Zwischen Schein und Sein: Perspektiven auf Europa

Vor zwei Jahren war sie in Esch zu sehen, nun stellt sie das Lëtzebuerg City Museum aus: Anhand sechs Stereotypen über Europa konfrontiert „Pure Europe“ Besucher*innen mit ihren eigenen Vorurteilen.

Wessen Wäsche strahlt so weiß? Ganz so ironisch wie die Plakate es angeben ist die Ausstellung nicht. Dafür überzeugt sie mit vielerlei Ansätzen, Europa neu zu denken. (Foto: woxx)

Die Treppen rauf, bis zum fünften Stockwerk. Die Ausstellung fängt an der Grenze an: Wo endet Europa? Da, wo Zentralasien beginnt? Sowohl die Türkei als auch Aserbaidschan gehören zum Europarat und sind auf den meisten Europakarten zu sehen. Aber was ist mit Marokko oder etwa Israel? Beide nahmen zum Beispiel wenigstens schon einmal am Eurovision Song Contest teil, gibt die Ausstellung zu Bedenken.

Auf den klassischen politischen Landkarten sind diese Länder meist nicht Teil Europas. Da scheint der Kontinent vor allem aus vielerlei kleinen und klar definierten Staaten zu bestehen. Die Künstlichkeit dieser abgegrenzten Nationen ‒ ein Konzept dessen Ursprung in Europa liegt ‒ und des daraus folgenden Nationalstolzes wird schon im ersten Raum schnell in den ausgestellten Karten deutlich.

Eingeteilt nach Einkommen oder etwa nach kulturellen Eigenschaften zeichnen sie grenzüberschreitende Regionen auf und Regionen, die sich als Nationen sehen. Ein Beispiel: Das Baskenland, das nominell zu Spanien gehört, deren Einwohner*innen jedoch eine Sprache sprechen, die nicht wie Spanisch von Latein abstammt.

Oder die Stadt Baarle, die zu zwei Staaten gleichzeitig gehört, weil quer durch ihrer Mitte die niederländisch-belgische Grenze läuft. Die Unterschiede zwischen Bewohner*innen mit unterschiedlichen Pässen sind oft weniger markant als man meinen könnte. Landwirt*innen aus Serbien und Portugal hätten etwa mehr gemeinsam als mit Bankern ihrer eigenen Länder, so eine Beschriftung. Meisterhaft veranschaulicht wird dies in einer Video-Installation, die auf der weltgrößten Tankstelle in Berchem, Luxemburg gedreht wurde.

Schon im vorherigen Raum, in dem Besucher*innen die regionalen Ungleichheiten und Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern vor Augen geführt werden, erklingen dumpf durch die Wand die Stimmen des Videos in verschiedenen Sprachen. Aus Tadjikistan, der Ukraine oder Frankreich stammen die LKW-Fahrer, deren Meinungen gezeigt werden. Sie sind es, die Europas Netz aus (Fern)Straßen und am besten kennen: Täglich überschreiten sie nationalstaatliche Grenzen. Ihre Antworten offenbaren dabei unterschiedliche Erfahrungen hinterm Steuer, aber auch gleiche Perspektiven.

Ein „permanenter Perspektivenwechsel“

Wo genau Europas Grenzen verlaufen, lässt „Pure Europe“ offen. Denn die etlichen historischen Abbildungen, Alltagsobjekte, interaktiven Bildschirme, Video-Installationen und drei speziell für die Ausstellung erschaffenen Kunstwerke, die sich entlang der Wände durch ein Dutzend Räume verteilen, sollen keine wirklichen Antworten liefern, erklärt Pit Péporté, Historiker und Leiter der Firma Historical Consulting, die das Lëtzebuerg City Museum beim Kuratieren der Ausstellung unterstützt hat, im Gespräch mit der woxx.

Während auf der einen Seite die Idee einer «rein europäischen» Kultur verbreitet wurde, beschäftigten sich Europäer*innen andererseits auch damit, Kunst aus anderen Ländern zu rauben. (Foto: woxx)

Stattdessen werden Besucher*innen zum Nachdenken provoziert, um sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst zu werden. Allem voran geschieht dies mithilfe der ausgewählten Klischees, die den ersten Teil der Ausstellung ausmachen und bewusst ein provozierendes, politisches Gewicht tragen: Europa sei weiß, reich, christlich, kultiviert, alt und national. „Wir haben lange darüber nachgedacht, was die neuen Geschichten sind, die Europa ausmachen und sind dann auf die Idee der verschiedenen Perspektiven gekommen“, erklärt Péporté, der auch schon an der ersten Version der Ausstellung im Rahmen von Esch 2022 beteiligt war.

Indem die Stereotypen die Aus- stellung in sechs breite Themenfelder aufteilen und gleichzeitig kontra- diktorischen Beispielen entgegengesetzt werden, regt „Pure Europe“ Besucher*innen dazu an, ihre teils unbewussten Einstellungen zu Europa in Frage zu stellen.

Um die Paradoxe gekonnt in Szene zu setzen, umrahmen auf Augenhöhe präsentierte Abbildungen die Besucher*innen von beiden Seiten, während sie die Flure und länglichen Räume entlanggehen. Entfaltete sich die ursprüngliche Ausstellung von 2022 in der Escher Alten Möllerei auf zwei Etagen, musste sie im Lëtzebuerg City Museum an die kleineren Räumlichkeiten angepasst und einige Werke nach den zwei seither vergangenen Jahren verändert werden. Die plakative Darstellung sowie der „permanente Perspektivwechsel“ wurden dabei bewusst als Kernteil der Ausstellung beibehalten, so Péporté.

Einer Abbildung von Karl dem Großen stehen etwa moderne Fotos von Stahl- und Glasgebäuden gegenüber. Und Klappen, auf denen vermeintlich mittelalterliche Burgen und trügerisch antike Bauten abgebildet sind, offenbaren nach dem Öffnen das echte Alter der historischen Gebäude. Auch dies gehöre zu Europa, erfahren die Besucher*innen: Je „älter“ die Geschichte Europas wahrgenommen wird, desto legitimer scheint die Idee einer „europäischen“ Kultur, die sich auf christliche Werte stützt, verleihen Traditionen uns doch ein Gefühl von Stabilität.

Seit Jahrtausenden bildet sich „europäische“ Kultur aus zahllosen Einflüssen, etwa islamische und jüdische. Obwohl das Ausmaß teils nur episodisch mit einzelnen Werken veranschaulicht wird, erinnert die Ausstellung auch daran, inwiefern sich europäische Länder andere Kulturen zu eigen gemacht haben, und immer noch in eigenen Museen ausstellen, um finanziell von ihnen zu profitieren.

Was gehört zum europäischem Kulturerbe?

Der ausgestellten „europäischen“ Kultur stellt „Pure Europe“ deswegen geschickt Perspektiven von außen gegenüber. Während für viele Auswanderer*innen, die aus Europa nach amerikanischen Ländern flohen, Europa der mythenumwobene „alte Kontinent“ ist, ruft bei anderen das Wort „Europa“ eher düstere Assoziationen hervor.

Beispielsweise erfahren Besucher*innen in einem Video was indigene Menschen in Amerika über Christopher Kolumbus denken. Etwas wirklich Neues offenbaren die Interviews hierbei nicht. Der Beitrag ist jedoch auch deshalb interessant, weil er von kontrastierenden Abbildungen umrahmt wird, wie etwa einem Foto des prachtvollen und mit Gold überzogenem Grabs Kolumbus in der Kathedrale von Sevilla, in Spanien.

Dass Sklavenhandel, Kolonialherrschaft und Rassismus sich wie ein roter Faden durch Europas Geschichte ziehen und den Kontinent kulturell geprägt haben, veranschaulicht die Ausstellung. Ins Detail oder auf konkrete aktuelle Ereignisse (beispielsweise das Stürzen vor einigen Jahren mehrerer Denkmäler und Skulpturen von Sklavenhändlern) geht sie jedoch nicht ein. Auch die Rolle, die Luxemburg als ehemaliger Mit-Kolonialstaat spielte, lässt sich nur implizit durch eine ausgestellte Kollektion von Villeroy & Boch erahnen.

Zusammen mit anderen rassistischen Werken ist das Tafelgeschirr hinter zwei Klappen verborgen, die mit einer Warnung versehen sind. Weil die Kunstwerke „für die Kernaussage [der] Ausstellung relevant sind“, erklärt Anna Hoffmann, Kuratorin des Stadtmuseums, habe man sich für diese „kontextualisierende Präsentationsweise“ entschieden. Denn für das Museum sei es „grundsätzlich wichtig, auch schwierige Diskurse und Themen anzusprechen.“

Europa heute und morgen

Mag die Ausstellung auch nicht in die Tiefe gehen und eher einzelne Momente und Fakten darstellen, so stimmt das Gesamtbild nachdenklich und erfüllt somit ihr Hauptziel. Denn trotz des breiten Umfangs, veranschaulicht sie gelungen, inwiefern Klischeevorstellungen mit der Macht und Relevanz des Kontinents verknüpft sind. Die Stärke der Ausstellung liegt deshalb vor allem in der Vielzahl der inhaltlich kontradiktorischen Elemente, die sich in den Räumen gegenüberstehen.

Die Ausstellung endet so wie sie begann: An den Grenzen Europas. Gewann das Friedensprojekt der Europäischen Union 2012 noch den Friedensnobelpreis, errichten Europäer*innen in den letzten Jahren immer höhere Mauern. Treffend ist dabei die Installation eines Hochsicherheitszauns, an dem Zettel haften, auf denen Behauptungen europäischer Politiker*innen den Aussagen Asylsuchender widersprechen, aber auch die analoge Feedback-Wand, an der Besucher*innen ihre eigenen Gedanken und Hoffnungen zu Europa schreiben können.

Den provozierenden Klischees folgend, wird „Pure Europe“ „schlussendlich zu einem Plädoyer für ein offenes und tolerantes Europa“, so die Kuratorin Hoffmann. Neben den Europawahlen im Juni dieses Jahres sei nämlich auch die „aktuelle weltpolitische Lage“ ein Grund gewesen, die Ausstellung erneut zu zeigen. Mit der Hoffnung, noch weitere Menschen zu (innerlichen) Diskussionen anzuregen.

„Pure Europe“, Lëtzebuerg City Museum (14, rue du Saint-Esprit, L-1475 Luxemburg), Di. – So. 10 – 18 Uhr, Donnerstags bis 20 Uhr. Bis zum 9. März 2025.
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Europa ist alt, weiß und reich? Auch wenn an den Stereotypen etwas dran ist: Die Ausstellung stellt dar, wie divers Europäer*innen sind ‒ nicht zuletzt auch wegen ihrer Kolonialgeschichte. (Foto: woxx)
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