Während des Ersten Weltkriegs war die Parole des Selbstbestimmungsrechts der Völker in aller Munde. Auch in Luxemburg hoffte man, mit diesem Argument seine Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
„In Erwägung, daß Annexionen volksfremder Gebiete gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen […], bekämpfen wir die darauf abzielenden Pläne kurzsichtiger Eroberungspolitiker,“ erklärte die deutsche SPD im August 1915 in einer Stellungnahme zur Frage der Kriegsziele, die im Luxemburger „Tageblatt abgedruckt wurde. [1] 1915 glaubte Deutschland noch an seinen Sieg. Es geschah daher sicher nicht nur zum Zeilenfüllen, dass die links-liberale Zeitung diese Stellungnahme auf ihrer ersten Seite einrückte. In Luxemburg standen deutsche Truppen, und die Zukunft des Großherzogtums war alles andere als klar. Viele nahmen aber an, dass Luxemburg nach dem Krieg zu einem deutschen Bundesland werden würde.
Ein dehnbarer Begriff
Dass aber die Ansichten der deutschen Sozialdemokraten zum Selbstbestimmungsrecht ziemlich speziell waren, konnte man auch in dieser Stellungnahme erkennen: Elsass-Lothringen wollte man nicht wieder hergeben, und bezüglich der deutschen Kolonien wurde „gleiches Recht für wirtschaftliche Betätigung in allen kolonialen Gebieten“ verlangt. Die französische sozialistische Partei ihrerseits hatte, nicht ohne Hintergedanken, das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung in Elsass-Lothringen verlangt. Im Mai 1917 wurde deshalb ein internationaler sozialistischer Kongress einberufen, der den zukünftigen Status verschiedener Gebiete, die durch den Krieg betroffen waren, klären sollte.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein Konzept der Aufklärung, das schon vor dem Ersten Weltkrieg eine neue Blüte erlebt hatte, war also auch in der Linken ein gern benutztes Argument. Der russische Arbeiter- und Soldatenrat in verkündete in seinem Aufruf an die sozialistischen Parteien in der Welt vom Juni 1917, mitten in der Russischen Revolution: „Der Arbeiter- und Soldatenrat, und mit ihm die ganze Demokratie, haben auf ihr Banner einen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen geschrieben, der auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht.“ [2] Und ein halbes Jahr später hielt Trotzki während der Verhandlungen für einen Kriegsaustritt von Russland in einem Aufruf fest: „Es ist klar, daß, wenn man einerseits für die fremden Völker feindlicher Staaten das Selbstbestimmungsrecht fordert, aber anderseits dieses Recht den Völkern der eigenen Staaten und Kolonien vorenthält, dies nichts andres bedeutet als die Verteidigung eines verkappten, aber zynischen Imperialismus.“ [3]
Das war Wasser auf die Mühlen der vielen Unabhängigkeitsbewegungen, zum Beispiel in Irland oder Indien, aber auch von Ländern, die im Kriegsverlauf ihre Eigenständigkeit gewonnen hatten – zum Beispiel Polen – oder denen sie, umgekehrt, besetzt worden war, wie etwa Serbien, Belgien oder… Luxemburg. Ende Januar 1918 druckte das „Tageblatt“ die Forderungen der Ukraine bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk ab, in denen u.a. gefordert wurde: „Der zwischen allen Mächten zu schließende Frieden muß demokratisch sein und einem jeden, auch dem kleinsten Volk in jedem Staat, das volle, durch nichts beschränkte nationale Selbstbestimmungsrecht sichern.“ [4]
Unabhängigkeit oder Annexion?
Kurz vor Ende des Krieges, im Oktober 1918, wies dieselbe Zeitung auch darauf hin, dass ein „sozialwissenschaftlicher Akademikerverein“ eine Petition zugunsten des Selbstbestimmungsrechts Luxemburgs im Parlament eingereicht habe, unterzeichnet von dem jungen Studenten Gust van Werveke. [5] Doch was bedeutete das konkret für Luxemburg? Selbst zu bestimmen, ob Luxemburg in Frankreich bzw. Belgien aufgehen oder als selbständiger Staat erhalten bleiben solle? Die Rechtspartei, der immer wieder vorgeworfen wurde, sie habe zu Beginn des Krieges mit Deutschland sympathisiert, machte sich in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit stark. Und das katholische „Luxemburger Wort“ setzte sich zunehmend für ein Referendum ein, in dem der Erhalt der Monarchie, implizit damit aber auch die Unabhängigkeit Luxemburgs zur Abstimmung gestellt werden sollte: „Präsident Wilson hat das Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Völler in die Welt hinausgerufen, die Entente-Mächte haben sich zu ihm bekannt, die maßgebenden Stellen in der großen Welt draußen räumen auch uns dieses Recht ein bis zu dem Grade, daß sie jeden Zweifel daran für eine Beleidigung erklären. Aber da finden sich Luxemburger, die um jeden Preis ihren Mitbürgern das gedachte Recht streitig machen möchten. Sie fürchten den Spruch des Volkes, weil sie ihre persönlichen oder Parteiinteressen über die Interessen des Volkes gestellt haben.“ [6]
Dies zielte auf die Liberalen sowie die Sozialistische Partei. Manche aus diesem Spektrum plädierten explizit für einen Anschluss an Belgien oder Frankreich. So warf das „Wort“ der liberalen „Luxemburger Zeitung“ vor, sie betreibe eine Kampage für den Anschluss an Belgien. Andere gaben sich nuancierter: Im „Tageblatt“ konnte man Anfang 1919, kurz nach der gescheiterten Ausrufung einer Luxemburger Republik, lesen: „Unabhängigkeit! Was heißt Unabhängigkeit? Im Sinne der extremen Autonomisten heißt es eine künstliche Erhaltung unserer verkrachten Kleinstaaterei, die höchstens durch eine unvermeidliche Zollunion mit einem größeren Nachbarlande etwas gehoben wird. Im Sinne wahrer Patrioten heißt es eine Erhaltung unserer nationalen Institutionen, die Möglichkeit, Herr im eigenen Hause zu sein und durch ökonomisch-politische Übereinkommen mit dem politisch und geistig starken Frankreich eine Erweiterung und Steigerung unseres nationalen Lebens zu erzielen.“ [7]
Die libertäre Wochenzeitung „Der Arme Teufel“ wollte sich auf keine Position festlegen, betonte aber, eine gemeinsame Sprache könne kein Argument für oder gegen einen Anschluss sein. Die mehrsprachige Schweiz funktioniere sehr gut, und umgekehrt habe eine gemeinsame Sprache keine ausschlaggebende Bedeutung: „Wären die Neger der Republiken Haiti und San Domingo von Frankreich als echte Rassenbrüder zu beanspruchen, weil sie von ihren frühern Herren die französische Sprache ererbt haben? Sympatie und Volkscharakter wären daher eher zu berücksichtigen als die Sprachen.“ [8]
Sozialistische Republik
In der Zeitung „Die Schmiede“, Sprachrohr der sozialistischen Partei, lässt sich nachverfolgen, wie sich die Standpunkte in dieser Frage ab 1917 veränderten. In einer hier abgedruckten Resolution an den Stockholmer Kongress stellte sich die Partei hinter die russische Forderung nach einem Frieden auf Basis des Selbstbestimmungsrechts. Neben Belgien und Elsass-Lothringen gehe es aber auch um Luxemburg, das von einer fremden Macht ohne Rücksicht auf internationale Verträge militärisch besetzt worden sei: „Nous sommes convaincus que l’Internationale Ouvrière soutiendra nos efforts pour reconquérir notre indépendance et qu’elle accordera à un petit peuple libre le soin de chercher lui-même ses destinées futures.“ [9] Auch im September 1918 wurde in der Zeitung noch Klartext gesprochen: „Autonomie und Unabhängigkeit heißt nicht Abschließung und lsolierung von den anderen Völkern; im Gegenteil, wir wollen innige und dauerhafte Beziehungen zu unsern Nachbarn unterhalten, aber wir wollen diese Verbindungen in voller Freiheit und Mündigkeit anknüpfen, wobei wir alle fremde Einmischung und jeden Versuch, uns eine Fremdherrschaft aufzuerlegen, zurückweisen, so verlockend sie uns auch winke.“ [10]
Als aber im Januar 1919 die Sozialistische Partei auf einen außerordentlichen Kongress zur Anschluss-Frage einlud, druckte die „Schmiede“ kommentarlos zwei verschiedene Stellungnahmen ab: In der einen verlangte die „Ortsgruppe Esch“, dass das Luxemburger Proletariat sich seinem „Stammland“ anschließen solle: „Im Verein mit unseren Genossen Frankreichs wollen wir am Zustandekommen der sozialen Gerechtigkeit arbeiten und den Brüdern aus allen anderen Nationen, welche ja alle dem Völkerbund angehören werden, ein leuchtendes Beispiel geben, damit sie auch rasch in ihrer Heimat den Zustand erreichen, welcher die Abschaffung aller Grenzen ermöglicht.“ [11] Die zweite trat dagegen für ein eigenständiges Luxemburg ein: “Wie? Zu allen Zeiten und bei allen Völkern galt es als das größte Glück, selbst seine Geschicke zu leiten, sich selbst die Gesetze zu geben, und ihr Luxemburger wollt euch in die Knechtschaft begeben? […] Doch weshalb länger bei euch „Annexionisten“ verweilen? Ihr seid eine Handvoll sog. Intellektueller, ein Fähnlein‘ Führer, die keinen Anhang im Volke haben, es mag eurer Ideologie und eurem Stolze passen, Bürger eines großen Staatswesens zu werden: Aber das Volk? Was hat das Volk davon, wenn es von Paris oder Brüssel aus regiert wird?”
Es war dieser zweite Standpunkt, der sich beim Parteitag am 5. Januar 1919 durchsetzte: Die Sozialistische Partei entschied sich einstimmig, “für die Autonomie des Luxemburger Landes unter Errichtung einer Republik einzutreten”. [12] In der „Schmiede“ wurde zudem aber auch noch eine originelle Prognose gemacht. Weil die Klerikalen die Bauersleute im Norden und im Osten des Landes fest im Griff habe, könne es noch so weit kommen, „daß der eine Teil zur autonomen Republik sich bekennt und der nördliche Teil […] die Nassauer behält“. [13] Damit war das Resultat des Referendums schon vorausgesagt, das im September 1919 die Frage der Staatsform klären sollte.
Dieser Beitrag zum Medienprojekt „1917“ wurde zuerst am 16.12.2017 in einer Tonversion auf Radio 100,7 ausgestrahlt. Mehr zum Medienprojekt auf 1917.woxx.lu.