Reportage aus Syrien: Die Zukunft ist offen

Das vergangenen Dezember gestürzte Assad-Regime hat eine halbe Million Bürgerkriegstote und eine zerstörte zivile Infrastruktur hinterlassen. Auf bis zu eine Billion US-Dollar werden die Kosten des Wiederaufbaus geschätzt. Doch die Menschen haben ihre Freiheit wieder. Sie diskutieren nicht nur über die Herrschaft der Islamisten, sondern auch über föderale demokratische Strukturen und Citizenship.

Oben die Revolutionsflagge, unten alltägliche Geschäftigkeit: Der große Soukh in der Altstadt von Damaskus, Mitte Januar. (Foto: Bernd Beier)

Gerade mal zwei Monate ist es her, da fiel die Herrschaft des autoritären Präsidenten Bashar al-Assad in Syrien zusammen wie ein Kartenhaus. Doch im Alltag der Hauptstadt Damaskus ist von den dramatischen Ereignissen wenig zu spüren, scheinbar ungerührt gehen die Bewohner der Stadt ihren Geschäften nach. Der Verkehr ist krass, Ampeln gibt es wenige, Regeln sind kaum ersichtlich, die oft jahrzehntealten Autos, LKW und Minibusse tragen meist deutliche Spuren intensiven Gebrauchs: Beulen und Kratzer sind normal, oft fehlen die Rücklichter oder Stoßstangen. Das Zentrum der Hauptstadt mitsamt der historischen Altstadt ist von Zerstörungen weitgehend verschont geblieben, nur hin und wieder zeugen Brandspuren an großen Häusern von Kämpfen; vermutlich handelt es sich um Gebäude von Behörden, die unter Assad der Repression gewidmet waren. Vielerorts hängt nun die Flagge der syrischen Revolution: grün-weiß-schwarz mit drei roten Sternen. Sie hat bereits vor der Herrschaft der Baath-Partei als Staatsflagge fungiert und ersetzt nun die rot-weiß-schwarze mit zwei grünen Sternen, wie sie während der Herrschaft der Assad-Familie gebräuchlich war.

Durch die Altstadt führt die Via Recta, auf der Saulus sein Damaskuserlebnis hatte. Mitten im christlichen Viertel mit haufenweise Kirchen und Kathedralen unterschiedlichster Provenienz findet sich die Umayyaden-Moschee. In ihrem ausgedehnten Innenhof trifft man auf Revolutionstouristen aller Art. Eine Frau posiert für Fotos und schwenkt die Revolutionsflagge, mit der Aufschrift „Freedom“ versehen. Jemand aus einem halben Dutzend vorwiegend bärtiger Jungs schießt vor einem großen Gebäude mit beeindruckenden Mosaiken Fotos vom Rest der Gruppe, einer von ihnen hat ein Sturmgewehr dabei. Im nahegelegenen Soukh, einem der größten der Region, wurde quer über dem Gewimmel der Einkaufslustigen die Revolutionsflagge gespannt.

Auf den Straßen trifft man ab und zu auf kleinere Grüppchen Bärtiger, manche von ihnen mit Kalaschnikows bewaffnet. Hin und wieder trägt einer eine Sturmhaube. Das sind die neuen Ordnungshüter, eingesetzt von den Islamisten der „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS), die die Interimsregierung in Damaskus stellen. Kommt man mit Syrern auf diese Trupps zu sprechen, heißt es oft, sie würden einen derzeit menschlich behandeln – im Unterschied zu den einst patroullierenden Uniformierten des Regimes von Bashar al-Assad.

Unübersehbar sind die sozialen Auswirkungen der Herrschaft von dessen Baath-Regime, insbesondere während der vergangenen 14 von Krieg dominierten Jahre. Kriegsversehrte Rollstuhlfahrer schieben sich durchs Gedränge, wo man geht und steht bitten Frauen mit kleinen Kindern um etwas Geld. Der Kurs des syrischen Pfund ist komplett eingebrochen, die Kaufkraft der Mehrheit der Bevölkerung ebenso. Für einen US-Dollar bekommt man an einem Tag 14.000 syrische Pfund, zwei Tage später sind es 12.000; man schleppt die ganze Zeit dicke Geldbündel mit sich herum, die kaum etwas wert sind. Es sind wohl die letzten Banknoten mit dem Konterfei von Bashar al-Assad. Vor vielen Geschäften steht ein Generator auf der Straße; die öffentliche Stromversorgung ist täglich meist auf eine bis drei Stunden begrenzt. Zwar sieht man auf vielen Wohn- und Geschäftshäusern von Damaskus Sonnenkollektoren, doch fehlen meist Vorrichtungen, um Strom zu speichern.

Auch am Gebäude des Damaszener Bahnhofs Hejaz prangt riesengroß die Revolutionsflagge. Im Innern findet sich eine Ausstellung, unter anderem mit einer historischen Telefonapparatur zum Stöpseln. Auf dieser Bahnstrecke war einst auch Lawrence von Arabien unterwegs. Züge fahren aber keine mehr; wo einmal Gleise waren, wurde eine große Grube ausgehoben. Vor dem Bahnhof lässt sich eine uralte, kleine Dampflok bewundern. Sie ist zugekleistert mit Zetteln, mit Hilfe derer Angehörige versuchen, ihre vermissten Familienmitglieder ausfindig zu machen; oft versehen mit einem Foto, einer kurzen Beschreibung der Person, einer Telefonnummer oder einem Whatsapp-Kontakt. Das muss genügen.

Einen neuen Aufschwung erlebt das zentral gelegene Café al-Rawda, ein traditioneller Treffpunkt von Intellektuellen und Oppositionellen. 1938 eröffnet, bietet es auf etwa 750 Quadratmetern reichlich Platz. Seit dem Ende des Assad-Regimes erfreut es sich neuer Beliebtheit, wachsender Besucherzahlen und offener Debatten über die Zukunft des Landes; schließlich sind Assads zahlreiche Spitzel dort nicht mehr präsent. Nun trifft man dort auch viele an, die ins Ausland gegangen und jetzt nach Damaskus zurückgekommen sind – sei es zu Besuch, sei es, um zu bleiben. Zudem bietet das Café neu entstehenden Initiativen Raum und Gelegenheit, sich dort zu treffen.

Rechts Ruinen, links Ruinen

Der berüchtigtste Gefängniskomplex des Assad-Regimes: In Sednaya wurden zigtausende Menschen gefoltert und Tausende umgebracht. (Foto: Bernd Beier)

Anders sieht es aus, wenn man das Zentrum von Damaskus verlässt. Mit dem Taxi geht’s raus aus der Innenstadt. Zunächst nach Jobair. Aus diesem Vorort sei er her, erzählt der Fahrer, aber seit einigen Jahren wohne er nicht mehr da. Er stoppt den Wagen. Links und rechts der Straße stehen zerschossene Häuser, mitten drin die Ruine eines Wasserturms. Ein Trupp der bärtigen Ordnungskräfte taucht auf. Fotografieren sei ok, sagen sie. Man solle aber nicht von der Straße ins Gelände laufen, da könnten Landminen verborgen sein. Alles klar. Nach Schätzungen kamen von den mehr als 500.000 syrischen Kriegstoten etwa 12.000 durch Minen oder Blindgänger ums Leben. Damit zählt Syrien seit Jahren zu den drei am schwersten durch solche Hinterlassenschaften beeinträchtigten Ländern weltweit.

Rechts Ruinen, links Ruinen. Zerschossene Häuser fast bis zum Horizont. Es nimmt kein Ende. Kilometerlang. „Hier wohnt niemand mehr“, sagt der Fahrer. Einmal passiert der Wagen ein großes Stück einer Hausfassade, worauf die Revolutionsflagge und eine Parole gemalt sind. Die Szenerie abseits der Straße ist eher monochrom: wüstengelbe Trümmer, Steine, Sand, hin und wieder ein Strauch. Rund 93 Prozent von Jobair wurden bei den Kämpfen zwischen der syrischen Armee und unterschiedlichen Rebellentruppen im Zeitraum von Februar 2013 bis März 2018 zerstört, insbesondere durch Bombardements der syrischen und russischen Luftwaffe sowie Artilleriebeschuss; ursprünglich wohnten dort bis zu einer halben Million Menschen.

Weiter geht’s nach Yarmouk, einem ehemaligen Lager palästinensischer Flüchtlinge, das sich zu einem Stadtviertel von Damaskus entwickelte; noch immer leben dort überwiegend Palästinenser. Auch hier sind die Häuser zerstört. Zwei alte Männer sitzen in einer der Ruinen auf Hockern und trinken Tee. „Welcome! Chai?“, fragt einer einladend. Dankeschön, gerade nicht. Ein klapperdürrer Hund streunt durch die Trümmer. Unter einem Straßenschild mit der Aufschrift „Yafa-2“ trinken zwei weitere Männer Tee. In einiger Entfernung steht ein ausgebranntes Riesenrad.

Die Kosten für den Wiederaufbau Syriens werden auf 250 Milliarden bis eine Billion US-Dollar geschätzt. Überall herrscht Mangel, es fehlt an Ausrüstung für Krankenhäuser und Schulen, an Baumaterialien; Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Kläranlagen müssen repariert, Internetanschlüsse und Mobilfunknetze installiert werden.

Einfahrt zur Hölle

Man sieht es schon von weitem. Das Militärgefängnis Sednaya war eine der berüchtigtsten Institutionen des Terrors der Assad-Diktatur. Es liegt auf einem Hügel einen halben Kilometer von den nächstgelegenen Gebäuden der überwiegend christlich bewohnten Stadt Sednaya entfernt. Der Knastkomplex besteht aus einem großflächigen abgezäunten Gelände mit mehreren Gebäuden, drei Mauer- beziehungsweise Zaunanlagen sollten die Flucht von Gefangenen verhindern. Mohamad fährt den Wagen, ein ehemaliger syrischer Oppositioneller, der mittlerweile für eine NGO im Nahen Osten arbeitet und in Jemen stationiert ist. Nach über zehn Jahren ist er erstmals zurück in Syrien und hat seine Herkunftsstadt Yabroud besucht. Mohamad hat einen Bekannten mitgebracht, der im Sednaya-Gefängnis einen Familienangehörigen verloren hat.

Das Eingangstor des Knastkomplexes ist massiv. Es wird von einem halben Dutzend Bewaffneter bewacht, teils in Camouflage, teils in Schwarz mit Sturmhaube. Nach einem kurzen Palaver mit Mohamad geben sie den Eingang frei. Auf der einige Hundert Meter langen Straße bis zur nächsten befestigten Durchfahrt passiert man einen ausgebrannten Panzer russischer Provenienz, dann einen grünen dreiachsigen Kampfwagen mit platten Reifen. Von dort führt eine von Bäumen gesäumte Straße direkt zum größten Knastgebäude. „This is the road to hell“, sagt Mohamad. In den rechts der Straße gelegenen Schuppen und Garagen stehen einige offenbar bei den Kämpfen um das Gefängnis zerstörte Militär-LKW. In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember, jener Nacht Ende vergangenen Jahres, in der Bashar al-Assad nach Moskau floh, hatten Rebellen den Knastkomplex eingenommen und die Insassen befreit.

Eines der Gebäude, in dem Gefangene untergebracht waren, ist dreistöckig, es besteht aus drei Flügeln. Am Eingangstor hängen Zettel für die Suche nach Vermissten. In diesem Gebäude waren hauptsächlich Zivilisten inhaftiert. In einem weiteren Gebäude etwa 200 Meter entfernt wurden überwiegend Offiziere und Soldaten eingesperrt; insgesamt waren circa 10.000 bis 20.000 Gefangene in die beiden Gebäude gepfercht. Das geht aus einem Bericht von „Amnesty International“ aus dem Jahr 2017 hervor. Er trägt den Titel: „Menschenschlachthaus. Massenerhängungen und Vernichtung im Sednaya-Gefängnis, Syrien“.

Dem zufolge sind hier allein von September 2011 bis Dezember 2015 zwischen 5.000 und 13.000 Gefangene außergerichtlich hingerichtet worden. Gefangene, so heißt es dort, „werden regelmäßig gefoltert, meist durch schwere Schläge und sexuelle Gewalt. Ihnen wird ausreichende Nahrung verweigert, Wasser, Medikamente, medizinische Versorgung und sanitäre Einrichtungen, was zu einer grassierenden Ausbreitung von Infektionen und Krankheiten geführt hat. Schweigen wird erzwungen, auch während Foltersitzungen“.

Geruch der Angst

Ein Teil des dreiflügeligen Gebäudes ist in Rot-Weiß-Schwarz und mit den zwei grünen Sternen bemalt – die Flagge des verhassten Assad-Regimes. Es sind Brandspuren daran zu sehen. Über eine breite Treppe geht es hinein. Zunächst tritt man in einen großen Saal. Rechts und links an den Wänden sind schmale Gitterzellen angebracht; vermutlich zur Unterbringung der Gefangenen vor der Registrierung gedacht.

Durch ein Loch in der Wand gelangt man über eine Treppe ein Stockwerk tiefer. In einigen Gängen befinden sich rechts und links Zellen, circa 1,5 mal zwei Meter groß. Die waren für die Dunkelhaft. Von dieser Ebene aus gruben nach dem Sturz des Regimes Helfer Löcher in den Boden, um in unterirdische Geschosse zu gelangen; es war ein Wettlauf mit der Zeit, um die in den dortigen Verliesen untergebrachten Gefangenen vor dem Verdursten zu retten.

In Sammelzellen wie dieser waren Dutzende Gefangene zusammengepfercht: Unser Bild stammt aus dem Gebäude für Armeeangehörige in Sednaya, aufgenommen einen Monat nach der Befreiung der Insassen. (Foto: Bernd Beier)

Von dem großen Saal aus führt ein Gang ins Zentrum des Gebäudes. Dort findet sich ein großer sechseckiger Käfig. In ihm führt eine Wendeltreppe zwei Stockwerke nach oben; jede Ebene konnten die Wärter so durch Gittertüren erreichen. Eine architektonische Referenz an das Panoptikum, das der Sozialphilosoph Michel Foucault in seiner Gefängnisstudie „Überwachen und Strafen“ beschrieben hatte? Zwei Typen mit Kameras und eine Frau kommen die Wendeltreppe herab, ein amerikanisches Fernsehteam. Kurze Unterhaltung.

Von dem Raum mit der Wendeltreppe führen mehrere Flure ab. Rechts befinden sich Fenster, links große Zellen. Ohne Fenster. Sammelzellen für rund 30 bis 35 Gefangene, je mit einer massiven Stahltür versehen. An deren unteren Hälfe befindet sich eine Klappe, um Essen reinzureichen. Auf dem Zellenboden liegen Kleidungsstücke verstreut. Keine Matratzen. Trotz der Kälte. An den Wänden Nägel, an einigen hängen Kleidungsstücke. Hier waren Gefangene monate-, jahrelang weggesperrt. Noch immer, sechs Wochen nach Befreiung der Gefangenen, liegt ein penetranter Geruch in der Luft, nach Schweiß, Angst, ungewaschenen Kleidern.

Die beiden weiteren Stockwerke sehen genauso aus. In der dritten Etage führt eine Treppe nach oben, ein Durchbruch führt aufs Dach. Auf einem Treppenabsatz ist an der Wand in drei Metern Höhe eine Metallstütze mit einer Rolle angebracht. Auch hier wurden Gefangene gefoltert: Die Hände auf den Rücken fesseln, den Betreffenden über die Rolle in die Höhe ziehen und hängen lassen.

Das stacheldrahtbewehrte Gebäude für die Militärgefangenen weist ausgedehnte Brandspuren auf, im Innern riecht es verkokelt. In einigen Sammelzellen gibt es Fenster, dort finden sich neben Klamotten persönliche Gegenstände auf dem Boden: Spielkarten, die aus Zigarettenschachteln gebastelt wurden; Tablettenblister, kleine mit Bleistift gemalte Bilder. An den Wänden sind Styroporschachteln für die persönliche Habe befestigt. In einer Zelle hängt ein Blatt Papier mit vier ausgeschnittenen Herzen an der Wand. Mohamad findet ein offizielles Dokument, das einen gefangenen Offizier der Armee betrifft.

„Es reicht“, macht Mohamad dem Besuch ein Ende. Genug an Schrecken. Zurück zum Ausgang. Die Bewaffneten schauen in den Kofferraum. Nein, da ist nichts, das aus dem Knast entwendet worden ist.

Vom Häftling zum Bürgermeister

Mohamad wohnt etwa 45 Kilometer von Sednaya entfernt in Yabroud, nahe der Grenze zum Libanon; auch dort leben überwiegend Christen. Daheim angekommen, stellt er Abdullatif vor. Der ist als „politisch Verantwortlicher“ tätig, wie derzeit die Titel in den Ministerien und Behörden lauten, weil die Funktionsträger nur übergangsweise ihre Posten bekleiden. Abdullatif übt in dem Ort de facto das Amt des Bürgermeisters aus. Er ist etwa Mitte vierzig, schlank, ungefähr 1,85 Meter groß, trägt keinen Bart, hat eine straffe Körperhaltung. Er erzählt seine Geschichte:

2011 war er Offizier der syrischen Armee in Dera’a, wo damals im März die ersten Proteste ausbrachen. Weil er sich weigerte, auf Oppositionelle zu schießen, wurde er verhaftet und in Sednaya eingesperrt. Er war mit einer Gruppe von 27 weiteren Militärangehörigen inhaftiert. Jeden Tag mussten sie vier aus ihrem Kreis bestimmen, die dann geprügelt wurden – mal eine halbe Stunde, mal eine Stunde lang. Er und seine Zellengenossen einigten sich darauf, dies der Reihe nach zu erleiden. Es gab wenig zu essen, ein Foto von ihm nach seiner Entlassung zeigt ihn mit eingefallenen Gesichtszügen. Nach drei Jahren zahlte seine Familie 100.000 US-Dollar für seine Freilassung aus Sednaya. Er kam in Hausarrest. Dann konnte er nach Idlib gehen, wo er unter der HTS in der Verwaltung arbeitete. Vor ein paar Wochen fragten ihn Leute von der islamistischen Übergangsregierung, ob er den Posten als eine Art Interimsbürgermeister in Yabroud einnehmen wolle. Er stimmte zu.

Mohamad und Abdullatif präsentieren ihre Stadt. Zunächst eine große Kirche. Im Vorraum ein Tannenbaum mit goldenen Kugeln. Das Innere der Kirche ist prächtig ausgestattet; Heiligen- und Marienbilder an den Wänden, ein großer Orientteppich auf dem Boden, ein Riesenkronleuchter, eine Krippe mit Holzfiguren unter der Kanzel. Zwei Jungs betätigen sich energisch als Glöckner von Yabroud. Das ist das Signal für den Gottesdienst. Zwei, drei Dutzend Gläubige erscheinen.

Auf zum Arbeitsplatz von Abdullatif. Vor der Behörde angekommen, wird er von einer Handvoll Bewaffneter begrüßt. Die Räume sind frisch gestrichen, die untere Hälfte der Wände grau, oberhalb davon weiß. Ein Junge in Camouflage-Kleidung kommt mit einem Tablett voller Fläschchen mit Saft herein. Dankeschön! Im frisch gestrichenen Büro hängt eine Uhr in Form einer Gitarre. Am Schreibtisch tippt ein junger Typ im Che-Guevara-Look auf einem Laptop, dann verlässt er den Raum. Nach einem weiteren kurzen Gespräch mit Abdullatif ist es höchste Zeit für die Rückfahrt nach Damaskus. In der Nacht unterwegs zu sein, empfiehlt sich wegen der etwas prekären Sicherheitslage nicht.

Ausdauernde Proteste

Von Damaskus aus dauert die rund 100 Kilometer lange Fahrt nach Suweida mit dem Minibus knapp zwei Stunden. Suweida ist eine mehr als 1.000 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Stadt mit etwa 70.000 überwiegend drusischen Einwohnern; es ist auch die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Am zentralen Platz mit einer großen überdachten Plattform wird der Wagen geparkt. Eine große Aufschrift an der Überdachung verkündet: „Peace to all Syrians – 2023 Freedom 2024“. Die Stadt ist für ihre oppositionellen Proteste bekannt. In jüngster Zeit, im August 2023, gingen Tausende hier auf die Straße, um gegen die Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu protestieren und Bashar al-Assads Rücktritt zu fordern. Dann zogen die syrischen Sicherheitskräfte weitgehend ab.

Unser Fahrer M., ein drahtiger Typ mit Dreitagebart, führt auf dem Platz herum. Er weist auf ein großes Porträtbild eines jungen Manns in Uniform. „Er hat sich geweigert, 2011 auf Demonstranten zu schießen“, erläutert M. Im Jahr darauf sei er vom Assad-Regime getötet worden. Daneben ein großes Plakat mit den Protagonistinnen der oppositionellen Frauenbewegung. Markant auch ein leeres Podest. „Hier stand einst eine Statue von Hafez al-Assad“, sagt M. Er verweist auf Einschusslöcher in den Geschäften an der Straße. „Von dort haben die Assadisten auf uns geschossen“, sagt er und zeigt auf das große Polizeihauptquartier in etwa 100 Meter Entfernung. Ein Ladenangestellter kramt auf seinem Handy vergeblich nach Bildern, die das kaputte Schaufenster des Geschäftes zeigen. „Viermal ist es zerschossen worden“, sagt er. Währenddessen diskutiert nebenan ein gutes Dutzend Leute munter über den Sturz Assads, über Bürgerrechte und Demokratisierung, danach singen sie ein Revolutionslied und klatschen dazu.

Lokale Selbstbestimmung und Citizenship

Ein lokales Komitee hat eine Frau zur Gouverneurin der Provinz designiert. In dunkelblauer Hose und Jackett mit schicker weißer Seidenbluse empfängt sie uns in ihrer Wohnung und bewirtet uns. Sie habe zuvor im Finanzministerium gearbeitet, sagt sie. Ihre offizielle Ernennung zur Gouverneurin durch die Interimsregierung in Damaskus lasse seit einem Monat auf sich warten. Sie wolle den Zuständigen noch etwas Zeit geben, falls sie dann immer noch nicht im Amt bestätigt worden sei, ziehe sie sich daraus zurück. Darauf entspinnt sich eine Diskussion über lokale Selbstbestimmung statt Separatismus, Citizenship statt islamischem Staat und die Zukunft Syriens.

Kopftücher sieht man kaum in der Stadt, eine Ausnahme bilden vor allem ältere religiöse Drusinnen. Dafür mangelt es nicht an Läden, die Alkohol verkaufen: Bier, Wein, Whisky, Wodka. Und Arak, den ungesüßten klaren Anisschnaps, der für die Region typisch ist. Der al-Rayan-Fabrik in Suweida, die einen der bekanntesten Araks Syriens produziert, war dessen Verkauf in der ersten Januarwoche offenbar von HTS verboten worden. Daraufhin habe es Proteste gehagelt, vor allem auch seitens der Bauern, die die Fabrik beliefern. Kurze Zeit später, so erzählt ein lokaler Aktivist, habe die Führung des HTS die Entscheidung annulliert.

Es beginnt zu dunkeln, schnell mit einem Taxi zurück nach Damaskus. Der Taxifahrer, ein sympathischer Druse von vielleicht Mitte vierzig, redet wie ein Wasserfall: Weil er nicht der Baath-Partei beitreten wollte, habe er 2013 seinen guten Arbeitsplatz verloren. 2021 habe er über die Türkei nach Europa flüchten wollen, sei aber von der türkischen Polizei aufgegriffen und nach Idlib abgeschoben worden. Dort habe ihn HTS drei Monate lang eingesperrt; deren Knäste seien ebenso schlimm wie die Assads. Dass Israel die Hizbollah geschwächt hat, findet er prima. Nun hoffe er auf eine demokratische Zukunft Syriens. Und wünsche sich eine Union der Staaten der Levante – Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina und Israel –, mit offenen Grenzen wie die EU.

Bernd Beier ist Chef vom Dienst der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“.

Die Bilanz der Herrschaft Bashar al-Assads ist verheerend: Insgesamt kamen in den vergangenen 14 Jahren, seit dem Beginn der Rebellion gegen sein Regime im März 2011, bis zu 500.000 Menschen ums Leben. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte wurden bis Juli 2024 im syrischen Bürgerkrieg über 231.000 Zivilistinnen und Zivilisten getötet. 87 Prozent dieser zivilen Todesopfer, etwa 201.000 Menschen, sind demnach auf die syrischen Streitkräfte und iranische pro-Assad-Kräfte zurückzuführen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 16,7 der rund 24 Millionen Einwohner Syriens auf humanitäre Hilfe angewiesen. Rund fünf Millionen Menschen flohen in die Nachbarländer Syriens, mehr als sieben Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Der Albtraum von Assads Diktatur ist beendet. Doch die Nachwirkungen lasten schwer auf dem Land.


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