Polen vor den Parlamentswahlen: Weiter rechts geht immer

Wenige Wochen vor der Parlamentswahl am 15. Oktober führt die in der bisherigen Regierung dominierende Partei PiS in den Umfragen. Sie könnte jedoch wohl nur mit der rechtsextremen „Konfederacja“ eine neue Regierung bilden. Auch die oppositionelle liberalkonservative Bürgerplattform schlägt in der Migrationspolitik rechte Töne an.

Rechts geht’s lang: Polens Premierminister Mateusz Morawiecki bei einer Wahlkampfveranstaltung seiner Partei „PiS“ („Recht und Gerechtigkeit“) am 8. September in Tomaszow Lubelski. (Foto: EPA-EFE/Wojtek Jargilo)

Einen symbolträchtigeren Tag hätte sich die als Schwergewicht innerhalb der Koalition regierende Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ („Recht und Gerechtigkeit“; PiS) nicht aussuchen können: Am 17. September, dem 84. Jahrestag des Einmarschs der Sowjetunion in Polen, veröffentlichte sie im Internet ein Video, in dem Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak (PiS) schwere Vorwürfe gegen den Vorsitzenden der liberalkonservativen „Platforma Obywatelska“ („Bürgerplattform“; PO), Donald Tusk, erhebt: „Achtung! Die Tusk-Regierung war bereit, im Kriegsfall die Hälfte des Landes aufzugeben!“

Belegen sollten das ehemals streng geheime Verteidigungspläne aus dem Jahr 2011, als Tusk Ministerpräsident war. Ihnen zufolge hatte die polnische Armee im Falle eines Angriffs aus dem Osten Verteidigungslinien weit hinter der Grenze vorbereitet. „Der Plan zeigt es deutlich: Lublin, Rzeszów oder Łomża hätten das polnische Butscha werden können!“, sagt Błaszczak in dem Videoclip. Alle diese Städte liegen im Osten Polens, traditionell der Landesteil mit den meisten PiS-Wählern. Dass die seit 2015 die Regierungspolitik bestimmende Partei PiS das Thema Landesverteidigung derart für einen Wahlkampf ausschlachtete, empörte zahlreiche Beobachter – ein ehemaliger General nannte die Veröffentlichung der Verteidigungspläne sogar „Verrat“.

Wenige Wochen vor der Parlamentswahl am 15. Oktober liegt das von PiS geführte nationalkonservative Parteienbündnis „Zjednoczona Prawica“ („Vereinte Rechte“) laut Umfragen zwar mit bis zu 39 Prozent klar vor dem Zusammenschluss, der sich um Tusks PO gebildet hat und als „Koalicja Obywatelska“ („Bürgerkoalition“; KO) nur 30 Prozent erzielen würde; beide Bündnisse könnten jedoch nur mit Koalitionspartnern eine Mehrheitsregierung bilden.

Zur Rhetorik von PiS gehört es seit Jahren, ihre Gegner als bedrohlich für Polen und illoyal darzustellen. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński nannte Tusk im August „die Verkörperung des reinen Bösen“ und die Opposition „Verräter“. Tusk, von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rats, sei eine Marionette der EU-Bürokratie, heißt es bei PiS. Er habe in seiner Zeit als Ministerpräsident in den Jahren 2007 bis 2014 eine russlandfreundliche Politik betrieben – und vor allem Deutschland gegenüber sei er unterwürfig.

PiS selbst stehe dagegen für Souveränität und die Durchsetzung polnischer Interessen – gegen die EU, gegen Russland, und, im Konflikt um den Import von Getreide aus der Ukraine, sogar gegen die Regierung in Kiew. Und besonders gegen Deutschland: In einem PiS-Werbespot von Anfang September ruft ein Vertreter der deutschen Botschaft Kaczyński an und bittet ihn mit starkem deutschem Akzent, über eine Anhebung des Rentenalters in Polen zu sprechen. Der jedoch antwortet kühl: „Richten Sie dem Kanzler aus, dass die Polen über diese Angelegenheit entscheiden werden. Tusk ist nicht länger hier und diese Praktiken sind vorbei.“

Tatsächlich hatte die Regierung Tusk 2012 das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Als PiS 2015 an die Macht kam, senkte sie es wieder. Solche sozialpolitischen Maßnahmen sind seit Jahren das Erfolgsrezept von PiS: Während der wirtschaftsliberale Tusk die unpopuläre Reform mit Verweis auf Wettbewerbsfähigkeit und den Staatshaushalt durchsetzte, nahm PiS sie zurück und verkauft das als Sieg der nationalen Souveränität.

Die Souveränität Polens zu schützen, heißt für PiS ganz zentral aber auch: Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, Afrika und Asien aus dem Land zu halten. Fast wie 2015 macht die Partei derzeit Stimmung mit Bildern von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen. Die Botschaft: Um Polen vor diesem Übel zu beschützen, helfen nur die strikte Ablehnung jeglicher Flüchtlingsverteilung auf EU-Ebene und hohe, stacheldrahtbewehrte Zäune wie an der Grenze zu Belarus.

Der Aufstieg der erst 2019 gegründeten „Konfederacja“, die rechtslibertäre bis rechts-
extreme Strömungen vereint, könnte die polnische Politik dauerhaft verändern.

„Tusk wollte so viele Migranten nach Polen lassen, wie Deutschland es ihm befiehlt“, sagt Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) in einem ihrer Werbespots. „Er wollte es einmal tun, er würde es wieder tun. Wir dürfen die Rückkehr dieses Schädlings nicht erlauben.“

Ironischerweise ist PiS bei dem Thema selbst in der Defensive. Die PO wirft der PiS-geführten Regierung vor, dass in den vergangenen Jahren in polnischen Konsulaten weltweit Hunderttausende Visa an Migranten verkauft worden seien, die damit nach Polen und dem Schengen-Raum gereist seien. Die Regierung räumt bisher nur den Verkauf von einigen Hundert Visa ein, entließ allerdings bereits den stellvertretenden Außenminister Piotr Wawrzyk (PiS); die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen.

Tusk sieht in dem Visa-Skandal offenbar eine willkommene Chance, PiS beim Thema Migration von rechts zu attackieren. „Wer auch immer aus Afrika nach Polen will, geht zu unserer Botschaft, kauft ein gestempeltes Visum, gibt seine Daten an und los geht’s! Das ist die PiS-Migrations-
politik“, schrieb er auf der Plattform X, vormals Twitter.

Diese gegen Flüchtlinge gerichtete Rhetorik hilft auch der nationalistischen und rechtsextremen Partei „Konfederacja Wolność i Niepodległość“ („Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“; kurz „Konfederacja“). Sie habe das Alleinstellungsmerkmal, Ressentiments nicht nur gegen afrikanische oder muslimische Flüchtlinge zu schüren, sondern auch gegen ukrainische, sagte Patrycja Wieczorkiewicz, eine der Chefredakteurinnen der linken Zeitschrift „Krytyka Polityczna“, der woxx. „PiS wird wohl nicht genug Parlamentssitze haben, um alleine eine Regierung zu bilden. Es bleibt also nur eine Koalition mit der Alt-Right, der Konfederacja. Davor haben wir alle gerade Angst.“

Der Aufstieg der erst 2019 gegründeten „Konfederacja“, die rechtslibertäre bis rechtsextreme Strömungen vereint und derzeit in Umfragen bei elf Prozent liegt, könnte die polnische Politik dauerhaft verändern. Zwar kündigt die Partei bisher an, im Falle unklarer Mehrheiten keine Regierungskoalition mit dem PiS-Bündnis einzugehen, sondern Neuwahlen zu fordern, doch sollte es zu einer Minderheitsregierung kommen, würde es dank ihr eine noch weiter rechts stehende Mehrheit im Parlament geben als bisher.

Eine Koalition aus dem PiS-Bündnis und „Konfederacja“ hätte einige Widersprüche zu überbrücken: Während PiS für Sozialpolitik und hohe Renten steht, will die „Konfederacja“ Steuern senken und Sozialausgaben kürzen. Die PiS-Wählerschaft ist eher älter, die „Konfederacja“ hat bei den Jüngeren Erfolg – ihrem 36-jährigen Co-Vorsitzenden Sławomir Mentzen folgen auf „Tiktok“ fast 800.000 User. „Das Stereotyp, dass rechte Wähler ungebildet und vom Dorf seien, stimmt bei ihnen überhaupt nicht“, sagt Chefredakteurin Wieczorkiewicz. „Die meisten Unterstützer der Konfederacja sind gebildete Männer aus Großstädten und Unternehmer oder Ähnliches.“

Auffällig sei der „Gender Gap“ zwischen den politischen Lagern, wie Wieczorkiewicz anhand ihrer eigenen Leserschaft deutlich macht. Die Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ wurde 2002 als Organ einer nicht mehr vom Realsozialismus geprägten, moderneren Linken gegründet. Ihre Leser seien – wie die Wähler linker Parteien – eher jung und weiblich. „Bei den Männern ist es andersherum, 40 Prozent der jungen Männer wählen die Alt-Right“, so Wieczorkiewicz.

Auch die PO kann den derzeitigen Umfragen nach nur hoffen, mit einer ebenfalls widersprüchlichen Koalition eine Regierung bilden zu können. Hinzu müsste unter anderem das linke Parteienbündnis „Lewica“ („Die Linke“) kommen. Eine Traumkoalition wäre das für die polnische Linke nicht. „Die PO will sich als liberale Partei präsentieren, aber das ist sie nicht. Sie verbreitet auch rassistische Rhetorik, um den Leuten Angst vor Flüchtlingen zu machen“, sagt Wieczorkiewicz. „Sie war auch bereits acht Jahre an der Macht, hat aber damals viele Versprechen, beispielsweise bei Abtreibungs- oder LGBT-Rechten, nicht erfüllt.“

Das soll diesmal anders werden, beteuert die PO: Sie will nicht nur Steuern senken und ins Gesundheitssystem investieren, sondern verspricht, den illiberalen Staatsumbau der vergangen Jahre rückgängig zu machen und den Rechtsstaat wiederherzustellen. So will Donald Tusk die Konflikte mit der EU beilegen, damit diese bislang blockierte Milliardenzahlungen an Polen freigibt. Außerdem verspricht er, die PiS-Kontrolle über die Medien zu beenden.

„PiS will die Medien kontrollieren wie Fidesz in Ungarn“, sagt Wieczorkiewicz. „Die Partei hat schon einmal versucht, ein Gesetz wie in Ungarn gegen die Finanzierung von Medien durch ausländische Stiftungen zu erlassen.“ Das wäre besonders für ein linkes Medium wie „Krytyka Polityczna“ bedrohlich, das zu großen Teilen von Stiftungen aus dem Ausland finanziert wird.

Am 4. Juni demonstrierten in Warschau Hunderttausende gegen die von der Opposition so genannte „Lex Tusk“, ein Gesetz, das die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung russischer Einflussnahme auf die polnische Politik vorsieht und gegen die Opposition verwendet werden könnte. „Es gibt zwar diese riesigen Proteste, aber viele Menschen haben das Gefühl, das Thema Rechtsstaat betreffe sie nicht, das ist weit weg. Ihnen sind andere Probleme wichtiger: Geld zu verdienen, ihre Kinder zu versorgen“, meint Wieczorkiewicz.

Am 1. Oktober will Tusk bei einem „Marsch einer Million Herzen“ für die Rechte von Frauen sogar noch mehr Menschen als im Juni auf die Straße bringen. Für die polnische Linke ist es auch ein Problem, dass sich Tusk als Anführer einer breiten Front gegen PiS positioniert. „Vielen gefällt es nicht, dass wir auch die Opposition kritisieren, nicht nur PiS“, sagt Wieczorkiewicz. „Es gibt einen großen Druck, den Mund zu halten. Aber wir sind in erster Linie Journalisten und in zweiter Linie Linke. Wir werden nicht aufhören, auch die PO zu kritisieren.“

Paul Simon ist Redakteur der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung „Jungle World“, deren Redaktion sich vergangene Woche zu Recherchezwecken in Polen aufgehalten hat.

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