Reportage aus Litauen: Dreck vom Hafen

In Litauens Hafenstadt Klaipeda kämpfen Bürgerinnen und Bürger seit Jahren für saubere Luft. Dabei feiern sie kleine Erfolge, der Krieg in der Ukraine bringt jedoch viele neue Probleme.

Riecht nicht gut. 
Klaipedas Erdölterminal. (Fotos: Lukas Latz)

Touristen fühlen sich wohl in Klaipeda. Wer mit dem Zug oder dem Kreuzfahrtschiff in der über 160.000 Einwohner zählenden Stadt an Litauens Ostseeküste ankommt, dem kommt sie zunächst idyllisch vor. Klaipeda hieß früher Memel. Es gehörte bis 1920 zum Deutschen Reich und wurde von 1939 bis 1945 erneut von ihm annektiert. Die vielen Häuser aus rotem Backstein, das Kopfsteinpflaster, die Pappelalleen und die evangelischen Kirchen erinnern noch an die preußische Vergangenheit. Für die Menschen, die dauerhaft in Klaipeda leben, ist die Stadt weniger gemütlich. Der Hafen liegt ungewöhnlich nahe an Wohnvierteln und am Stadtzentrum, sein Betrieb belastet die Umwelt und Gesundheit der Bürger.

Wer mehr wissen will, muss mit Alina Andronova sprechen. Die Sozialarbeiterin kämpft gegen die Staubbelastung in ihrem Wohnviertel. Nach gut vier Jahren hat sie dabei sogar einiges erreicht. Doch zunächst sei sie ahnungs- und hilflos gewesen. „Alles hat angefangen, als mein zweites Kind gerade zwei Monate alt war“, erzählt sie. „Das war am 31. Mai 2017. Alles in unserer Wohnung war plötzlich schwarz. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte ja gar keinen Bezug zu Umweltfragen. Meine Nachbarin hat eine medizinische Ausbildung. Sie hat gesagt, dass das nicht normal sei und dass das nicht sein dürfe.“

Andronova lebte damals mit ihrem Mann und zwei Kindern im Zentrum von Klaipeda. Die Wohnung lag in einem Plattenbau in der Straße Gulbiu gatve. Die Häuserzeile ist nur wenige Meter entfernt vom Terminal des Verladeunternehmens Klaipeda Stevedoring Company (Klasco). Von dort kam der schwarze Staub.

In einem Beitrag des litauischen Fernsehens vom Oktober 2020 sind die Ausmaße des Problems gut zu sehen: Die Fensterbänke sind voll von rußähnlichem Staub. Eine Nachbarin von Andronova fährt mit der bloßen Hand über ein Fensterglas. Danach hält sie sie in die Kamera, die Handinnenfläche ist schwarz. Die Anwohnerinnen und Anwohner fürchten, dass sich dieser Staub nicht nur auf Autos und Fassaden, sondern auch in ihren Lungen absetzt.

Fehlende Regelung

Die Geräusche des Terminals erfüllen das Wohnviertel um die Gulbiu gatve: Maschinen piepsen und Motoren summen. „Das, was Sie jetzt hier hören, ist noch gar nichts“, sagt Andronova während eines Rundgangs durch das Viertel. „So richtig laut wird es erst, wenn hier etwas verladen wird.“ Im Terminal von Klasco wird im Außenbereich Schüttgut umgeladen. Besonders laut sei das Klirren von Altmetall, aber auch das Krachen von Kokskohle, wenn ein Kran eine Ladung in einen Container fallen lässt. Klasco verschiffte hier auch russisches Eisenerz, daher stammte der schwarze Staub.

Neben Andronovas früherem Wohnhaus – sie ist mittlerweile in einen Vorort gezogen – liegen ein Sportplatz und eine Schule. „Kinder machen hier Sport“, sagt sie. „Die Lehrer und Eltern erzählen, dass die Schüler in dieser Schule über Kopfschmerzen und Müdigkeit klagen.“ Auch Leute, die mehrere hundert Meter Luftlinie vom Klasco-Terminal entfernt wohnten, beschwerten sich über den Staub.

„Ein Jahr lang hatte ich mein Kind auf dem einen Arm und mein Telefon in der freien Hand und habe versucht, eine Lösung für dieses Problem zu finden“, sagt Andronova. Zu dieser Lösung war es jedoch ein weiter Weg. Das litauische Umweltgesetz sah einen solchen Fall nicht vor. Es gibt Grenzwerte für die Emission von Feinstaub mit einer Größe von unter zehn Mikrometern und andere Grenzwerte für Feinstaub unter 2,5 Mikrometern. Für die gröberen, zum Teil mit bloßem Auge erkennbaren Staubpartikel gab es damals keine Regelung. „Unsere Anwälte haben daraus geschlossen, dass dieser grobe Staub überhaupt unzulässig ist. Klasco hat die Lage so interpretiert, dass der Staub zulässig ist, weil das Gesetz es nicht ausdrücklich verbietet.“

Die Ministerialbehörden des 2,8 Millionen Einwohner zählenden Litauen sind klein. Auch wegen der geringen Personalstärke können Regelwerke oft ungenauer ausfallen als in großen Industrieländern. Gemeinsam mit ihrem Mann und weiteren Nachbarn gründete Andronova im April 2018 den Verein Klaipedaer Initiative für Demokratie und Ökologie (KIDE).

Da keine schnelle Lösung in Sicht war, arbeitete KIDE an vielen Fronten. Durch Crowdfunding bekam der Verein einige Tausend Euro zusammen, um beratende Anwälte zu bezahlen. „An den Wochenenden sind wir durch die Straßen gegangen, um die Anwohner zu informieren“, sagt Andronova. „Wir haben sie ermutigt, bei der Umweltschutzagentur und bei der Stadtverwaltung Beschwerde einzureichen, sobald wieder eine größere Staubwelle auftritt.“ Der Kern der aktiven Mitglieder von KIDE blieb klein. „Die Leute unterstützen uns hier sehr“, sagt Andronova, „aber viele von ihnen haben zwei bis drei Jobs und noch Kinder, um die sie sich kümmern müssen. Da hat man natürlich keine Zeit.“

Die Gesundheitsrisiken, die die Luftverschmutzung durch Hafenanlagen birgt, scheinen bei Europas Umweltschutzorganisationen kaum Beachtung zu finden. „Wir haben auf internationaler Ebene versucht, Partner zu finden, Experten, die uns sagen können, was wir tun können“, erzählt Andronova. „Doch unter den internationalen Umweltschutzverbänden gibt es niemanden, der sich mit ähnlichen Problemen befasst. Mit dem Verband Coalition Clean Baltic haben wir einmal gesprochen. Die haben gesagt, dass sie uns nicht helfen können. Aber wir sollten Bescheid sagen, wenn wir etwas über die Wasserverschmutzung hier im Kurischen Haff herausfänden.“

Bald reagierte Litauens Parlament auf die Gesetzeslücke. „In dieser Zeit bin ich etliche Male nach Vilnius gefahren, um bei den Ausschusssitzungen dabei zu sein, wenn der Gesetzesentwurf diskutiert wurde«, sagt Andronova. „Stundenlang dauerten diese Sitzungen.“

Im Juli 2019 stellte Litauens Regierung schließlich eine Reihe von Gesetzesänderungen vor – das sogenannte Klaipeda-Paket. Die Reformvorschläge sehen höhere Strafen für die Verletzung von Luftschutzverordnungen vor. Den Unternehmen sollte es schwerer gemacht werden, durch Klagen und die folgenden Gerichtsprozesse Emissionsschutzmaßnahmen zu blockieren. Das Gesetz hatte einen so hohen Stellenwert, dass auch Litauens bis Ende 2020 amtierender Ministerpräsident Saulius Skvernelis den Entwurf kommentierte: „Wenn Unternehmen nicht investieren wollen und auch keinen Steuererlass wollen für die Einführung von weniger verschmutzenden Technologien, wenn sie Litauen als einen Ort sehen, in dem es schwächere Umweltauflagen gibt, dann bin ich damit nicht einverstanden.“

Bedrohte Moore

Im Januar 2020 stimmte der Seimas, das litauische Parlament, für das Klaipeda-Paket. Ein Forschungsprojekt des Marine Research Institute an der Universität Klaipeda konnte die Überschreitung von Grenzwerten und Verstöße gegen Umweltauflagen im Terminal von Klasco nachweisen. Auf Grundlage dieser Forschungen und einer Verordnung der litauischen Umweltschutzagentur zwang ein Gericht Klasco im April 2021 dazu, die offene Verladung von Schüttgut einzustellen.

Damit ist aber nur eine der Umweltbelastungen in Klaipeda beseitigt. Die verschiedenen Verladeterminals reihen sich entlang der Küste aneinander, parallel zum Stadtzentrum. Nicht nur die Stickoxidbelastung durch die Schiffsabgase ist hoch, es entstehen auch weitere gesundheitsschädliche Gase, unangenehme Gerüche und nervtötende Geräusche.

Der Eingang zum Terminal von KLASCO, das für Staub und Gestank in Klaipedas Wohnvierteln sorgt.

Nördlich der Anlage von Klasco steht ein Terminal zur Verladung von Erdölprodukten. Weiter im Süden stehen zwei Werften und ein Kreuzfahrtschiffsterminal. Der Konzern Grigeo betreibt an der Küste eine Papierfabrik. Aus den Fabrikschornsteinen quillt faulig riechender Dampf. Für die Ableitung von nicht ausreichend gereinigtem Abwasser ins Kurische Haff sollen sich einige Manager des Unternehmens ab September 2022 vor Gericht verantworten. „Dem Unternehmen droht eine Geldstrafe von bis zu acht Millionen Euro. Den Verantwortlichen drohen Haftstrafen“, sagt Martynas Vainorius, Redakteur beim Online-Medium Atvira Klaipeda.

Litauen gehört zu den letzten Regionen Europas, die noch Torf produzieren. Am Flusslauf der Memel werden dafür Moore trockengelegt. Moore sind wichtige Speicher von Treibhausgasen, daher ist ihr Erhalt im Kampf gegen die Klimaerwärmung enorm wichtig. Die Trockenlegung ist deshalb umstritten. Für die Landwirtschaft und den Gartenbaugroßhandel in weiten Teilen Europas wird der Torf über den Hafen von Klaipeda verschifft. Auch das ist eine staubige Angelegenheit. „Kinder, die im Süden der Stadt draußen auf der Straße spielen, kommen oft mit einem vom Dreck schwarzen Gesicht nach Hause. Dort kommt der Staub vom Torf“, sagt Andronova.

Edmundas Benetis ist Mitglied der litauischen Architektenkammer und engagiert sich gegen den geplanten Ausbau des Hafenbeckens von Klaipeda. Es soll vertieft und um 2,5 Kilometer verlängert werden. Benetis zeigt den Stadtentwicklungsplan für Klaipeda. Die für die Industrie vorgesehenen Zonen hat er schwarz markiert. „Wenn Sie sich das anschauen, sehen Sie, dass das gesamte Stadtzentrum von Industriebetrieben umgeben ist. Es gibt keine Windrichtung, aus der wirklich saubere Luft kommen könnte.“

Handel mit Problemen

„All diese Umweltfragen sind ein sehr großes Problem in der Stadt“, sagt auch der Lokaljournalist Vainorius. „Ein Problem ist, dass die Stadtverwaltung keine Aufsicht über den Hafen hat. Dafür sind nationale Behörden zuständig.“ Da Hafenbehörde und Umweltschutzagentur nicht direkt den städtischen Behörden unterstellt sind, sei die Reaktion auf Probleme oft zögerlich.

Dass sich Klaipeda zu einem Handelshafen entwickelt hat, ist eine eher neue Entwicklung. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Stadt und ihr weiteres Umland entvölkert zurückgeblieben. Die deutschsprachige Bevölkerung floh vor der Roten Armee gen Westen oder sie wurde später vertrieben, die Litauerinnen und Litauer zogen ins Landesinnere nach Kaunas oder Vilnius. „Bei Ankunft der Roten Armee sind zwischen sechs und 30 Menschen in der Stadt geblieben“, sagt Vainorius, „Ich weiß nicht, ob es ein anderes Beispiel für eine Stadt gibt, deren Bevölkerung jemals so vollkommen ausgetauscht worden ist.“

Unter der sowjetischen Herrschaft wurde die Gegend zunächst zu einem militärischen Sperrgebiet. Viele ethnische Russinnen und Russen wurden hier angesiedelt. Bis heute hat Klaipeda einen hohen Anteil russischsprachiger Einwohner.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion gewann Klaipedas Hafenbetrieb schnell an Bedeutung. Mit dem wachsenden Handel zwischen Russland, Belarus und der Ukraine auf der einen Seite und den weiter westlich gelegenen Industriestaaten auf der anderen Seite wurde Klaipeda zu einem attraktiven Standort. Nach Angaben der Hafenbehörde hat sich das Volumen des Güterumschlags im Klaipedaer Hafen zwischen 1999 und 2020 verdreifacht: von knapp 15 Millionen Tonnen im Jahr 1999 auf 47 Millionen Tonnen im Jahr 2020. Das wichtigste Transportgut für den Hafen waren Düngemittel des belarussischen Staatsbetriebs Belaruskali.

Aufgrund der Repression durch das Regime in Belarus gegen die eigene Bevölkerung sanktionierte die EU 2021 jedoch die Ausfuhr von Düngemitteln aus dem Land. Das betrifft auch Klaipeda. Experten gehen von einem Umschlagsvolumen in Höhe von 15 Millionen Tonnen aus, auf den der Hafen allein in diesem Jahr verzichten muss. Auch für die litauische Eisenbahn war der Transport von Düngemitteln eine wichtige Einnahmequelle. Die Eisenbahngesellschaft hat bereits Konsequenzen gezogen: Im April 2022 kündigte das Unternehmen an, 2.000 Mitarbeiter zu entlassen, weil das Transitgeschäft aus Russland und Belarus zum Erliegen kommt.

Russlands Krieg in der Ukraine verstärkt die Krise von Hafen und Eisenbahn weiter. Kokskohle, Metallerze und Ölprodukte kommen aus Russland kaum mehr nach Westen – oder zumindest in deutlich geringeren Mengen.

Für die Luftqualität ist das gut. Doch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Kriegs sind in Klaipeda spürbar. „Was bedeuten schon unsere Umweltprobleme hier, während in der Ukraine 13 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten“, fragt Architekt Benetis rhetorisch.

Zu den Einwohnern von Klaipeda sind 9 000 ukrainische Flüchtlinge hinzugekommen. 3 500 von ihnen sind schulpflichtige Kinder. „In der Klasse meiner Tochter sind jetzt fünf von 25 Kindern aus der Ukraine“, berichtet Andronova.

Dass so viele Ukrainerinnen und Ukrainer hier ankommen, liegt auch daran, dass in der städtischen Industrie schon vor dem Krieg viele Menschen aus der Ukraine saisonal gearbeitet haben. „Wir hatten in unserem Betrieb immer 200 bis 300 Ukrainer beschäftigt“, sagt ein örtlicher Unternehmer in der Metallverarbeitung. „Die Männer haben drei Monate bei uns gearbeitet. Danach waren sie einen Monat lang zu Hause in der Ukraine. Als der Krieg anfing, konnten einige von ihnen das Land nicht mehr verlassen. 53 Arbeiter von uns waren bei Kriegsausbruch zu Hause und mussten im Land bleiben. Den Mitarbeitern, die hier waren, haben wir geholfen, ihre Familien aus dem Land zu holen. Wir haben uns um Wohnraum gekümmert und ihnen geholfen, hier anzukommen.“

Ein wichtiger Zulieferer für den Betrieb sei das Stahlwerk im ukrainischen Mariupol gewesen, sagt der Unternehmer. Man habe dieses Material seitdem durch Lieferungen aus der Türkei ersetzen müssen. Die Metallpreise hätten sich für seinen Betrieb erhöht, kurzzeitig sogar verdoppelt.

Dass der Hafen wieder Bedeutung als Umschlagplatz für Rohstoffe aus Russland und Belarus erlangen wird, ist unwahrscheinlich. Die Zukunft des Hafens liegt vielleicht im Ausbau der Offshore-Windenergie. Litauen plant bis 2030 den Bau eines Windparks vor der Küste mit einer Leistung von 700 Megawatt. Die Industrie von Klaipeda wird an der Produktion von Bauteilen für den Windpark beteiligt werden.

Die Sanktionen gegen Russland haben zwar dabei geholfen, einige Umweltrisiken des Klaipedaer Hafens zu beseitigen. Das Ende von Feinstaubemissionen, die vor allem von großen Schiffen ausgehen, sowie von Lärm- und Geruchsemissionen bedeutet das allerdings noch nicht. KIDE will jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Studie zur Gesundheit der Einwohner Klaipedas erarbeiten. Die örtlichen Aktivistinnen und Aktivisten sprechen sich für eine Verlegung des Hafens aus. „Schwere Industriearbeiten finden hier mitten im Stadtzentrum statt“, sagt Benetis. „Das gibt es nirgendwo sonst. Damit zerstören wir unsere Stadt.“


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