Theater: Möglichkeitsräume im 
Realen


Ran an die Wirklichkeit, anstatt nur über sie zu lesen: ein Gespräch mit dem Theaterautor und Gesellschaftskritiker Milo Rau.

Er wurde schon als „Bertolt Brecht unserer Zeit“ bezeichnet – und so falsch ist der Vergleich womöglich nicht: 
der Theatermacher Milo Rau. (Foto: © Hannes Schmid)

woxx: Sie waren schon früh in Ihrem Leben auch außerhalb Europas unterwegs. Welche Rolle hat Reisen für Ihre Entwicklung gespielt?


Milo Rau: Eine sehr wichtige. Ich bin der Meinung, dass man sich die Welt anschauen muss. Dann blickt man zugleich von außerhalb auf Europa. Es ist zum Beispiel eine Sache, darüber zu sprechen, was europäische Firmen in Lateinamerika oder Zentralafrika machen, und eine andere, es selbst zu sehen. Und indem man über die Jahre hinweg auch Bekannte und Mitstreiter gewinnt, die in den betreffenden Regionen leben, beginnt man anders zu arbeiten und eine andere Perspektive auf die Probleme dieser Welt zu entwickeln.

Sie haben ein Tribunal organisiert, um den Kongo-Krieg und die Rolle Europas anzuprangern. Kann Kunst auch Recht sprechen?


Kunst kann einen symbolischen Raum öffnen, in dem etwas geschieht, was eigentlich andernorts passieren sollte, beispielsweise im Rechtssystem. Das Kongo-Tribunal hat drei reale Fälle verhandelt, so wie es nach kongolesischem und internationalem Recht eigentlich geschehen müsste, mit Richtern aus Den Haag, betroffenen Ministern, Rebellen, Leuten von Firmen und so weiter. Natürlich war darin die Forderung enthalten, dass es eigentlich ein solches juristisches Tribunal geben müsste. Auch die Parlamente in Europa, die heute ganz selbstverständlich für uns sind, waren bei ihrer Gründung eher Versuche, fast schon künstlerische Projekte. Man hat gesagt, so und so müsste das aussehen, lasst uns das ausprobieren, und dann hat man das durchgesetzt. Meine Tribunale und Prozesse sind Anleitungen dafür, wie es sein könnte. Das ist, neben der Darstellung und Erzeugung von Präsenz und Komplexität, meiner Meinung nach eine Funktion, die Kunst haben kann: Zukunftsräume, Möglichkeitsräume im Realen zu zeigen.

„Auch die Parlamente Europas waren bei ihrer Gründung Versuche, fast schon künstlerische Projekte.“

Zurzeit bekleiden Sie in Saarbrücken die Poetikdozentur für Dramatik. Was dürfen Ihre Studenten erwarten?


Die erste Vorlesung am vergangenen Montag trug den Titel „Das historische Gefühl“. Es ging vor allem darum, wie man überhaupt die Wirklichkeit und die Geschichte auf die Bühne bringen kann. In der zweiten Vorlesung wird es vor allem um Effekte der Darstellung, der Präsenz gehen: Was es bedeutet, wenn jemand seine Geschichte auf der Bühne erzählt oder überhaupt etwas auf der Bühne geschieht. Der dritte Teil wird dem „globalen Realismus“ gelten, dem symbolischen Akt. Also beispielsweise der von Ihnen angesprochenen Frage, wie man auf der Bühne ein Weltgericht der Zukunft darstellen kann, welches die utopischen Möglichkeiten der Bühne sind.

Vor einigen Jahren haben Sie in einem Buch eine Kritik der postmodernen Vernunft formuliert. Mittlerweile scheint diese postmoderne Vernunft, die Wahrheit durch ein Diktat der Notwendigkeiten ersetzt, zu einer politischen Allzweckwaffe für Merkel, Macron und Co. geworden zu sein.


Macron vertritt eigentlich überhaupt keine Überzeugung und leugnet die Existenz des Politischen an sich. Wogegen man sich wehren muss, ist die Haupttendenz der postmodernen Vernunft, gesellschaftliche Widersprüche zu leugnen: die Behauptung also, dass es nur Individuen gibt, die voneinander unabhängige Interessen vertreten. Diese Behauptung ist ja eigentlich der Kern des Postmodernen. Daher geht es darum, dass man wieder erkennt, dass es Solidargemeinschaften gibt, dass es etwas gibt, was uns alle gemeinsam betrifft.

Ist die Postmoderne also erledigt?


Sie muss erwachsen werden. Die Postmoderne stand ja auch dafür, dass es nicht nur eine Sicht auf die Welt gibt, der sich alle anzupassen haben, sondern dass man versucht, eine vielschichtige Sicht auf die Gesellschaft zu ermöglichen. Aber nun muss man wieder eine Richtung finden, in die man gemeinsam gehen kann.

(Foto: YouTube)

Erklärt das die momentane Beliebtheit von Intellektuellen wie Didier Eribon?


Was Eribon macht, ist ja so etwas wie der Versuch einer Rückkehr zum klassischen linken Denken. Ähnlich wie Teile der Linken hat sich auch das europäische Theater sehr lange mit einer Houellebecq’schen Sicht auf das Individuum aufgehalten, wonach alle Elementarteilchen sind, die herumschwirren und die Herkunft und alle anderen sozialen Bestimmungen sind egal. Einerseits hat es eine befreiende Wirkung, wenn man behauptet, Nationalstaat, Patriarchat und das alles gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite vernichtet es Utopien. Wenn man behauptet, es gebe keine Arbeiterklasse, jeder habe sein Schicksal und seine Chancen selbst in der Hand, dann lässt man Millionen von Leuten in den sozialen Umständen stecken, die sie zur Arbeiterklasse machen: in Abhängigkeitsverhältnissen von Lohnarbeit, Billiglohn oder in der Arbeitslosigkeit. Das bedeutet allerdings nicht, dass jede identitätspolitische Forderung abgetan werden muss, das ist einfach ein gleichzeitig ablaufender Kampf.

Wie kann ein solcher Kampf heute aussehen?


Ich beschäftige mich gerade wieder einmal intensiv mit der Russischen Revolution, also mit dem Übergang vom klassischen sozialrevolutionären Denken zu einem Standpunkt, wie Lenin ihn vertreten hat. Er hat ja gelehrt, dass man mit einer politische Idee zur Avantgarde werden kann, wenn man eine Gruppe anspricht, bei der man mit diesen Ideen verfängt. Lenin mit seiner Mini-Partei der Bolschewisten sagte: „Wir bringen Frieden, wir bringen Land, wir bringen Brot!“ Und das wollten die Leute, und auf diese Weise haben die Bolschewisten die Macht übernommen. Das ist eine politische Lehre, die sehr einfach ist. Darauf muss man sich besinnen.

Ab 2018/19 sind Sie Künstlerischer Direktor des Nationaltheaters Gent. Ist Belgien eine Art europäisches Labor für Sie?


Ich denke schon, auch hinsichtlich einer Verschränkung von gegenwartsbezogenen Produktionsweisen wie dem Tourtheater (von Produktionen, die auch andernorts gezeigt werden; Anm. d. Red.) und der Performance einerseits, sowie andererseits dem Ensemble- und Klassikertheater mit den großen Stoffen. Wir werden zwei Dinge zusammenführen, die eigentlich gar nicht zueinander passen. Und zwar nicht über einen hysterischen Aktualismus, sondern über die Zeittiefe, die ja in den heutigen Problemen steckt. Man schaut dann aus der Tiefe der Zeit heraus auf die Gegenwart und fragt sich: In welcher jahrtausendealten Komödie oder Tragödie stecken wir eigentlich drin?

Wann sind Sie in Luxemburg mit einer Produktion zu Gast?


Aktuell noch nicht, aber ich habe in letzter Zeit öfters daran gedacht. Mit meiner Tätigkeit in Gent wird das bestimmt klappen. Ich glaube, die koproduzieren zum Teil schon mit Luxemburg, und das möchte ich ausbauen. Ich hoffe natürlich, dass ich am Dienstag (siehe Kasten; Anm. d. Red.) noch ein paar Leute kennenlerne, dann kann man das gleich in Angriff nehmen.


Er ist Regisseur, Theaterautor, Essayist, Filmemacher und noch vieles mehr: der aus der Schweiz stammende Tausendsassa Milo Rau. Nächstes Jahr übernimmt der 40-Jährige die Leitung des belgischen Nationaltheaters in Gent. Zurzeit entwickelt Rau, dessen Arbeiten Alexander Kluge einmal als „Real-Theater“ bezeichnet hat, im Rahmen der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik eine „Poetik des globalen Realismus“. Am Dienstag, dem 23. Mai spricht Rau hierüber auf Einladung des Institut Pierre Werner um 19 Uhr in der Abtei Neumünster und diskutiert seine Thesen auch mit der österreichischen Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Elisabeth Tropper.


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