Arnold Friedman, Familienvater in einer Mustervorstadt, wird wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. „Capturing the Friedmans“ ist eine spannende Dokumentation
über einen der kontroversesten US-Kriminalfälle.
Zum Familienleben gehört die Aufzeichnung des Familienlebens. Die Friedmans filmten alles – bis zum Gang des Vaters und seines jüngsten Sohnes in den Knast. Warum? Das ist nur eine der Fragen, die der Oscar-nominierte Dokumentarfilm „Capturing the Friedmans“ bis zum Schluss nicht vollständig beantwortet.
Autor Andrew Jarecki verzahnt Ausschnitte aus rund
50 Stunden eindrucksvollen Heimvideo- und Super8-Aufzeichnungen geschickt mit Interviews, die er 15 Jahre später mit Familienmitgliedern, ErmittlerInnen, Opfern und einer Journalistin führte. Schnell überschattet die grausame Realität die Bilder vom Familienglück.
Die Tragödie beginnt 1987 am Tag vor Thanksgiving, als die Polizei das Haus der Friedmans auf Long Island durchsucht. Im Büro des dreifachen Familienvaters findet sie hinter dem Klavier versteckt einen Stapel Maga-
zine mit Kinderpornografie. Arnold Friedman, preisgekrönter Musiker und beliebter High-School-Lehrer wird festgenommen – gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Jesse, damals 18 Jahre alt.
In der Gemeinde bricht Hysterie aus. Das Schweigen ist gebrochen. Vier Jahre hat niemand ein Wort gesagt. Plötzlich sprechen alle. Das Strafverfahren entwickelt sich so zur Jagd nach einem „Monster“. Am Ende steht eine harte Anklage: Arnold Friedman soll 17 Schüler in privaten Computerkursen mehrfach missbraucht haben, Jesse habe assistiert. Arnold und und sein Sohn beteuern monatelang ihre Unschuld. 1988 geben sie auf und plädieren auf schuldig – in der Hoffnung auf eine mildere Haftstrafe. Die Ehe der Friedmans zerbricht, der Vater wählt den Freitod, Jesse verbringt dreizehn Jahre im Gefängnis. 2001 wird er auf Bewährung entlassen.
„Capturing the Friedmans“ ist ein Film, der vieles hinterfragt – Familie und Gemeinschaft, Wahrheit und Gerechtigkeit. Aber es ist auch ein Film, der wenig beantwortet. Bedrückend sind dagegen die Erinnerungen der Menschen, die Arnold und Jesse Friedman über viele Jahre begleiteten. Beim renommierten Sundance Filmfestival gewann Andrew Jarecki mit seiner Dokumentation den Grand Jury Price. Auf seiner Suche nach objektiver Schärfe lässt der Amerikaner alle Parteien zu Wort kommen. Aussagen stehen gegen Aussagen. Übereinstimmungen gibt es kaum.
Arnold Friedman hatte sich bereits viele Jahre zuvor gegenüber einem Psychiater zu seiner Pädophilie bekannt. „Der sagte zu mir, Sie haben alles unter Kontrolle, Sie brauchen keine Therapie“, berichtet der Angeklagte später. Dass dem nicht so war, wollte Friedman nie zugeben.
Ehemalige Schüler berichten über grausame Sexspiele im Unterricht, erinnern sich aber erst nach fragwürdigen polizeilichen Ermittlungen daran – zum Beispiel durch Hypnose. Andere wollen nie etwas von „außerschulischen Interessen“ gesehen haben. An dieser Stelle bietet der Film eine Angriffsfläche. Viele ehemalige Schüler Friedmans beklagen, Jarecki habe den Kontakt zu den Opfern zu wenig gesucht. Eine Mutter geht sogar so weit, zu behaupten, der Filmmacher habe Material unterdrückt, mit dem Jesse Friedmanns Schuld bewiesen worden wäre.
Andrew Jarecki stellt sich in seiner Dokumentation auf keine Seite. Und dennoch überwiegt letztlich der Eindruck: Vater und Sohn, beide schuldig. Ein Bild, das der Amerikaner in den letzten Filmminuten noch einmal wackeln lässt. Jarecki beendet die Dokumentation nicht mit den Aufnahmen der Inhaftierung. Nein, er blickt noch einmal zurück: ein verliebtes Paar beim Tanz, glückliche Jungs auf Papas Schultern, der kleine Jesse als Baby am Klavier. Diese Collage endet schließlich mit einer rührenden Szene, einem Wiedersehen von Mutter und Sohn nach 13 Jahren Haft.