In der Krise setzen die Regierungen auf Protektionismus – auch wenn alle behaupten, aus dem großen Crash von 1929 gelernt zu haben. Bezahlt wird die Zeche nicht zuletzt von den Entwicklungsländern. Der global brisanteste Konflikt jedoch entwickelt sich derzeit zwischen China und den USA.
Im Vorfeld des EU-Sondergipfels am 1. März schien es, als könnte es dort ernsthaften Streit geben. Mehrere Länder wollten Frankreichs Pläne zur Unterstützung seiner Autoindustrie anprangern. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte den Autobauern PSA Citroën/Peugeot und Renault Kredite im Wert von sechs Milliarden Euro zugesagt. Im Gegenzug sollten sich die Unternehmen dazu verpflichten, für die Laufzeit der Darlehen von fünf Jahren keine Fabriken in Frankreich zu schließen und Investitionen ausschließlich in Frankreich zu tätigen. Auf diese nationale Klausel, die auch von der EU-Kommission als wettbewerbsverzerrend kritisiert worden war, will Paris nun verzichten. In einem Schreiben an die Kommission teilte die französische Regierung zudem mit, dass mit den geplanten Maßnahmen kein Verstoß gegen den Binnenmarkt beabsich-tigt sei. Die zuständige Kommissarin, Neelie Kroes, zeigte sich damit zufrieden, und auf dem Gipfel waren die staatlichen Hilfsprogramme für die Autoindustrie kein Thema mehr. Die Staats- und Regierungschefs erklärten einhellig, dass Protektionismus keine Antwort auf die Krise sei und bekundeten ihr Vertrauen auf die Rolle der Kommission als Wächter der bestehenden Verträge.
Alle Regierungen verdammen den Protektionismus, doch viele praktizieren ihn. Nationale Wirtschaftsförderung auf Kosten des Auslands („Beggar thy neighbour“) ist wieder in Mode. Auf Druck der Stahlindustrie wurde dem jüngsten US-Konjunkturprogramm eine „Buy American“-Klausel beigefügt: Bei der Errichtung öffentlich finanzierter Bauten sollen Materialien aus heimatlicher Produktion bevorzugt werden. Das sorgte für Proteste der EU und vor allem Kanadas, dem größten Handelspartner der Vereinigten Staaten. Präsident Obama äußerte daraufhin ebenfalls leise Worte des Unbehagens: Man solle keine Gesetze erlassen, die den Handel einschränkten. Die Demokraten im Senat beharrten allerdings auf dem protektionistischen Vorhaben, lediglich zu einer Abschwächung erklärten sie sich bereit: Bestehende Handelsabkommen sollten nicht verletzt werden.
Diesem Streit vorausgegangen waren Äußerungen des neuen Finanzministers Timothy Geithner, die als eine Wende in den Wirtschaftsbeziehungen mit China gedeutet werden.
Acht Jahre Bush-Regierung waren bekanntlich Jahre eines relativ entspannten Verhältnisses zwischen den beiden Ländern gewesen, keiner hatte sich zu sehr in die Angelegenheiten des anderen eingemischt, und der Handel hatte kräftig expandiert. China stieg zum zweitwichtigsten amerikanischen Handelspartner auf, was auch für die USA Vorteile hatte: Die billig hergestellten chinesischen Waren begrenzten den Anstieg der Inflationsrate, und dadurch, dass China die Handelserlöse zum großen Teil in US-Wertpapieren anlegte, hielt es den Dollar über Wasser und die Zinsen für amerikanische Schuldner viel niedriger, als sie anderenfalls gewesen wären.
Das Auftauchen eines neuen antichinesischen Wirtschaftschauvinismus in den USA könnte Folgen für die gesamte Weltwirtschaft haben.
Timothy Geithner hat sich vorgenommen, den Frieden zu beenden. Noch bevor der neue US-Finanzminister seinen Eid ablegte, sorgte er Ende Januar für Streit zwischen der größten Volkswirtschaft der Welt und derjenigen, die in den vergangenen Jahren am schnellsten gewachsen ist. China „manipuliere“ seine Währung, um Exporte billiger zu machen, lautete der Vorwurf, der nahe legt, dass Geithner dies als eine Bedrohung ansieht, gegen die Maßnahmen ergriffen werden müssten. Die chinesische Zentralbank wies die Vorwürfe als „irreführend“ zurück. „Diese Kommentare widersprechen nicht nur den Fakten, sie weisen auch bei der Analyse der Gründe für die Finanzkrise in die falsche Richtung“, erklärte Su Ning, einer der Stellvertretenden Gouverneure der People´s Bank of China. Schon im Dezember hatte Liu Jianchao, ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums, die Devisenpolitik seines Landes verteidigt. Auf dem fünften Strategic Economic Dialogue (SED), einem bilateralen Wirtschaftstreffen hochrangiger Politiker beider Staaten, das auf Initiative des früheren US-Präsidenten George W. Bush und Chinas Präsident Hu Jintao alle sechs Monate stattfindet, sagte Jianchao, der Yuan sei bereits flexibler geworden und habe in den letzten drei Jahren deutlich aufgewertet.
Damit hat er völlig recht. Anfang 2005 lag der – damals noch feste – Umtauschkurs noch bei 8,30 Yuan pro US-Dollar und fiel dann kontinuierlich auf 6,80 Dollar im Sommer 2008. Auf diesem Niveau verharrt er seither. Wie seltsam der von Geithner geäußerte Vorwurf der Manipulation ist, sieht man, wenn man versucht, vernünftige Argumente für ihn zu finden, wie es ein Redakteur der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung` kürzlich versucht hat: „China hatte schon Anfang Dezember augenscheinlich getestet, den Außenwert des Yuan zu mindern: An einem Tag fiel er schlagartig um 0,72 Prozent gegenüber dem Dollar.“ Schlagartig! Um 0,72 Prozent! Nach diesem Maßstab müsste die Europäische Zentralbank zur Rechenschaft gezogen werden für die unverantwortbaren Schwankungen des Euro, der an manchen Tagen um zwei oder sogar drei Prozent fällt oder steigt.
Die Vorwürfe über angebliche Devisenmanipulation haben ihren Grund also nicht in einer tatsächlichen Abwertung der chinesischen Währung, sondern in der Furcht, dass dies passieren könnte: Geithner führt einen Präventivkrieg. Diese Angst hat zwei Gründe. Zum einen ist offensichtlich, dass die chinesische Währung seit Juli vergangenen Jahres gegenüber dem Dollar nicht mehr weiter an Wert gewinnt – angesichts der Stärke des US-Dollars, der in diesem Zeitraum gegenüber dem Euro um zwanzig Prozent zugelegt hat, ist dies aber auch nicht verwunderlich. Schließlich bedeutet ein gleichbleibender Wechselkurs gegenüber der US-Währung, dass der Wert des Yuan gegenüber dem Euro im selben Maß gestiegen ist, wie dieser an Außenwert gegenüber dem Dollar verloren hat. Im Europageschäft hat China also erhebliche Währungsverluste erlitten. Dies ist – und das ist der zweite Grund für Geithners Furcht – ein Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen asiatischen Staaten. Der koreanische Won etwa hat sich seit Ende 2007 gegenüber dem US-Dollar um ein Drittel verbilligt. China verliert also gegenüber seinen Nachbarn an Wettbewerbsfähigkeit.
Damit zeigt sich zugleich, dass es den USA wenig helfen würde, wenn China seine Währung aufwerten würde. Den Gewinn daraus würden andere asiatische Staaten ziehen, nicht die USA. Der Niedergang der amerikanischen Industrie begann ja nicht erst mit dem Aufstieg Chinas, wie manche US-Politiker vielleicht glauben. Schon vor Jahrzehnten wurden Fertigungsprozesse von den USA nach Japan verlagert, später nach Südkorea und Südostasien, und dann erst nach China. Sie werden nicht mehr zurückkehren, sondern höchstens von China in ein anderes asiatisches Land verlagert.
Das Auftauchen eines neuen antichinesischen Wirtschaftschauvinismus in den USA könnte indessen Folgen für die gesamte Weltwirtschaft haben. Seit Beginn der Finanzkrise wurde immer wieder die Frage gestellt, ob sich „eine Depression wie in den Dreißigerjahren“ wiederholen könne. Sie wurde in der Regel verneint, oft mit der Begründung, dass für die Schwere der damaligen Krise ja unter anderem politische Fehlentscheidungen verantwortlich gewesen seien, die man nicht wiederholen werde. Stimmt das aber wirklich? Angesichts der Stimmungslage (nicht nur in den USA) scheint ein neuer Protektionismus mit ähnlich verheerenden Wirkungen wie in den Dreißigerjahren nicht mehr völlig ausgeschlossen zu sein.
Als der US-Kongress 1929/30 ein umfassendes Zollsteigerungsgesetz debattierte – den Smoot-Hawley Tariff Act -, reichten viele Handelspartner der USA Protestnoten ein.
Trotzdem stimmten beide Kammern des Parlaments dem Vorhaben zu. Als das Papier zur Unterzeichnung auf dem Schreibtisch von Präsident Hoover lag, forderten 1028 amerikanische Ökonomen (unter ihnen Irving Fisher) Hoover in einem offenen Brief auf, ein Veto einzulegen:
„Wir sind überzeugt, dass es ein Fehler wäre, die Zölle zu erhöhen. Dies würde dazu führen, dass die einheimischen Verbraucher höhere Preise zu zahlen hätten. Durch höhere Preise würden Konzerne mit höheren Kosten dazu ermutigt, in die Produktion einzusteigen, und der Konsument auf diese Weise gezwungen, Verschwendung und Ineffizienz in der Industrie zu subventionieren. Gleichzeitig müßte er höhere Profitraten an die etablierten Unternehmen zahlen … Nur wenige könnten hoffen, von einer solchen Veränderung zu profitieren.“
Die Wirtschaftswissenschaftler sagten weiterhin voraus, dass „viele Länder es uns gehörig heimzahlen werden“. Die Beschäftigung lasse sich nicht dadurch erhöhen, „dass wir den Handel einschränken“. Auch die Farmer, zu deren Unterstützung das Gesetz ursprünglich gedacht war, würden verlieren: „Baumwolle, Schweinefleisch und Weizen sind Exportgüter und werden auf dem Weltmarkt verkauft.“
Indien hat die Zölle auf Stahlprodukte und Textilien aus China erhöht, Brasilien und Argentinien befinden sich am Rande eines Handelskrieges.
106 Telegramme der Auslandsvertretungen von General Motors erreichten Washington. Europadirektor Graeme K. Howard brauchte nur 14 Worte, um die Folgen des Gesetzes zu beschreiben: „Passage bill would spell economic isolation United States and most severe depression ever experienced.“ Nicht nur sei also die wirtschaftliche Isolierung der USA zu erwarten, prophezeite der Manager, sondern die schlimmste Krise aller Zeiten.
Die Pariser Zeitung ?Le Quotidien` schrieb in einem Leitartikel: Wenn „die Yankees“ diesen Zoll einführen, „bleibt uns nichts anderes, als zu Vergeltungsmaßnahmen zu greifen, und das bedeutet Krieg.“ Die Überschrift lautete: „Kann Mr. Hoover die Katastrophe begrenzen, die die amerikanischen Protektionisten vorbereiten?“ Henry Ford verbrachte einen Abend im Weißen Haus, um Hoover zu einem Veto zu drängen. Doch kein US-Präsident hatte je ein Veto gegen ein Zollgesetz eingelegt, und Hoover wollte nicht der erste sein. „Sobald sich die Verhältnisse normalisieren, wird auch unser Handel wieder expandieren“, sagte er.
Wie konnte Hoover – immerhin ein brillanter und weltläufiger Geologe und Ingenieur, der in Australien, China und London gearbeitet und gelebt hatte und unter den Präsidenten Harding und Coolidge Handelsminister gewesen war – die Katastrophe nicht vorhersehen? Die Schutzzölle waren ein wichtiger Teil des republikanischen Wahlprogramms von 1928 gewesen, gedacht, um der Landwirtschaft zu helfen, die nach dem Ersten Weltkrieg in eine schwere Krise geraten war. In seiner Antrittsrede am 4. März 1929 sprach Hoover von „begrenzten Änderungen der Zollgesetze“ zugunsten der Farmer. Doch während der Gesetzgebungsprozedur entstand etwas ganz anderes. Die öffentliche Anhörung von Interessenvertretern vor dem Committee on Ways and Means (wörtlich „Mittel-und-Wege-Komitee“) im Repräsentantenhaus, dessen Vorsitzender Willis Hawley war, führte zu einem Dokument von 11.000 Seiten. Im Mai 1929 beschloss das Repräsentantenhaus, 845 Zölle zu erhöhen. Von da ging das Gesetz zum Finanzkomitee des Senats, dann in den Senat, und schließlich mussten die beiden Kammern sich einigen. Da viele Abgeordnete die Berücksichtigung der Interessen ihrer Klientel zur Bedingung für ihre Zustimmung zu dem Gesetz machten, wurde daraus schließlich der größte Zollsteigerungskatalog in der Geschichte der USA – obwohl viele Zölle erst 1922 eingeführt bzw. erhöht worden waren.
Das Gesetz erfüllte sofort die schlimmsten Befürchtungen seiner Gegner. Indem die USA die Einfuhrzölle für zahlreiche Güter anhoben – in einigen Fällen bis auf 50 Prozent – provozierten sie Vergeltungsmaßnahmen ihrer Handelspartner. Die Ausfuhren der Vereinigten Staaten reduzierten sich innerhalb von zwei Jahren um fast zwei Drittel. Der Dow Jones-Index, der seit dem Tiefststand von November 1929 um 50 Prozent gestiegen war und sich damit dem Vorcrash-Niveau bis auf zwanzig Prozent genähert hatte, stürzte steil ab: von knapp 300 Punkten Mitte 1930 auf 41 Punkte zwei Jahre später.
Obwohl Politiker und Ökonomen behaupten, dass alle aus den Erfahrungen der Dreißigerjahre gelernt hätten, ist der ökonomische Nationalismus heute überall auf der Welt auf dem Vormarsch. Noch während des G20-Gipfels im November versprachen die Anwesenden, für ein Jahr lang keine Handelshemmnisse zu errichten, selbst solche nicht, die die Welthandelsorganisation WTO erlaubt. Das Versprechen hielt 36 Stunden, dann gab die russische Regierung bekannt, ihre Pläne für Zölle auf ausländische Autos (bis zu 80 Prozent, je nach Alter und Typ) weiterverfolgen zu wollen. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind die Einfuhren im Hafen von Wladiwostok um 95 Prozent gefallen. Russland ist bei weitem nicht das einzige Land der G-20 Gruppe aus Industrie- und Schwellenländern, das auf Protektionismus setzt: Einer Studie der Weltbank zufolge haben seit dem G20-Gipfel nicht weniger als 17 der 20 beteiligten Staaten handelsbeschränkende Maßnahmen beschlossen.
Politische Führer dürften „dem Sirenengesang von protektionistischen Lösungen nicht folgen, ob es um Handel geht, Konjunkturpakete oder Rettungsaktionen für Unternehmen“, forderte Weltbank-Präsident Robert Zoellick deshalb bei der Vorstellung der Studie.
Tun sie aber doch. Eine gegenüber dem Rest der Welt nicht eben freundliche Geste ist auch die von der EU beschlossene Wiedereinführung der erst 2007 abgeschafften Exportsubventionen für Milchprodukte. In den nächsten Monaten würden 30.000 Tonnen Butter und 109.000 Tonnen Magermilchpulver auf den Weltmarkt gebracht, die die einheimische Produktion in den Entwicklungsländern zerstören würden, sagt Hans-Joachim Preuß, Generalsekretär der Welthungerhilfe. „Mit den neuen Dumpingpreisen können die Bauern in Afrika oder Asien nicht konkurrieren“, so Preuß.
Indien hat die Zölle auf Stahlprodukte und Textilien aus China erhöht, Brasilien und Argentinien befinden sich am Rande eines Handelskrieges. Der potenziell brisanteste Konflikt ist aber der zwischen den USA und China. Dabei ist er gleichzeitig der irrsinnigste, da die Vereinigten Staaten darauf angewiesen sind, sich von Peking Geld zu leihen: Derzeit hält China amerikanische Anleihen im Volumen von etwa 1,2 Billionen US-Dollar, und im Zuge der zahllosen von der US-Regierung und dem Kongress auf den Weg gebrachten Schuldenprogramme werden es sicherlich noch mehr. Ohne China ist das nicht zu finanzieren.
Parteifreunde ermahnten deshalb Timothy Geithner bereits, die heutige Situation nicht mit den Neunzigerjahren zu verwechseln, die USA seien heute nicht mehr in der Position, China ökonomische Bedingungen zu diktieren. Der Anti-China-Bewegung im Kongress fehlt es an politischem Realismus, aber auch an der ökonomischen Rationalität, die die Bush-Administration wenigstens in diesem einen Punkt hatte. Sie wusste, dass ein Handelsstreit mit China nicht im Interesse der USA ist. Die Abgeordneten Lindsey Graham (Republikaner) und Charles Schumer (Demokraten), wissen das nicht. Nachdem sie vor vier Jahren mit dem Vorhaben gescheitert waren, auf chinesische Importe Strafzölle von bis zu 27,5 Prozent zu verhängen, wittern sie nun ihre Chance. Wenn die Exekutive etwas unternehme, sei das noch besser, als wenn Strafmaßnahmen auf dem Gesetzesweg beschlossen werden müssten, so Schumer. Geithners Kommentare ließen ihn hoffen, dass ein für April erwarteter Bericht des Finanzministeriums offiziell feststellen werde, dass China seine Währung manipuliere. Das könnte dann eine neue Phase in den Beziehungen der beiden Länder einläuten – und ein neues Kapitel der Wirtschaftskrise. Mit Frankreich befinden sich die USA bereits im Handelskrieg: Als eine der letzten Amtshandlungen nahm George W. Bush im Januar eine Änderung der Strafzölle auf europäische Lebensmittel vor, die 1999 als Vergeltung für das europäische Einfuhrverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch eingeführt worden waren. Die neue Regelung betraf nur ein einziges Produkt: Der Zoll auf Roquefort wurde von 100 auf 300 Prozent erhöht.
Stefan Frank arbeitet als Publizist und schreibt unter anderem für die in Hamburg erscheinende Zeitschrift ?konkret`.