Kulturkadaver

+++ „Kunst ist ein Opfer des Lebens. Der Künstler opfert der Kunst das Leben, nicht weil er es will, sondern weil er es nicht anders kann.“ Am 31. Mai verstarb die Grande Dame der Gegenwartskunst, Louise Bourgeois, im Alter von 98 Jahren in ihrer Wahlheimat New York. Bereits als Kind übte sie stillen Widerstand gegen den übermächtigen Vater, formte bei Tisch Gestalten aus Brotkrumen. Die Bildhauerin war eine der ersten, die Installationen erarbeiteten. Mal inszenierte sie sich mit einem Phallus unter dem Arm, warf lange vor „Körperwelten“ einzelne Körperteile grotesk in den Raum, provozierte, schockierte. Ihr letztes großes Werk, die neun Meter hohe bronzene Spinnenfrau „Maman“, schmückt heute zahlreiche Sammlungen weltweit. Erst durch ihre Teilnahme an der documenta IX in Kassel, 1992, und der Biennale in Venedig ein Jahr später wurde ihr Ruhm zuteil. Schließlich würdigte die Japan Art Association ihre Lebensleistung 1999 mit der Verleihung des „Praemium Imperiale“. Nun ist posthum eine regelrechte Welle losgebrochen, die Künstlerin einzuordnen. Gern wird sie in den Kreis der Surrealisten gerückt, als radikale Feministin und Opfer einer machistischen Gesellschaft gesehen. Dabei war Bourgeois vor allem sich selbst treu. So wie sie die Weltläufigkeit der New Yorker Kunstszene der Pariser Enge vorzog, wäre ihr der von Breton ausgehende Surrealismus wohl zu akademisch, zu artifiziell vorgeschrieben – ja wahrscheinlich zu frauenfeindlich gewesen. Bourgeois setzte mit ihrem unabhängigen Werk eigene Maßstäbe, revolutionierte die von Männern dominierte Kunstwelt und prägte sie nachhaltig. +++ Stummfilm-Atmosphäre kam gleich zu Anfang der Vorführung von Friedrich Murnaus letztem Film „Tabu“ in der Philharmonie auf – allerdings unfreiwillig. Gleich nach dem Vorspann bekam das Publikum einen authentischen Filmriss geboten, das Orchester „Ensemble-Kontraste“ verstummte, und alle mussten ein paar Minuten warten, bis das Zellulloid wieder zusammengeklebt war. Dieser Zeitsprung in Sachen Technik war nicht unangebracht, denn der Inhalt des Films passt nicht so recht ins 21. Jahrhundert. Eine klischeehafte Darstellung des Südsee-Zaubers und überstilisierte Charaktere bewirken, dass sich „Tabu“ vor allem als ästhetischer Exercice de style bewährt. Die Live-Musik der zeitgenössischen Komponistin Violeta Dinescu war denn auch nicht darauf angelegt, Distanz zu schaffen oder eine Deutungsvielfalt zu suggerieren. So kostete die Musik die ballettartigen Szenen wie die sentimentalen Momente aus – unisono mit
Murnaus einzigartiger Bildsprache. Und das Publikum genoss den Film, der ohne Ton wohl doch etwas blass gewesen wäre. +++ Abschlussabend des Festivals Le Transfrontalier: Der junge René Klötzer präsentierte eine märchenhafte Choreographie, die Begegnung zwischen Mensch und Engel, inszeniert als kleine Seelenrettung. Ein Engel hilft einem gebrochenen Wesen wieder zu stehen, aufrecht zu gehen, sich selbst wahrzunehmen, neuen Mut zu fassen. Am Ende entschlüpft er wie aus einem Kokon in die Freiheit. Anu Sistonen präsentierte eine farbenfrohe und tänzerisch bis ins letzte Detail nuancierte Choreographie zu traurigen Tangoklängen von Astor Piazzolla und ließ die Zuschauer in Nostalgie schwelgen. Einen irritierenden Abschluss bot Danielle Gabou mit einer morbiden Darbietung aus Tanz- und Sprechtheater. Die experimentell-elektronischen Klänge, die Daniel Koskowitz dazu entwarf, waren spannend, Gabous Textinterpretation, die sie eingewickelt in ein überdimensionales weißes Tuch, schreiend von sich gab, wirkte dagegen düster, abschreckend und schlicht beängstigend.


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