Protestwelle im Iran: Das Regime lässt exekutieren

Die Islamische Republik Iran hat zwei Demonstranten wegen „Kriegsführung gegen Gott“ hingerichtet. Sollte das Regime stürzen, hätte das gewaltige Auswirkungen auf die gesamte Region.

Solidarität mit den Protesten im Iran: Kundgebung von Exiliraner*innen vor dem Konsulat der Islamischen Republik in Istanbul. (Foto: EPA-EFE/Sedat Suna)

Ist das Undenkbare möglich? Könnte das Regime im Iran fallen? Fast 500 Tote und an die 20.000 Verhaftete haben die Protestwelle im Iran noch nicht erstickt, nun hat das Regime mit öffentlichen Hinrichtungen angefangen. Die ersten zwei Vollstreckungen von Todesurteilen an Demonstranten wirken noch wie makabre Tests: Werden sie die Proteste schwächen oder befeuern, und wie wird das Ausland reagieren? Jede Hinrichtung dürfte zurzeit genau kalkuliert sein, um diese Fragen zu beantworten. Dabei könnte schnell die Frage aufkommen, ob das Regime auch prominente Opfer exekutieren wird.

Der bekannte Rapper Toomaj Salehi ist seit Ende Oktober in Haft, ein Urteil wegen „Kriegsführung gegen Gott“ ist zu erwarten, worauf die Todesstrafe stehen kann. Salehi hat in seinem letzten vor seiner Verhaftung veröffentlichten Musikvideo, „Omen“, die herrschende Korruption und Gewalttätigkeit kompromisslos angeprangert und das Ende der Islamischen Republik vorausgesagt.

Ist dieses also denkbar? In der „New York Times“ hat sich der amerikanisch-iranische Politikanalyst Karim Sadjadpour gerade sicher gezeigt, dass nicht mehr länger die Frage sei, ob die Iraner den Obersten Führer Ali Khamenei stürzen werden, sondern wann. Im „Guardian“ merkte Christopher de Bellaigue dagegen vorsichtig an, die protestierenden jungen Iraner hätten zwar rund um die Welt Bewunderung hervorgerufen, doch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sei wankelmütig und die Ressourcen des Regimes seien riesig.

Es sind die vorangegangenen Proteste der vergangenen Dekade, die zur Vorsicht mahnen. Das Regime hat die „Grüne Revolution“, die Massendemonstrationen gegen den Wahlbetrug von 2009, überlebt und 2019 die heftigen Proteste wegen der Benzinverteuerung in einem Blutbad erstickt, der Nachrichtenagentur „Reuters“ zufolge gab es etwa 1.500 Tote. Der Repressionsapparat der Islamischen Republik umfasst Hunderttausende von Milizionären und Revolutionsgardisten, die nicht zuletzt ökonomisch Nutznießer des Systems sind. Dagegen steht eine breite gesellschaftliche Front, die von Schulmädchen, die keinen Zwangsschleier mehr tragen wollen, bis zu komplett verschleierten Frauen im sunnitisch-konservativen Belutschistan reicht, die dennoch Parolen gegen den Zwang zum Hijab skandieren. Die grundlegende politische Forderung, die alle Protestierenden eint, ist die nach Abschaffung der Islamischen Republik – wie ein Neuanfang aussehen könnte, ist völlig ungewiss.

Die grundlegende politische Forderung, die alle Protestierenden eint, ist die nach Abschaffung der Islamischen Republik – wie ein Neuanfang aussehen könnte, ist völlig ungewiss.

Karim Sadjadpour hat auch darauf hingewiesen, dass für die neue Protestwelle keine Ideologen oder Intellektuellen stehen, sondern Sportler, Musiker, Frauen vor allen anderen und auch Vertreter von Minderheiten. Das war 1979, als die Islamische Republik entstand, noch anders; damals war beispielsweise ein Ali Shariati Symbolfigur des Widerstands gegen das Schah-Regime, ein Intellektueller, der in Paris Vorlesungen des Philosophen Jean-Paul Sartre gehört hatte, mit Frantz Fanon korrespondierte und schiitische Theologie mit Antiimperialismus und Revolutionspathos anreicherte. Heutzutage skandieren die Demonstranten im Iran „Frau, Leben, Freiheit“: Den Revolutionären von 1979 wäre die Forderung nach individueller Freiheit zweifellos kleinbürgerlich vorgekommen.

Im Netz kursieren Clips, die an getötete Demonstranten erinnern. Es sind kurze Aufnahmen von jungen Leute, die das tun, was zumal junge Menschen überall auf der Welt von sich ins Netz stellen – sie machen Musik, tanzen, kochen oder posen. Die iranische Mittelschicht, die sich hier präsentiert, sieht nicht anders aus als die Mittelschicht anderswo auf der Welt. Das genau ist eben Globalisierung, für westliche Projektionen à la „Globaler Süden“ taugen sie jedenfalls nicht.

Das dürfte ein wichtiger Grund sein, weshalb die Unterstützung für die Iraner im Westen immer noch relativ verhalten ist. In seiner Abgründigkeit vielsagend war hier der Tweet einer jungen deutschen Journalistin aus der Sphäre der öffentlich-rechtlichen Anstalten, die im November für die Iranerinnen hoffte, „dass das mit der Revolution klappt, damit sie sich freiwillig Fuckboys unterwerfen können“. Sie löschte den Tweet, nachdem ihn die „Bild“-Zeitung skandalisiert hatte, und entschuldigte sich.

Solche Assoziationen dürften jedoch repräsentativer sein, als einem lieb ist; in politisch sich progressiv verstehenden Milieus geistert die Islamische Republik immer noch als irgendwie antikapitalistisch herum. Auch dass die Iraner und Iranerinnen gerade das politische Zentralsymbol der Islamischen Republik zu ihrer Zielscheibe gemacht haben, den aufgezwungenen Hijab, weckt in diesen Milieus eher Misstrauen, hat man hier doch seit geraumer Zeit gelernt, das islamische Kopftuch als Identitätsmarker und antirassistisches Symbol wertzuschätzen.

Das Jahr 1979 mit der iranischen Revolution war der Beginn einer Zeitenwende – damals überschritt der politische Islam die Schwelle zur internationalen Wahrnehmung. Heutzutage die Frage zu stellen, ob das System im Iran tatsächlich stürzen könnte, klingt so ungeheuerlich, weil damit ein Erdbeben ausgelöst würde, das die Verhältnisse im Nahen Osten zur Disposition stellen würde. Es wäre eine neue Ära. Die Islamische Republik hat es jedoch in den vergangenen 43 Jahren geschafft, zum normalen Dauerstörfall der internationalen Politik zu werden, sodass man sich gar nicht mehr vorstellen kann, was ihr Sturz auch ganz praktisch für die Region bedeuten würde. Sie war von Anfang an auf die machtpolitische Expansion ausgerichtet, und hier hat sie auch große Erfolge vorzuweisen: den Aufstieg der zuvor diskriminierten und marginalisierten schiitischen Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten.

Die Islamische Republik war von Anfang an auf die machtpolitische Expansion ausgerichtet, und hier hat sie auch große Erfolge vorzuweisen.

Die außenpolitische Erfolgsgeschichte der Islamischen Republik verkörperte sich in Qasem Soleimani, dem Kommandanten der Revolutionsgarden im Auslandseinsatz. Er hatte Charisma, im Gegensatz zu seinen so bräsig wie korrupt wirkenden Kollegen in der Region. Sein Tod durch einen US-amerikanischen Raketenangriff im Januar 2020 markierte den Punkt, an dem das iranische Imperium im Nahen Osten seinen Zenit überschritt. Dieses Imperium ist nicht nur eine gigantische finanzielle Bürde für den von Sanktionen ausgelaugten Iran, es ist nicht mehr dynamisch und erschöpft seine Ressourcen für eine kräftezehrende Besitzstandswahrung. Was bringt nun die Kontrolle und Mitsprache in Beirut, Damaskus und Bagdad? In Syrien und dem Libanon ist die Wirtschaft zusammengebrochen und die Verbündeten brauchen Unterstützung.

Im Nahen Osten schlägt gerade die bittere ökonomische Realität zu, wenn man nicht mehr genügend Geld aus Ölverkäufen zur Verfügung hat oder sich diese Realität nicht den Konzeptionen der großen Führer fügen will; die Türkei leidet genauso unter einer horrenden Inflation wie der Iran und sein Mündel, Bashar al-Assads Syrien. Seit Januar 2018 – kurz bevor die USA im Mai aus dem Atomabkommen ausgestiegen sind – hat sich der Wechselkurs des iranischen Rial gegenüber dem US-Dollar erheblich verschlechtert: Ein Dollar kostete damals etwa 46.000 Rial, mittlerweile sind es über 370.000. Die Inflation hat stellenweise zu Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln von 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr geführt, zumal im Mai drastisch Subventionen abgebaut wurden.

Am Tropf des Iran hängt auch Assads Syrien, das ohne die iranische Intervention längst Geschichte wäre. Assads Herrschaftsbereich hat sich mittlerweile in einen regelrechten Narco-Staat verwandelt. Der Endverkaufswert der in Syrien 2021 produzierten Captagon-Pillen lag nach einer Überschlagsberechnung des Analysten Charles Lister zwischen 55 und 110 Milliarden US-Dollar – beschlagnahmt wurden davon jenseits der syrischen Grenze Pillen für etwa 5,5 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Der offizielle syrische Staatshaushalt für 2023 liegt bei 6,5 Milliarden US-Dollar.

Die ungeheuren Einnahmen aus dem Drogengeschäft, das auch Assads Elitetruppe, die 4. Division, betreibt, kommen allerdings nicht der syrischen Wirtschaft zugute. Das Land verelendet, der Benzinmangel in diesem Winter ist eklatant und 20 Liter Treibstoff kosten mehr als das monatliche Durchschnittseinkommen eines Regierungsangestellten in Damaskus. Benzin ist in Syrien exorbitant teuer geworden, weil der Iran es Assad nur noch begrenzt liefert. Wie fragil Assads Herrschaft ist, zeigte sich jüngst bei den Protesten von Drusen in Suwayda wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Situation – dort hatten die Demonstranten kurzerhand den Gouverneurssitz angezündet und Assad-Porträts verbrannt.

Das iranische Imperium basiert letztlich auch nur auf mafiösen Verbindungen: Dem Recherchenetzwerk „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) zufolge stehen hinter der Firma, die 2022 in Syrien eine neu vergebene Mobilfunklizenz erhielt, als Teilhaber über eine Briefkastenfirma in Malaysia die iranischen Revolutionsgarden. Die brauchen auch Geld, um ihr Geschäftsmodell im Iran zu schützen.

Oliver Piecha arbeitet als Historiker und Publizist. Er lebt in Wiesbaden.

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