Eine literarische Entdeckung aus Senegal und ein Gewinn für die frankophone Literatur: In seinem preisgekrönten Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ macht sich Mohamed Mbougar Sarr auf die Suche nach dem, was die Identität eines schriftstellerischen Werkes bestimmt.
Das Labyrinth spielt in den Romanen Jorge Luis Borges’ eine signifikante Rolle. Im Werk des argentinischen Dichters zählt es zu den Urbildern im Sinne von C.G. Jung – als Bilder eines kollektiven Unbewussten. Auch formal sind Borges’ Texte als Labyrinthe strukturiert. Der Leser verliert sich in endlosen Irrwegen und sucht vergebens das Zentrum, um das die sich ähnelnden Gänge und Wege angelegt zu sein scheinen, so wie die Rückkehr zum Ausgang unendlich erscheint.
Eine Suche in einem Labyrinth ist auch die Geschichte, die Mohamed Mbougar Sarr in seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. erzählt. Der 1990 in Dakar als Sohn eines Arztes geborene Autor, Absolvent der Pariser Eliteschule „École des hautes études en sciences sociales“, gilt als eines der größten Talente der französischsprachigen Literatur. Bei ihm erhält das Motiv der Suche einen existenziellen Sinn in mindestens zweifacher Hinsicht: als frankophoner sowie als afrikanischer Autor. Oder als senegalesischer? Als der heute 33-Jährige für „La plus secrète mémoire des hommes“, so der Originaltitel, vor zwei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, sagte er: „Der Preis ist eine Ehre für einen Schriftsteller aus dem Senegal.“ Das westafrikanische Land kann auf eine lange literarische Tradition zurückblicken, einer der bekanntesten Dichter, Léopold Sédar Senghor, war von 1960 bis 1980 erster Staatspräsident. Doch Sarr sieht sich auch als „afrikanischen Schriftsteller“, ein ähnlich umstrittener Begriff wie jener der „afrikanischen Philosophie“. Wer sich damit beschäftigt, trifft schnell auf die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und auf die Frage: Wie können wir die Philosophie entkolonialisieren?
Was die zeitgenössische Literatur aus afrikanischen Ländern anbelangt, sind jüngst unter anderem die Anthologien „Neue Töchter Afrikas“ und „Was mittwochs war, und freitags“ auf Deutsch erschienen. Darin tauchen die Folgen der kolonialen Vergangenheit der verschiedenen afrikanischen Länder immer wieder auf. Die nigerianisch-britische Autorin Selina Nwulu zum Beispiel beschäftigt sich in dem Essay „Die Kühnheit unserer Haut“ mit der Deutungshoheit der Kolonialmächte, die ihre Generation mit der Muttermilch aufgesogen habe. Sie fordert eine Rückkehr zu den afrikanischen Sprachen. „Es mag kein Klang sein, den ihr kennt“, schreibt Nwulu, „aber es wird unserer sein, nur unserer.“ Und Dipo Faloyin, geboren in Chicago, aufgewachsen in Lagos und wohnhaft in London, Senior Editor des Magazins „Vice, beschreibt in seinem dieses Jahr im Rowohlt Verlag publizierten Buch „Afrika ist kein Land. Das Manifest gegen Dummheit, Faulheit und Einfachheit im Umgang mit der Vielgestaltigkeit des afrikanischen Kontinents“, wie ein ganzer Kontinent „bis zur Horrorhaftigkeit simplifiziert“ worden sei.
Nicht zuletzt ist Sarrs Roman eine Satire auf den Literaturbetrieb.
Sarr hingegen findet Afrika als Einordnung okay. Er zeigt in seinem Roman, wie afrikanische Schriftsteller in Europa wahr- und aufgenommen werden und stellt die Frage, was das Afrikanische an der afrikanischen Literatur ist. Er macht sich dabei über einige Stereotype lustig, weist aber darauf hin, dass es auch bei afrikanischen Autoren trotz ihrer Verwurzelung in Afrika vor allem um die Suche nach einer eigenen literarischen Sprache geht – um den Traum, Teil einer großen Weltbibliothek zu sein. Das ist ganz im Sinne des Argentiniers Borges. Sarr schreibt: „Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“
Der Titel „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ stammt aus einem Zitat des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño (1953-2003), einer der größten Schriftsteller seiner Generation, der häufig mit Julio Cortázar verglichen wird und seinerseits stark von Jorge Luis Borges beeinflusst worden ist. Das Zitat handelt von der Vergänglichkeit literarischer Werke. Am Ende von Bolaños Buch „Die wilden Detektive“ (1998) heißt es: „Am Ende reist das Werk in absoluter Einsamkeit durch die unendlichen Weiten. Und eines Tages stirbt es, so wie alle Dinge sterben, so wie die Sonne vergeht, die Erde, das Sonnensystem und die Galaxien und noch die geheimste Erinnerung der Menschen.“
Sarrs Roman beinhaltet Elemente aus dem realen Leben des Autors. In einem Interview betonte Sarr, dass es sich weder um eine Biografie noch um eine Autobiografie handle, sondern um eine Form von „Real Fiction“. Er schreibt aus der Sicht eines Erzählers, des ebenso im Senegal geborenen Schriftstellers Diégane Latyr Faye, der nach Frankreich auswandert und dort auf den Roman eines fiktiven Autors namens T.C. Elimane stößt, der in den 1930er-Jahren in Frankreich lebte. Für seinen Roman „Das Labyrinth des Unmenschlichen“, der 1938 erschien, feierte das französische Publikum T.C. Elimane zunächst als „schwarzen Rimbaud“. Doch bald beschuldigten ihn seine Kritiker des Plagiats. Der Verlag stellte den Verkauf des Buches ein, Elimane verschwand von der Bildfläche, ohne Spuren zu hinterlassen. Auch aus der Erinnerung der Öffentlichkeit scheint er gelöscht zu sein. Der Erzähler ist fasziniert von Elimanes Geschichte. Diégane Latyr Faye recherchiert auf drei Kontinenten – in Afrika, Europa und Südamerika – sowie in Sachbuchtexten und Tagebucheinträgen. Außerdem trifft er sich mit Familienangehörigen und Freunden des verschollenen Autors sowie mit anderen Literaten, deren Vorbild T.C. Elimane ist, zu Streitgesprächen.
Sarrs Buch ist dem 1940 in Mali geborenen Schriftsteller Yambo Ouologuem gewidmet, der 1968 für seinen ersten Roman „Le devoir de violence“ (Das Gebot der Gewalt) mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. Wie T.C. Elimane zog sich Ouologuem nach Plagiatsvorwürfen nach Mali zurück und schrieb nie mehr eine Zeile. Sarr beziehungsweise der Erzähler scheint dieses Schweigen zu faszinieren. Es wird beschrieben, was ein Buch mit seinem Autor macht. Ouologuem hat für sein Buch seine Karriere als Schriftsteller geopfert. Auch das Schweigen ist ein gewollter Akt. „Selbst die Sehnsucht nach dem Nichts kann eine eitle Sache sein“, sagt ein Freund des Erzählers. T.C. Elimane ist nicht greifbar. Er bleibt ein Gespenst. Zweifel werden geweckt, ob er überhaupt existiert.
Das Interesse der Erzählers an T.C. Elimane wird erst recht befeuert, als er auf die skandalumwitterte Autorin Marèm Siga D. trifft, die mit T.C. Elimane verwandt ist und ein Exemplar des geheimnisvollen Buches besitzt: „Typen wie du begehen alle denselben Irrtum. Ihr meint, die Literatur könne das Leben korrigieren. Oder vervollständigen. Oder ersetzen. Das ist falsch. Schriftsteller, und ich kannte viele, gehörten schon immer zu den schlechtesten Liebhabern, denen zu begegnen mir vergönnt war. Und weißt du warum? Wenn sie mit dir schlafen, denken sie bereits an die Szene, in der sie diese Erfahrung verarbeiten.“
Marèm Siga D. lässt in einer Art von „oral history“, der in Familien und Dörfern mündlich weitererzählten Geschichten, unter anderem ihren verstorbenen Vater, mit dem sie eine Hassliebe verband, als Zeitzeugen aus der Erinnerung wiederauferstehen. Ihr Ton ist schonungslos realistisch: „Das Zimmer: Du warst noch nicht eingetreten, da drehte es dir bereits den Magen um, es stank nach Alter, Krankheit und Siechtum, weil der Körper alle Scham verliert, wenn das Ende naht. Ich kannte meinen Vater nur als alten Mann. Ich hasste ihn deshalb umso mehr, wie auch dieses Zimmer, das er in den letzten Jahren seines Lebens fast nicht mehr verließ. Das Leben und er hatten am Ende ihre Verbindung aufgelöst.“
So wie Diégane Latyr Faye das Erstlingswerk von Elimane für die Quintessenz aller Romane hält, „einen dieser Sterne, die nur einmal am Himmel der Literatur erscheinen“, ist es für Marèm Siga D. das „Buch der Bücher“, eine Symbiose der Literatur. Mit Hilfe ihrer Erzählungen, der Aufzeichnungen einer Journalistin sowie der Erinnerungen einer haitianischen Dichterin, die T.C. Elimane – wie konnte es anders sein als in Borges’ Stadt – einst in Buenos Aires kennenlernte, und der Berichte von Elimanes Pariser Verlegern, nähert sich Diégane dem Autor mehr und mehr. Leben und Literatur sind eng miteinander verflochten.
Sarr arbeitet mit unterschiedlichen literarischen Stilmitteln und kombiniert in „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ verschiedene Erzählstränge. Gerade diese Vielstimmigkeit macht den Reiz des Romans aus, der manchmal ironisch, bisweilen derb humorvoll, aber auch in seinem Realismus drastisch ist. Hin und wieder gibt es Zeitsprünge durch ein ganzes Jahrhundert, die vielleicht etwa irritieren, den Leser und die Leserin aber ebenso nach Paris und Amsterdam wie nach Dakar und Buenos Aires führen. Streng strukturiert ist der Roman dennoch, da er in drei Bücher mit jeweils zwei bis drei Textblöcken unterteilt ist. Hinzu kommen sogenannte Biographeme, eine Art literarischer Einfühlungsversuche mit einem jeweils eigenen Stil.
Nicht zuletzt ist der Roman eine Satire auf den Literaturbetrieb. Sarr beschreibt, wie sich afrikanische Schriftsteller in Frankreich positionieren und wie mit ihnen umgegangen wird. T.C. Elimanes Kritiker zielten weniger auf Inhaltliches als auf die Hautfarbe des Autors ab, heißt es. Das Buch sei nicht afrikanisch genug, sei oft zu hören gewesen. Außerdem habe der Autor die Legende eines afrikanischen Stammes gestohlen. Alle diese Kritiker haben sich übrigens später umgebracht. Der Roman erzählt also nicht zuletzt von der Literatur und ihren Gefahren sowie von afrikanischen Autoren und ihren europäischen Kritikern. Erstere sind verbunden durch „das stille Eingeständnis, dass wir Afrikaner ein wenig verloren und unglücklich in Europa waren, auch wenn wir so taten, als wären wir überall zu Hause“. Das verweist auf die Frage, ob man seine kulturellen Wurzeln verleugnet, wenn man sich als Afrikaner auf Europa einlässt.
„Ob Homer tatsächlich gelebt hat, bleibt eine spannende Frage“, schreibt Sarr, um zu verdeutlichen, worum es ihm geht: „Letzten Endes ändert sie jedoch wenig an der Begeisterung des Lesers, denn wer oder was auch immer Homer war, der Leser ist ihm dankbar dafür, dass er die Ilias oder die Odyssee geschrieben hat.“ Ebenso bedeutungslos sei es, welche Person, Mystifikation oder Legende hinter T.C. Elimane stecke. „Denn diesem Namen verdankten wir das Werk, das unseren Blick auf die Literatur und vielleicht auch auf das Leben verändert hat.“
Mohamed Mbougar Sarr erweitert jedenfalls den literarischen Kosmos seiner Leser. Sein Roman ist eine Bereicherung der jüngeren Literaturgeschichte, stilistisch und im Aufbau in jeglicher Hinsicht gelungen, spannend und wie in einem Sog zu lesen und nicht zuletzt meisterhaft von Holger Fock und Sabine Müller ins Deutsche übertragen.