Mit seinem Debütroman „What Belongs to You” gelang dem amerikanischen Autor Garth Greenwell vor fünf Jahren ein Überraschungserfolg. Seine Kurzgeschichten-Sammlung „Cleanness” erfüllt die hohen Erwartungen.
Es gehört Mut dazu, wenn ein Autor in seinem lang erwarteten zweiten Werk keine neue Geschichte erzählt, sondern Texte vorstellt, die auf den ersten Blick wie Nachträge seines Debüts wirken. Wer Garth Greenwells 2016 erschienenes Buch „What Belongs to You“ (dt. Was zu dir gehört; Hanser Verlag) gelesen hat, dem werden die Schauplätze und Protagonisten von „Cleanness” bekannt vorkommen. In beiden Fällen ist der Ich-Erzähler ein homosexueller Amerikaner, der in der bulgarischen Hauptstadt Sofia an einem Gymnasium lehrt. Er berichtet von Bekanntschaften, die er knüpft, sexuellen und platonischen Freundschaften, manche von ihnen werden zu Liebesbeziehungen.
Der im US-Bundesstaat Kentucky geborene Greenwell lehrte selbst in Sofia, es gibt viele Schnittstellen zu seiner eigenen Biografie, aber in Interviews betont der 41-Jährige, dass seine Texte nicht autobiografisch seien. Manchmal bringe dieses Missverständnis ihn in unangenehme Situationen mit Leser*innen, erzählte Greenwell jüngst der „New York Times“; und zwar immer dann, wenn sie seine Bücher wie Schlüsselromane läsen, was sie nicht seien.
Der Autor Greenwell ist kein Erzähler im klassischen Sinn, er denkt sich keine ausgeklügelten Geschichten aus, die auf rasches Weiterblättern drängen. Dynamik und Spannung ergeben sich bei ihm einzig und allein aus Begegnungen. Die Handlung der Geschichten an sich wirkt fast nebensächlich: Ein Gespräch mit einem Schüler über Poesie, ein Ausflug nach Italien mit dem Lebensgefährten, der sich dort zum ersten Mal traut, öffentlich Zuneigung zu zeigen, eine Party mit Studenten, in dessen Verlauf der Erzähler vermeintlich eine Grenze überschreitet. Bei seinen Protagonisten handelt es sich vorrangig um Männer, aber Greenwell seziert ihr Innenleben und betrachtet es so akribisch, dass seine Schilderungen schließlich universell werden.
Der Grund, weshalb seine Leserschaft manchmal eine fast intime Verbindung zu Greenwell verspürt, ist die Tatsache, dass er sehr explizit über sexuelle Begegnungen schreibt. „100 Prozent Pornografie und 100 Prozent hohe Kunst”, sei es, was er anstrebe, sagte Greenwell der „New York Times“.
Bei seinen Protagonisten handelt es sich vorrangig um Männer, aber Greenwell seziert ihr Innenleben und betrachtet es so akribisch, dass seine Schilderungen schließlich universell werden.
Es ist ein schwieriges Unterfangen, über Sexualität zu schreiben, besonders wenn ein Autor oder eine Autorin versucht, die Erregung, welche die Figuren vermeintlich empfinden, auf die Leser*innen zu übertragen. Daran sind schon namhafte Autoren wie James Salter gescheitert. Greenwell dagegen inszeniert den Akt nicht, sondern dokumentiert die Abläufe in den Geschichten „Gospodar” und „Little Saint” fast chronologisch. Gleichzeitig registriert er wie ein Seismograf jede Gefühlsregung, analysiert diese ebenso feinfühlig wie eindringlich, ohne sie zu zerreden: Es entsteht ein eigenartiger Gegensatz zwischen der zeitweiligen Grobheit des Aktes und der Feingliedrigkeit der Schilderung.
Statt Erregung erzeugt Greenwell lieber das leichte Schwindelgefühl, welches aus Unsicherheit entsteht. „Gospodar” liest sich fast wie ein Thriller. Wie sein Protagonist lassen sich die Leser*innen auf die Begegnung ein, wenn auch nur in ihrer Imagination. Bei Greenwell geht es um Macht und um Verletzlichkeit, um die Spannungsfelder, in denen eine Verbindung entsteht oder eben nicht.
Greenwells Debütroman „What Belongs to You” handelte ebenfalls von einem amerikanischen Lehrer in Sofia, der an einem bekannten Cruising-Treffpunkt den Stricher Mitko kennenlernt, eine Beziehung mit ihm eingeht und sich schließlich in ihn verliebt. Durch die ganze Erzählung zieht sich die Frage, ob es richtig ist, dem jungen Mann zu vertrauen oder ob der Protagonist sich, von seinen Gefühlen geblendet, unter Umständen in Gefahr begibt.
Immer wieder beharrt Greenwell in „Cleanness” auf dem Kontrast zwischen Scham und Reinheit: Die Scham angesichts empfundener Wünsche, die von der Gesellschaft unter Umständen geächtet werden könnten, hat der Ich-Erzähler verinnerlicht: „He would never be called a faggot, I thought, whatever the nature of his desires”, schreibt er über den Mann, auf den der Ich-Erzähler in „Gospodar” trifft.
Denn es gibt Männer, die ihre Sexualität nur schamvoll auszuleben vermögen, immer in der Angst, erkannt zu werden – besonders in Bulgarien, wo Homosexualität gesellschaftlich wenig Akzeptanz erfährt. Und es gibt solche, die durch ihr selbstbewusstes Auftreten dem vermeintlich klassischen Männlichkeitsbegriff entsprechen, und somit ihren Wünschen eher geschützt vor den Verdächtigungen und Mutmaßungen der Öffentlichkeit nachgehen können.
Greenwell vermag diese Differenz herauszuarbeiten. In der Geschichte „Cleanness” schildert er, wie Sex für den Protagonisten immer eine beängstigende und beschämende Angelegenheit war – eine Scham, die er zum Beispiel durch Erniedrigung seiner selbst und anderer zu exorzieren versucht – bis eben diese Scham und Angst sich durch die Liebesbeziehung zu einem jungen Mann auflösen.
Es ist bewundernswert, wie es Greenwell gelingt, sich nie im Ton zu vergreifen, die richtige Mischung zu finden zwischen Zurückhaltung und Tiefe, komplexe Zusammenhänge in klare, elegante Sätze zu fassen, die alles sagen und doch Räume für die Leser*innen öffnen, in denen sie noch Platz für eigene Interpretationen finden.
In „An Evening Out” bereut der Protagonist zuerst die Avancen, die er unvorsichtig einem Studenten macht, fürchtet, zum Gespött zu werden, revidiert dann aber seine Einschätzung. Die Reinheit ist nicht das Vermeiden von Scham, sondern die Möglichkeit, diese Scham abzulegen, indem man alle Facetten seiner Wünsche als Teil seiner selbst akzeptiert.