Im Sudan hat die paramilitärische Armee der „Rapid Support Forces“ nach monatelanger Belagerung al-Fashir angegriffen, die einzige Großstadt in der Region Darfur, die noch nicht unter ihrer Kontrolle steht. Den Verteidigern der Stadt geht es ums schiere Überleben. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von einer „schockierenden Notlage“ für Millionen Menschen im ganzen Land.
Der Krieg im Sudan eskaliert weiter. Mit dem Angriff der „Rapid Support Forces“ (RSF) auf al-Fashir, die Hauptstadt des sudanesischen Bundesstaats Nord-Darfur mit etwa zwei Millionen Einwohnern, spitzt sich nicht nur der seit April 2023 andauernde militärische Konflikt zwischen dem sudanesischen Militärregime und den Milizen der RSF zu, sondern auch die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in der Region Darfur im Westen des Sudan. Die von Mohammed Hamdan Dagalo (im Sudan meist Hemedti genannt) kommandierten RSF belagern seit Mai die Stadt al-Fashir und haben in der vergangenen Woche ihre Angriffe intensiviert. In der einstigen Regionalhauptstadt Darfurs halten sich viele Vertriebene aus ländlichen Regionen auf.
Die Stadt selbst wird nicht nur von der regulären sudanesischen Armee des Militärmachthabers Abdel Fattah al-Burhan verteidigt, sondern von großen Teilen der Bevölkerung. Die setzt sich überwiegend aus Angehörigen jener ethnischen Gruppen zusammen, die schon im Darfur-Krieg ab 2003 von den Janjaweed-Milizen angegriffen worden waren, aus denen die RSF hervorgingen (siehe „Zaungast beim Massenmord“ in woxx 911). Die Bevölkerung al-Fashirs hat daher genug Erfahrungen mit ihren Gegnern gemacht, um zu wissen, was ihr bei einer Eroberung der Stadt drohen könnte.
Die Janjaweed wurden Anfang des 21. Jahrhunderts vom arabisch-islamistischen Regime Omar al-Bashirs als irreguläre Milizen gegen die insbesondere von nichtarabischen ethnischen Gruppen getragenen Rebellen der „Sudan Liberation Army“ (SLA) und des „Justice and Equality Movement“ (JEM) eingesetzt und begingen schwere Kriegsverbrechen. Die RSF, die in von ihnen eroberten Städten bereits Massaker an nichtarabischen Zivilist*innen begangen haben, werden insbesondere von den Angehörigen der nichtarabischen, aber muslimischen Fur und Zaghawa gefürchtet, die primär die Basis der Guerillabewegungen bildeten, die von 2003 bis zum Sturz al-Bashirs 2019 kämpften. Nach über 20 Jahren Konflikt hat sich die Instrumentalisierung der arabischen Stämme durch das vormalige Regime mittlerweile in Darfur selbst zu einem ethnisierten Konflikt verfestigt.
Der Armee haben sich Kämpfer der früheren Rebellenorganisationen, wie des JEM, und einiger anderer Gruppen angeschlossen. Auch Frauen haben sich bewaffnet und versuchen, al-Fashir zu verteidigen. Dabei geht es den meisten Verteidigern der Stadt wohl nicht darum, sie für den aus dem Niltal stammenden al-Burhan zu halten, der sich schon im August 2023 aus der sudanesischen Hauptstadt Khartoum nach Port Sudan am Roten Meer im Nordosten des Landes abgesetzt hatte, wo sich mittlerweile die Regierung befindet; es geht den Verteidigern vielmehr um das schiere Überleben. Schon am 22. Mai war das Vertriebenenlager Abu Shouk nördlich von al-Fashir von den RSF überfallen worden, die folgenden Gewalttaten trieben über die Hälfte der fast 400.000 Bewohner*innen des Camps in die erneute Flucht.
Auch Frauen haben sich bewaffnet und versuchen, al-Fashir zu verteidigen.
Neben der Region um Khartoum und Omdurman bildet al-Fashir seit Monaten einen der Schwerpunkte der Kämpfe zwischen dem Militärregime und den RSF, die sich gegenseitig bekriegen, nachdem sie zuvor gemeinsam die Demokratiebewegung im Land unterdrückt hatten. Dabei geht es nicht nur um einen politischen Machtkampf zwischen al-Burhan und dem aus den arabischen Nomadenstämmen Darfurs stammenden Dagalo, sondern auch um ökonomische Interessen wie die Frage, wer Zugriff auf die Goldreserven Darfurs hat. Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland und die USA mischen auf je entgegengesetzten Seiten des Kriegs mit.
Al-Fashir ist von so wichtiger strategischer Bedeutung, weil es sich um die letzte Hauptstadt der nun in fünf Staaten unterteilten Region Darfur handelt, die noch nicht in die Hand der RSF gefallen ist: Geneina in West-Darfur wurde bereits im Juni 2023 von den RSF erobert, Zalingei in Zentral-Darfur im August 2023, Nyala in Süd-Darfur im Oktober und al-Daein in Ost-Darfur im November. Al-Fashir in Nord-Darfur ist damit die einzige Stadt im gesamten Westsudan, die bislang noch von der Regierungsarmee gehalten werden konnte. Außer einigen Berggebieten des Jebel-Marra-Massivs um die Kleinstadt Deribat im Süden, die vom „Sudan Liberation Movement (al-Nur)“, der vom ehemaligen Kommunisten Abdul Wahid Mohamed al-Nur und den ethnischen Fur geführten Fraktion des zersplitterten „Sudan Liberation Movement“ (SLM-AW), kontrolliert wird, ist der gesamte Westen des Sudan mittlerweile unter Kontrolle von Dagalos RSF.
Die SLM-Fraktion al-Nurs war eine der wenigen bewaffneten Guerilla- gruppen Darfurs, die nach dem Sturz al-Bashirs keinen Friedensvertrag mit der neuen sudanesischen Übergangsregierung unterzeichneten. Seitdem kontrollieren ihre Kämpfer Teile des unzugänglichen Berglands im Herzen Darfurs. Einige kleinere Gebiete am Nordrand Darfurs werden von anderen SLM-Fraktionen kontrolliert. Auch in diesen Rebellengebieten herrschen allerdings Hunger und Seuchen. Die medizinische Versorgung in dem völlig isolierten Gebiet scheint völlig zusammengebrochen zu sein.
Ähnliches gilt allerdings auch für den Rest von Darfur, viele andere Teile des Sudan und die Hauptstadtregion, in der Armee und RSF miteinander kämpfen. Viele Ärzte sind ins Ausland geflohen. Wer noch in Krankenhäusern und Arztpraxen ausharrt, hat kaum Zugang zu Medizin und medizinischen Geräten. Zehntausende Bewohner*innen Khartoums sind seitdem geflohen. Wer noch Verwandte auf dem Land hat, versucht, dort Zuflucht zu finden. Auch Port Sudan, wo sich die Regierung von al-Burhan befindet und dessen internationaler Flughafen im Gegensatz zu dem in Khartoum noch funktioniert, musste einen Zustrom aus der Hauptstadt verkraften.
Die Universitäten Khartoums haben teilweise ihren Betrieb eingestellt oder ins Exil verlagert. Die meisten von ihnen waren von beiden Kriegsparteien angegriffen worden. Wissenschaftsminister Mohamed Hassan Dahab verlautbarte Anfang 2024, dass viele Universitäten nach Ende des Kriegs bei null anfangen müssten, da Gebäude und Studentenheime zerstört seien.
Die Universitäten wurden dabei meist nicht unabsichtlich beschädigt, sondern gezielt beschossen und geplündert. Manche können zwar noch einen rudimentären Studienbetrieb aufrechterhalten, einige mussten jedoch völlig ihre Pforten schließen. Die Ahfad-Universität für Frauen hat ihren Studien- und Prüfungsbetrieb teilweise nach Kairo im nördlichen Nachbarland Ägypten verlagert.
Die Universitäten Khartoums haben teilweise ihren Betrieb eingestellt oder ins Exil verlagert.
Besonders fatal wirkt sich aus, dass mittlerweile über die Hälfte aller medizinischen Fakultäten des Landes völlig zerstört sind und damit auch keine neuen Mediziner*innen mehr ausgebildet werden können. Im April wurde eine sudanesische Studie pu- bliziert, wonach über 73 Prozent aller geschlossenen medizinischen Fakultäten geplündert und knapp 68 Prozent zu Militärcamps umgewandelt worden seien.
Anfang September schlug die „Weltgesundheitsorganisation“ (WHO) Alarm. Nach seiner Rückkehr von einem Besuch im Sudan sprach der WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus von einer „schockierenden“ Notlage von Millionen Zivilist*innen. Der im eritreischen Asmara geborene Biologe kritisierte dabei auch die „internationale Gemeinschaft“, die „den Sudan vergessen zu haben“ scheine und dem Konflikt, „der das Land zerreißt und Auswirkungen auf die Region hat, kaum Beachtung“ schenke.
Auch die Lage jener über 700.000 Flüchtlinge, die es aus Darfur in den benachbarten Tschad geschafft haben, wird immer prekärer. Dem Welternährungsprogramm der UN stehen angesichts der Krisen weltweit, ob in Syrien, dem Gaza-Streifen oder der Ukraine, so wenige Mittel zur Verfügung, dass die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern im Tschad im Sommer auf 1.100 Kalorien pro Tag und Person halbiert werden mussten. Normalerweise gelten 2.000 Kalorien als das Minimum. Seit Beginn des Kriegs mussten über neun Millionen Sudanes*innen entweder innerhalb des Landes fliehen oder den Sudan verlassen. Über sieben Millionen leben als intern Vertriebene in anderen Teilen des Landes, wo sie kaum internationale Hilfe erreicht.