Social Distancing: Finger weg von Mensch und Pflanzen!

Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum liefert online mit „Rühr mich nicht an! Zur Kulturgeschichte des Social Distancing“ die Ausstellung der Stunde. Was das Kontaktverbot mit Stachelschweinen und Mimosen zu tun hat.

Social Distancing war schon vor 1850 angesagt und nötig. (Quelle: CC0; „Collage auf Basis von Anonymous: A Family Group, Social Distancing. Zur Geschichte einer Kulturpraxis)

Rückt euch nicht auf die Pelle, lasst die Finger voneinander und aus dem Gesicht: Eine Botschaft, die besonders seit Ausbruch der Corona-Pandemie unter dem Begriff Social Distancing die Runde macht. Die Weltbevölkerung geht auf Abstand – und das nicht zum ersten Mal. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek blickt in „Rühr mich nicht an! Zur Kulturgeschichte des Social Distancing“ historisch auf das Phänomen der physischen Distanznahme zurück.

Die Kurator*innen Dr. Stephanie Jacobs, Stefan Paul-Jacobs, Dr. Ramon Voges und Dr. André Wendler schreiben gleich zu Beginn der Ausstellung, dass Kontaktverbote und Abstandsregeln Teil der Kulturgeschichte sind und oft mit Verschwörungsmythen zusammengebracht wurden. Die Aussage ist interessant, wird im Laufe der Ausstellung aber nicht weiter ausgeführt. Distanznahme erfolgte in der Vergangenheit jedenfalls nicht ausschließlich zur Vorbeugung von Krankheiten. „Die Infektionskontrolle hat sich (..) im kulturellen Gedächtnis (…) stark eingeprägt, aber es geht bei der verordneten Distanz neben der Gesundheit vor allem um Machterhalt, manchmal auch um Mysterien“, schreiben die Kurator*innen.

Die Ausstellung führt das Beispiel der Verhaltensregeln am Hofe, die Zeremonialwissenschaft an: Das Zeremoniell schrieb den Mitgliedern des Hofes ihren Platz zu und legte fest, wer bei besonderen Anlässen wie nah an den Herrschenden dran sein durfte. „Je näher am Thron, desto mächtiger“, heißt es im Begleittext zur Abbildung des Drucks „Audienz des neuen Niederländischen Botschafters bei Ludwig dem XIV“ (1714) von Pieter Schenk. Die Kurator*innen verweisen in dem Zusammenhang auch auf das Werk „Buch vom Hofmann“ des Adligen Baldesar Castiglione, der seinen Leser*innen Ratschläge zum Benehmen am Hofe erteilte.

Auch in der Bibel kommt es zum Social Distancing. Das Johannesevangelium berichtet, dass Maria Magdalena Jesus nach der Auferstehung umarmen wollte, der sie aber mit dem Satz „Noli me tangere“ – übersetzt „Rühr‘ mich nicht an“ – zurückwies. Er begründete das Kontaktverbot mit seiner Auferstehung. Ein weiteres Beispiel gibt es in der Pflanzenwelt: Es existieren Gewächse, die das Berührungsverbot im Namen tragen, darunter das Große Springkraut (lat. „noli me tangere“) oder die Schamhafte Sinnpflanze (eng. „touch-me-not“). Letztere klappt ihre Blätter teilweise bei Erschütterungen, rascher Erwärmung oder Abkühlung und wechselnden Lichtverhältnissen ein und wieder aus, was ihr zu ihrem englischen Namen verholfen hat. Die Informationen müssen die Ausstellungsbesucher*innen sich selbst erarbeiten. Warum sie nicht in den kurzen Text „Mimosen und andere scheue Pflanzen“ eingebracht wurden, ist unklar.

Neben den Ausflügen zum Hof, der Lektüre biblischer Texte und dem Verweis auf die Botanik, thematisiert die Ausstellung das Distanznehmen mit Arthur Schopenhauers Stachelschweinen, durch Illustrationen aus Kinderbüchern, die Abbildung von Traktaten zu Pest und Cholera, Wissenschaft, Militärgeschichte und Poesie. Das alles geschieht in klarer und inklusiver Sprache – das umstrittene Gendersternchen taucht auf. Was es zu meckern gibt: Die Ausstellung hätte zwei, drei Textabschnitte mehr vertragen. Sie ist eher eine Anregung zur eigenständigen Recherche als ein ausgiebiger, kulturwissenschaftlicher Rückblick. Und dennoch ist es schön, dass zwischen den Berichten über Seuchen und Machtverhältnisse Zeit zum Schmunzeln bleibt: über Social Distancing auf dem Hexenbesen oder Händchenhalten mit zwei Metern Abstand.

„Rühr mich nicht an! Zur Kulturgeschichte des Social Distancing“, 
online auf https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/distanz/#s7.

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