „Ja, du musst einfach nur auf ‚Edit‘ klicken, die Symbole auswählen, und dann kannst du sie löschen“, erklärt Guillaume Rischard, Mitglied des Verwaltungsrates der OpenStreetMap (OSM) Foundation dem Autor dieser Zeilen. Ein wenig fummeln muss der woxx-Journalist schon noch, bevor die beiden Symbole, die für ein nicht mehr existierendes Geschäft in seinem Wohnort standen, von der Karte verschwunden sind. Kurz danach sind die Änderungen für alle Welt sichtbar.
Openstreetmap.org, die „Wikipedia für Karten“ ist zwar weniger bekannt wie das Enzyklopädie-Vorbild, doch dürften die allermeisten von uns schon einmal mit Karten aus dem Projekt in Berührung gekommen sein. Neben der Öffi-Seite Mobiliteit.lu nutzen auch große Firmen wie Apple oder Facebook die Datenbasis von OSM, um ihren Nutzer*innen Karten zur Verfügung zu stellen. Auch die luxemburgische Armee, die Air Rescue und der CGDIS nutzen OSM.
Das Projekt wurde 2004 von dem Briten Steve Coast gegründet, den die Tatsache nervte, dass seine Regierung zwar mit Steuergeldern Karten angefertigte, diese jedoch nicht frei verfügbar machte. OSM sollte das ändern: Einerseits wurden verschiedene Kartensätze von kommerziellen oder öffentlichen Akteuren gespendet, andererseits können die Nutzer*innen selbst Einträge abändern oder hinzufügen. Seitdem haben sich 7 Millionen Menschen bei OSM registriert, die meisten von ihnen haben auch zumindest kleinere Änderungen vorgenommen. 122 verschiedene Nutzer*innen änderten in den letzten zwei Monaten Elemente in Luxemburg.
Die aktuellste Karte der Welt
4,5 Millionen Anpassungen werden jeden Tag an den Daten der OSM vorgenommen. Das erklärt ihren größten Vorteil: Sie ist enorm aktuell. „Da wurde eben ein neuer Fahrradweg eingeweiht, und als ich ihn eintragen wollte, habe ich gesehen, dass das schon jemand gemacht hatte“, erklärt Rischard. „Bei einer normalen Karte würde das Jahre dauern, aber auf OSM gibt es Menschen, die sich für ihre Umgebung interessieren, deswegen geht es so schnell. Dadurch, dass immer Menschen ‚Korrektur lesen‘, ist die Qualität hoch.“
Rischard ist in OSM „reingerutscht“, wie vermutlich viele andere auch: „Ich habe eine Karte von Luxemburg-Stadt gesehen, da war ein Straßenname falsch. Also klickte ich auf ‚Edit‘, änderte den Namen und kurz danach war es richtig. Das fand ich cool, also blieb ich dabei.“ Andere OSM-Nutzer*innen erzählen der woxx ähnliche Geschichten: „Ich liebte Karten seit meiner Kindheit, ich habe eigene Karten der Farm, auf der ich aufwachsen bin, weil es – natürlich – keine kommerzielle Karte davon gab. Ich fand Online-Kartenservices jedoch nie besonders anziehend, weil sie weder künstlerisch anspruchsvoll noch besonders akkurat waren. Auf Fehlermeldungen reagierte niemand. Deswegen war ich begeistert, als ich 2010 von OSM hörte – endlich ein Projekt, bei dem die ‚Ground Truth‘ zählte!“, schrieb die Australierin Deborah Pickett der woxx.
Ground Truth bezeichnet in der Kartografie Informationen, die direkt am Boden erfasst werden. Denn neben den Freiwilligen, die Luftaufnahmen benutzen, um die OSM zu verbessern, gibt es auch viele, die vor Ort Straßenschilder oder andere Daten erfassen und die Karten so an die „Realität am Boden“ anpassen. Doch sind Karten immer objektiv?
Die Wahrheit liegt auf der Straße
„Die Realität wird gemessen, wie die Temperatur von einem Thermometer“, erklärt Rischard der woxx und gibt ein Beispiel: „In Luxemburg wollten Nutzer Militärinfrastruktur löschen, aber die sieht man auf Luftbildern, also gehört sie auf die Karte.“ Größere Probleme seien internationale Grenzstreitigkeiten oder die Namensgebung mancher geografischer Begebenheiten, wie zum Beispiel der arabische oder persische Golf. Manchmal würden einfach zwei Grenzverläufe angezeigt. Bei umstrittenen Gebieten wie dem Kosovo oder Taiwan gilt die Ground Truth: „Wir kartografieren das, was de facto am Boden zu sehen ist“, so Rischard.
Manchmal kann Ground Truth auch lustig sein, wie Pickett erzählt: „Eine meiner Lieblingsbearbeitungen betrifft eine Wasserlache neben einer Straße bei mir in der Nähe. Die Gemeindeverwaltung weigerte sich, etwas zu unternehmen. Das ging so weit, dass ein Anwohner höhnisch ein selbstgebasteltes Schild aufstellte: ‚Lake Rothesay: Wasserskifahren verboten‘. Jetzt war es Ground Truth, und ich konnte es kartieren.“ Lake Rothesay ist immer noch in der OSM eingetragen, inklusive Wasserskiverbot.
Wer sind die Menschen, die die Karten in OSM editieren? In der Wikipedia dominieren weiße, männliche Personen aus dem globalen Norden, die sich nicht nur auf ihre Lieblingsthemen versteifen, sondern auch festlegen, was relevant ist und was nicht. Bei OSM stellt sich das Relevanzproblem zwar nicht so, die Nutzer*innenbasis besteht dennoch vor allem aus „Menschen, die eher mehr Ressourcen haben“, wie Rischard es ausdrückt.
„Die Foundation versucht, die Diversität zu verstärken. Letztes Jahr haben wir die ersten Chapter außerhalb des Westens anerkannt. Zwei Menschen bringen ein wenig Diversität in den Verwaltungsrat, wir bräuchten jedoch mehr davon. Wir arbeiten daran, herauszufinden, was Hindernisse für neue Nutzer sein können und setzen einen Code of Conduct auf. Ich denke, dass die meisten, die bei OSM mitmachen, das aus persönlichen Gründen machen und nicht aufgrund ihres Geschlechtes. Das Beste, was wir machen können, ist sicherstellen, dass sich alle wohlfühlen und Diskriminierungen vermieden werden.“
Spricht man mit aktiven OSM-Nutzer*innen, hört man oft ähnliche Geschichten: Liebe zu Karten, ungenaue kommerzielle Karten in der Region, eine Affinität zum Open Source-Gedanken und oft auch der Wunsch, etwas für die Allgemeinheit zu tun. In Ländern, in denen wenig Kartenmaterial verfügbar ist, kann es schon vorkommen, dass Firmen ihre Mitarbeiter*innen dafür abstellen, OSM zu vervollständigen. Es ist die billigste Lösung, um benötigtes Kartenmaterial zur Verfügung zu stellen.
Informationsfreiheit für Karten
So wie die meisten Nutzer*innen arbeiten auch die Mitglieder der Stiftung und des Verwaltungsrates ehrenamtlich, lediglich eine administrative Kraft ist eingestellt. „Wir nehmen eine unterstützende Rolle ein, betreiben die Server, sammeln Spenden, unterstützen Softwareentwicklung und kümmern uns darum, dass die Lizenzbestimmungen der Datenbank eingehalten werden. Eine inhaltliche Kontrolle des Projektes findet nicht statt – wir sagen auch niemanden, was kartografiert werden soll“, so Rischard.
Ein Problem für OSM ist die Implementierung öffentlicher Daten. Es ist nämlich nicht immer so leicht, Verwaltungen davon zu überzeugen, ihre ortsgebundenen Informationen herauszurücken. „Verschiedene Verwaltungen verstehen die Vorteile davon, wenn sie Daten an OSM geben. Für solche Tätigkeiten gibt es in Luxemburg nie genug Personal, da hilft es enorm, wenn Freiwillige helfen.“ Einen guten Austausch gebe es zum Beispiel mit dem Geoportail und der Umweltverwaltung.
„Andere, zum Beispiel die Straßenbauverwaltung, speisen uns mit Ausreden ab, obwohl sie laut Gesetz dazu verpflichtet wären, uns ihre Daten zu geben. Und zu allem Überfluss benutzen sie OSM selbst!“, sagte Rischard der woxx im Gespräch. Das Informationsfreiheitsgesetz sei nicht nur für journalistische Arbeit schlecht, sondern auch für Projekte wie OSM – weil es keine Konsequenzen gebe, wenn sich Verwaltungen nicht daran hielten. Von der Straßenbauverwaltung heißt es auf Nachfrage hin, lizenzrechtliche Probleme hinderten sie daran, bestimmte Daten freizugeben.
Das Projekt OSM zeigt, dass viele Menschen bereit sind, Zeit und Ressourcen in ein Projekt zu stecken, das der Allgemeinheit dient. Mit GPS-Trackern, Smartphones und Satellitenbildern steht der freien Vermessung der Welt nicht mehr viel im Weg.