Am Wochenende wählt Spanien – schon wieder. Klare Wahlsieger*innen sind in der fragmentierten politischen Landschaft erwünscht, aber nicht zu erwarten.
Vor nicht allzu langer Zeit lag die Wahl einfach zwischen rot oder blau, Sozialdemokraten oder Konservative, Pedro Sánchez oder Mariano Rajoy. Mal regierte die Partido Popular (PP), mal die PSOE. Die Auswahl an politischen Parteien ist in dem traditionell bipartidistischen Spanien in den letzten Jahren farbenfroher geworden. Doch die Fragmentierung der politischen Landschaft erschwert die Formierung einer stabilen Regierung und so treten die spanischen Wähler*innen am Sonntag, dem 10. November zum vierten Mal in vier Jahren an die Urnen.
Alles begann 2015 mit einem Wahlergebnis ohne Mehrheit, die 2016 in eine Minoritätsregierung von Mariano Rajoy mündete, welcher 2018 nach einem Korruptionsverdacht das Misstrauensvotum und damit seinen Posten als Ministerpräsident an Pedro Sánchez verlor. Dessen Übergangs-Minoritätsregierung brachte 2019 den Haushalt nicht durch das Parlament und konnte auch mit einem Wahlsieg im April keine Mehrheit erringen. Sánchez musste nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit Podemos Neuwahlen ausrufen.
Der Wahlkampf dauert dieses Mal – wie 2016 von Mariano Rajoy eingeführt – nur eine Woche, man sucht jedoch vergebens nach Spritzigkeit oder inspirierenden Momenten, die der Wahlverdrossenheit entgegenwirken könnten. Stattdessen benutzen Politiker*innen und Presse ein leidiges Leitmotiv für die Kampagne: Katalonien.
Die politische Krise in Katalonien steht einer Umfrage von El País nach nur auf Platz sieben der Interessen der spanischen Wähler*innen und ist doch allgegenwärtig in den Worten der Presse und Politiker*innen. Auf das Gerichtsurteil vom 14. Oktober, durch das neun Separatistenleader für ihre Rolle beim Unabhängigkeitsreferendum 2017 für einen Zeitraum von 9 bis 13 Jahren hinter Gitter müssen, wurde in Katalonien im Oktober mit Massendemonstrationen und teils gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei reagiert. Diese Ausnahmesituation lässt den Nationalismus der Rechtsparteien PP, Vox und Ciudadanos aufleben und einer linken Partei wie Podemos, die sich für einen Dialog zwischen der Regionalregierung und der Landesregierung einsetzt, wird der Wille für Destabilisierung unterstellt.
Linke Rezentrierung
Rezenten Umfragen zufolge würde die rechtsextreme Vox um Santiago Abascal, der etwa die Verhaftung des katalanischen Präsidenten Quim Torra fordert, auf über 13 Prozent steigen und drittstärkste Partei Spaniens werden. Die Partei konnte erst 2018 auf regionaler Ebene in Andalusien ihren ersten wichtigen Erfolg feiern und wurde im April mit 24 Sitzen im Parlament die erste rechtsextreme Gruppe, die seit dem Tod des Diktators Francisco Franco 1975 ins Parlament einzog.
Bis auf Podemos nutzten alle Parteien die Zeit zwischen den Wahlen am 28. April und den Wahlen am 10. November, um ihre politischen Diskurse und Ziele zu rekalibrieren. Besonders frappant ist dies beim momentanen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez. Als er 2018 das Misstrauensvotum gewann, galt er weit über die Landesgrenzen hinaus als Hoffnung der Sozialdemokratie. Er forderte vehement den Dialog zwischen Spanien und Katalonien. Lautete sein Slogan im April noch markant progressiv „Das Spanien, das du willst“ und formulierte er den Wunsch nach einer Regierung der „Linken“, so heißt es nun territorial beherrschend „Ahora España“ („Spanien jetzt“). Im Katalonienkonflikt geht es nun nicht mehr um „das Gesetz und den Dialog“, sondern es kommt „zuerst das Gesetz, dann der Dialog“. Sánchez machte in den letzten Tagen klar, dass er kein Problem hat, Artikel 155 der Konstitution gegen Katalonien auszurufen, um die Autonomie der Region auszusetzen, oder Gebrauch vom Gesetz der Nationalen Sicherheit zu machen, um den Polizeieinsatz gegen Tumulte in Katalonien zu verstärken.
In der großen TV-Debatte zwischen den fünf Männern am Montag machte er auch klar, dass er ein Gesetz, das das Ausrufen von illegalen Referenden, wie etwa jenes vom 1. Oktober 2017 in Katalonien, als Delikt ansieht, zurückbringen möchte. Ein ähnliches Gesetz galt zwischen 2003 und 2005 unter dem Konservativen Aznar.
Sánchez ließ es ganz bewusst aus, sich als linke Kraft gegen die erstarkte Rechte in Spanien zu profilieren und die Idee einer linken Regierung weiterzuspinnen. Expert*innen schließen momentan nicht einmal eine große Koalition zwischen dem PSOE und dem PP aus. Da es Sánchez wohl nicht gelingen wird, die Mehrheit der 350 Sitze im Parlament zu erringen, und er eine Koalition mit den Konservativen nicht als Möglichkeit ansieht, betreibt er nun Lobby für ein anderes politisches Konzept: Man könnte sich doch darauf einigen, dass die meistgewählte Liste am Sonntag die Regierung übernehme. Eine Bitte, die traditionellerweise von Seiten der Konservativen wie etwa Rajoy kam, und Sánchez, dem großen Wahlsieger vom 28. April, ganz gelegen käme. Die Möglichkeit, dass er sein Resultat von damals am Sonntag wiederholt, ist nicht auszuschließen.
Bei aller Rezentrierung vergisst Sánchez seine Staatsmännischkeit, die er im letzten Jahr durch ganz Europa chauffierte, jedoch nicht. Die Exhumierung Francos brachte er noch vor den Wahlen durch und versprach, weitere dunkle und vergessene Ecken der Diktatur zu beleuchten. Als Vizeministerin für Ökonomie werde man Nadia Calviño berufen, die zwischen 2014 und 2018 die Direktorin des Budgets der Europäischen Kommission war. Zu guter Letzt sicherte sich Pedro Sánchez – ohne überhaupt eine Garantie zu haben, dass er zu dem Zeitpunkt noch im Amt sein wird – die Austragung der COP25, die nach schweren Ausschreitungen in Chile bekanntlich verlegt werden musste. Madrid wird nun Anfang Dezember Austragungsort der Weltklimakonferenz sein – in der offiziellen Fernsehdebatte verlor Pedro Sánchez jedoch kein Wort über die Umwelt oder Klimakrise, immerhin Sorge Nummer fünf der Spanier*innen.
Konservatives Kuscheln
Im Zentrum kuschelt sich der Konservative Pablo Casado, nach einer historischen Wahlpleite für seine Partei im April, wieder an Pedro Sánchez an. Umfragen zufolge soll er sich vom Debakel am 28. April erholt haben und den zweiten Platz bei den Wahlen relativ ungestört sichern können. Sowohl PP als auch Podemos gehen auf ihre Weise auf die größte Sorge der Spanier*innen ein: den Arbeitsmarkt.
Podemos litt bei den letzten Wahlen, obwohl Pablo Iglesias und seine Gefährtin Irene Montero bei Weitem am überzeugendsten bei den Fernsehdebatten rüberkamen. Sie sind die einzige der großen Parteien, die Interesse an einer echten Debatte und Lösungsvorschläge für ökonomische und soziale Probleme zeigten. Dies mag sich jedoch nicht in einem besseren Wahlresultat widerspiegeln – es besteht sogar Gefahr, dass Podemos weitere Stimmen verliert, da der ehemalige Mitgründer Íñigo Errejón mit seiner neuen Partei Más País als direkte Konkurrenz mit in den Ring steigt.
Einer der größten Wahlverlierer könnte Albert Rivera und seine neoliberale Ciudadanos-Partei sein. Die Wählerbasis ist in zwei geteilt: auf der linken Seite die Befürworter*innen einer Koalition mit Pedro Sánchez, auf der rechten Seite die Unterstützer*innen, die genau das Gegenteil fordern. Umfragen zufolge soll etwa die Hälfte der Wähler*innen, die Ciudadanos im April ihre Stimme gaben, nicht wissen, ob sie Ciudadanos noch einmal wählen möchten. Rivera genoss im Sommer viel Aufmerksamkeit der Presse – allerdings nicht wegen seiner Politik, sondern wegen einer möglichen Beziehung zu einer Popmusiksängerin. Nun lehnt er sich immer weiter nach rechts und versuchte im Wahlkampf relativ verzweifelt, Leute auf seine Seite zu ziehen. Zuerst kopierte er Macrons Slogan „En Marche“, unterstrich dann mit Videos und Twitteraccounts seine Tierliebe. Bei der Fernsehdebatte am vergangenen Montag wedelte er mit gebrochenem Pflasterstein aus Barcelona und versicherte, Barcelona aus den Tumulten bringen zu können. Das bescherte ihm auf Twitter Hohn und Spott.
Gespannter Blick nach Katalonien
Der politische Mainstream hat sich nicht nur dank Ciudadanos nach rechts verlagert. Am Montagabend ließ man Santiago Abascal von Vox relativ ungeniert im Stile eines Matteo Salvini rassistische Ideen und Supportmessages für den spanischen Franquismus verbreiten. Ohne von anderen Parteileadern attackiert zu werden, durfte er über Mauern in den spanischen Enklaven in Afrika reden, Falange-Sätze über Patriotismus paraphrasieren und behaupten, dass man, wenn man die Krankenkasse für Immigranten schllösse, locker tausende Millionen Euro sparen könnte. Als ein Journalist ihn nach der Debatte wegen anderer falscher Zahlen ansprach, sagte er, diese Zahlen aus der Presse übernommen zu haben – unabhängig davon, ob die Zahlen richtig sei, würden sie die Sorgen der Leute widerspiegeln.
Auch muss man gespannt nach Katalonien blicken – nicht etwa um festzustellen, dass der Separatismus ein weiteres Mal als Wahlsieger hervorkommen wird. Sondern um zu beobachten, was um die Wahltage herum passieren wird. Aus radikaleren Kreisen ist zu hören, dass man versuchen wird, die Schulen am Vorabend der Wahlen zu blockieren, und damit eine Annullierung der Wahlen zu provozieren.
Tsunami Democràtic, die anonyme Separatist*innenbewegung übt sich in moderateren Tönen und fordert die Menschen auf, den Reflexionstag für Aktionen und den Wahltag fürs Wählen zu benutzen. Man plane dann weitere Aktionen für den 11., 12. und 13. November über eine eigens entwickelte App. Die Separatist*innen um Ezquerra Republicana, deren Parteileader Oriol Junqueras zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde, dürften die Wahlen in der Region wie schon im April relativ klar für sich gewinnen. Da die linke Separatist*innenpartei CUP zum ersten Mal auch landesweit kandidiert, bleibt nun nur noch offen, ob der Separatismus zum ersten Mal die magischen 50 Prozent der Wähler*innen erreichen kann.
Für alle Parteileader ist die Situation klar: Angesichts des Katalonienkonfliktes und einer möglichen ökonomischen Rezession sehnt man sich in Spanien nach einem „desbloqueo“ und einer stabilen Regierung. Wie klar die Lösung sein wird, werden wir am Sonntagabend sehen.