„Wir“ von Tristan Garcia: Wer „Wir“ sagt, muss auch „Andere“ sagen

Tristan Garcia untersucht in seinem philosophischen Essay kollektive Identitäten. Über das Buch, den „Wir“-Begriff in Corona-Zeiten und die Fernsehsendung „1, 2 oder 3“.

Tristan Garcias „Wir“ erschien 2018 in der deutschen Übersetzung von Ulrich Kunzmann im Suhrkamp Verlag. Unter „Nous“ wurde das Buch bereits 2016 auf Französisch bei Grasset Éditions publiziert.

„Der ‚Kampf der Kulturen’, die Debatte um ‚den’ Islam, um Geflüchtete, Rassismus, Feminismus oder ‚politisch korrekte’ Sprache, um die Rechte der Tiere – immer geht es darum, im Namen eines ‚Wir’ zu sprechen, sich abzugrenzen oder zu inkludieren, sich zu mobilisieren und zu organisieren. Die Intensität dieser Wir-Bildungen nimmt wieder enorm zu“, steht in der Inhaltsbeschreibung zu Tristan Garcias Buch „Wir“. Doch was heißt es, „Wir“ zu sagen? Wie bilden sich Kollektive? Inwiefern braucht ein Kollektiv ein Gegenüber, von dem es sich abgrenzt?

Garcia beobachtet in seinem Essay unter anderem, wie sich die Bildung von Kollektiven über die letzten zwei Jahrhunderte verändert hat. Er hangelt sich dafür von Gender und Tierrechten weiter zu Debatten über Rasse und Klasse bis hin zur Frage, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Alter und Herrschaft entwickelt hat. Bei Garcia geht es, kurz gesagt, ums Ganze. Er versucht dabei vor allem eins: Herauszuarbeiten, was die Menschen verbindet und was sie trennt. Die Argumente, die er aufführt, überzeugen mal mehr, mal weniger. In Zeiten der Corona-Krise gibt die Lektüre von „Wir“ dennoch interessante Denkanstöße, um die gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Ausgangssperre zu analysieren.

Ein Aspekt, der all jenen gemein sein soll, die sich als Kollektiv verstehen, ist laut Garcia, dass sie eine feindliche Gegenseite wahrnehmen. Gleichgesinnte Menschen tun sich, beispielsweise auf politischer Ebene, zusammen, weil sie die Ansichten anderer Gemeinschaften nicht teilen und gegen sie ankämpfen. Für Garcia ist dies ein bedeutendes Moment jeder Kollektivbildung, unabhängig von ihrer Gesinnung. „Keine Gemeinschaft kann sich ‚Andere’ ersparen, an denen sie die in der Gruppe akkumulierte Aggressivität auslässt“, schreibt er, „und im Verlauf der kollektiven Expansion verringert sich diese nicht, sondern steigert sich.“

Kein „Wir“ ohne die anderen

Das Schema, das Garcia aufzeigt, offenbart sich auch während der Corona-Krise in mehreren Hinsichten. Die Verschwörungstheoretiker*innen identifizieren Politik, Wissenschaft und Wirtschaft als die Feind*innen, die derzeit die Welt mit Lug und Trug ins Verderben stürzen. Sie verstehen sich als Kollektiv, das die Machenschaften der Herrscher*innen durchschaut hat, und die Menschheit aufklärt. Gebe es die „Anderen“ nicht – weder die Feind*innen noch die Mitmenschen – hätten sie keine Angriffsfläche. Ihre Theorien kämen womöglich gar nicht erst zustande, würden in jedem Fall aber nicht gehört. Verschwörungstheoretiker*innen sind ein Kollektiv, das während der Corona-Krise zur Höchstform aufläuft.

Zwei weitere feindliche „Wir“-Gemeinschaften, die sich während der Krise gebildet haben: Die #bleifdoheem-Fraktion und die, die auf die Ausgangssperre pfeifen. In den sozialen Netzwerken kam es in den letzten Wochen des Öfteren zur Veröffentlichung von Beiträgen und Bildern, die zur Quarantäne aufriefen oder Menschen öffentlich verurteilten, die in größeren Gruppen im Freien gesichtet wurden. Die Bevölkerung scheint in zwei Lager geteilt, die die Maßnahmen der Regierung unterschiedlich bewerten und respektieren.

Covid-19 spaltet die Gesellschaft aber gleichzeitig auch in Risikogruppen und in weniger gefährdete Menschen. Zwar handelt es sich hierbei nicht um ein feindliches Verhältnis, wie es Garcia in dem oben erwähnten Zitat beschreibt, doch funktioniert die Differenzierung zwischen „Wir“ und den „Anderen“ ähnlich. Das äußert sich vor allem in der Rhetorik mancher Politiker*innen. „Wir müssen sie schützen, sie müssen sich schützen“, betonte Familienministerin Corinne Cahen beispielsweise kürzlich in einer Pressekonferenz zu den abgeänderten Besuchsrechten in Alters- und Pflegeheimen. „Sie“ sind in dem Fall Senior*innen, die zu einer der Risikogruppen gehören, und „Wir“ sind die Menschen, denen bei einer Infizierung mit Covid-19 für gewöhnlich ein weniger komplizierter Krankheitsverlauf bevorsteht.

Umgekehrt sind letztere für die Risikogruppen ebenso die „Anderen“ – die anderen, die Rücksicht auf sie, die Menschen mit Vorerkrankung oder in hohem Alter, nehmen sollten. In Deutschland mobilisierten sich zum Beispiel unter dem Hashtag #Risikogruppe junge Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen ähnlich wie Senior*innen einen schweren Krankheitsverlauf bei einer Corona-Erkrankung riskieren. „Hi wir sind´s, die #Risikogruppe“, schrieb einer der Teilnehmer*innen unter seinen Beitrag zur Aktion.

„Wir“ sind momentan demnach sowohl diejenigen, die zu den Risikogruppen gehören als auch die, die weder an altersbedingter Immunschwäche noch an anderen gesundheitlichen Problemen leiden. Covid-19 hat diese Unterscheidung nicht generiert, doch hat der Ausbruch der Pandemie weltweit verstärkt die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen gesundheitlichen Lebensrealitäten gelenkt. Der Schutz und die Sichtbarkeit der Risikogruppen ist zum gemeinsamen Anliegen geworden, das beide Wir-Gemeinschaften gewissermaßen verbindet, ohne ihre unterschiedlichen Gesundheitszustände aufzulösen.

„Wir“ will herrschen

Ein zweiter Aspekt, den Garcia allen „Wir“ zuschreibt: Sie herrschen und fühlen sich zugleich beherrscht. Er unterscheidet in dem Zusammenhang zwischen der realen Herrschaft, die faktisch mit Statistiken und Zahlen belegbar ist, und dem Herrschaftsgefühl. Letzteres beschreibt das Phänomen, dass sich bis dato privilegierte Personengruppen durch die Forderungen und die politischen Erfolge marginalisierter Bürger*innen von diesen beherrscht fühlen. Garcia zieht das Beispiel der Emanzipationsbewegung der Frauen heran, die unter privilegierten Männern zu einem Gefühl der Entmachtung und Männerrechtsbewegungen geführt hat. Garcia bekräftigt das Gefühl der vermeintlich Entmachteten, wenn er schreibt: „Je mehr man die reale Herrschaft beweisen muss, desto mehr muss man kämpfen, um eine bestimmte Herrschaftsdiagnose durchzusetzen (der Männerherrschaft, der kolonialen und postkolonialen Herrschaft usw.). In diesem Kampf darum, unsere Diagnose des Herrschaftszustands gegen den von „ihnen“ durchzusetzen, bekommt die Gegenherrschaft zwangsläufig Herrschaftswirkungen.“ Garcia betont weiter, dass man Machtstrukturen unmöglich anfeinden könne, „ohne selbst ein wenig zu herrschen“.

Der Philosoph spricht in mehreren Kapiteln über die strukturelle Diskriminierung von Minderheiten, über Mehrfachdiskriminierung und die Hierarchisierung von Macht. Geht seine These also wirklich auf? Es ist schwer, Garcias Überlegungen gutzuheißen, bleibt marginalisierten Gruppen doch keine andere Möglichkeit, um auf ihre prekäre Situation hinzuweisen, als die Herrschaft der anderen offenzulegen. Auch Florian Meinel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übt Kritik an Garcias Aussage: „Garcia zeigt, dass sie [die minoritären Identitäten] taktisch und semantisch darin gefangen sind, die Macht der anderen und die Hegemonie einer feindlichen Mehrheit aufzuzeigen. Indem Garcia so tut, als sei das Pronomen ‚wir’ immer auf ein handelndes kollektives Subjekt bezogen, macht er seinen identitären Gegnern bereits ungewollt eine gewichtige begriffliche Konzession. Prekär ist aber gerade die Organisierbarkeit und damit die Repräsentationsfähigkeit von Kollektiven, die aus den alten Klassifikationssystemen herausfallen.“

Garcia selbst schreibt paradoxerweise später im Text, dass die Herrschenden immer diejenigen sind, „die über die sozialen, geistigen und rechtlichen Mittel verfügen“. Das sind mitnichten marginalisierte Personengruppen, die eine kritische Analyse alter Herrschaftsstrukturen durchführen und durch ihren Aktivismus für mehr Gleichheit eintreten. Besonders in Krisenzeiten leiden Frauen, sexuelle Minderheiten oder Menschen mit Migrationshintergrund besonders stark unter den bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Zum einen, weil sie zum Großteil in von der Krise geschüttelten Arbeitsbereichen tätig sind – Reinigungssektor, Gastronomie –, zum anderen, weil sich ihre bereits bestehende gesellschaftliche Ausgrenzung aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer sexuellen Orientierung durch die Isolation verstärkt hat.

Allgemein will Garcia über das gesamte Buch hinweg aufweisen, dass traditionelle Kategorien – Klasse, Herkunft, binäres Geschlechtsmodell – nach denen sich früher Kollektive gewissermaßen schon bei der Geburt bildeten, eigentlich ausgedient haben und komplexere Wir-Identitäten an ihre Stelle gerückt sind. Dieser Prozess führt aber, wie bereits erwähnt, zum Gefühl der Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen und zum Erstarken von Protestbewegungen (Anti-Gender- oder anti-feministische-Bewegungen).

Für Garcia muss diese Situation „ermöglichen, zu verstehen, dass eine politische Idee keine gerechte Idee, keine reine Befreiungslösung ist und es nicht sein kann. Vielmehr ist sie die vernünftig begründete Aushandlung von etwas weniger Herrschaft für etwas mehr Herrschaftswirkung. Keine Herrschaftspolitik ist davor sicher, befreiende Wirkungen zu haben, ganz im Gegenteil, und keine reaktionäre Politik ist davor sicher, progressive Wirkungen zu haben. Für uns gibt es keinen wirklichen Sieg, es gibt nur Wahlmöglichkeiten, die man eher auf sich nimmt als erleidet.“ Es sei dahingestellt, inwiefern beispielsweise die gesetzliche Verankerung des Schutzes gegen die Diskriminierung marginalisierter Personengruppen keine gerechte politische Idee ist. Man kann auch hinterfragen, ob eine konservative Regierung progressive Veränderungen erzielt. Garcia verwirrt mit diesem Zitat gegen Ende und lässt Fragen offen. Birthe Mühlhoff von der Süddeutschen Zeitung fand dafür klare Worte: „Kämen Außerirdische auf die Erde, würde man ihnen Garcias Buch wohl nicht in die Hand drücken, um ihnen nahezubringen, wie Menschen ihre Gemeinschaften bilden und Konflikte untereinander austragen. Sie würden wahrscheinlich den Eindruck bekommen, Politik liefe ab wie ‚1, 2 oder 3’, diese Quizshow für Kinder, die seit 1977 im deutschen Fernsehen läuft. Um auf eine Wissensfrage zu antworten, hopsen die Kinder auf wild leuchtenden Quadraten hin und her, bevor sie sich für ein Feld entscheiden. „Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht“ raunt es dann aus dem Off, und schön wäre es, gäbe es das in der Politik.“

Tristan Garcia, „Wir“ – erschienen beim Suhrkamp Verlag im September 2018.

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