Kulturkadaver

+++ Entgegen unserer sonst eher schnipselmäßigen Art die Kulturkadaver zu präsentieren, machen wir diese Woche einen kleinen, subjektiven Ausflug nach Avignon, wo unsere Freelancerin Pia Oppel letzte Woche weilte. +++ Bei der diesjährigen, bereits 64. Ausgabe des Theaterfestivals in Avignon gaben sich erneut tausende Schauspieler und Besucher während drei Wochen ein Stelldichein. Der Gastregisseur im Hauptprogramm, Christoph Marthaler, inszenierte mit der Bühnenbildnerin Anna Viebrock im Ehrenhof des Papstpalasts ein Stück, das nicht wenige der Zuschauer zum frühzeitigen, polternden Abgang bewegte. Eine Stimme aus dem Publikum beschimpfte die Katholizismussatire „Papperlapapp“ sogar als „nul à chier“. In Avignon ist man Marthalers antiautoritären, sich an Dissonanzen und ironischen Brüchen entlang hangelnden Stil nicht gewöhnt – die meisten kommen ja auch für das weniger prestigeträchtige, unabhängige Nebenprogramm. +++ Seit 1966 tummeln sich eher junge, meist französischsprachige Theaterensembles im „Festival d’Avignon Off“ und zeigen vom folkloristischen Dorf- bis zum avantgardistischen Tanztheater alles, was das Herz des Schauspielliebhabers begehrt. Wer sich gewissenhaft durch das 400 Seiten starke Programm liest und die ersten Stücke besucht, erkennt schnell: Ausweg aus der Qual der Wahl ist einzig ein sicherer Instinkt. Glücksgriffe gab es in Hülle und Fülle, was für die allgemeine Qualität des diesjährigen Programms spricht. Überwältigend schön, weil augenzwinkernd und erhaben zugleich, war das Tanzensemble „Pic à Poule“ mit dem Stück „Déjà vu“. Laurent Falguieras und Marc Lacourt tanzten wie getrieben, zärtlich, zerbrechlich – gaben sich ihrem Tanz hin und kommentierten seine Tradition doch spöttisch. +++ Eine zweite Entdeckung war das von Victor Quezada-Perez inszenierte Stück des rumänischen Autors Matei Visniec „Petit boulot pour vieux clown“. Hier kämpften drei verbitterte Clowns, die vorgeben ehemals Ruhm genossen zu haben, verzweifelt und mit einer ebenso perfiden, wie komischen Boshaftigkeit um eine armselige Anstellung… Die Tragikomödie endet mit einem toten und zwei arbeitslosen, alten Clowns, zwischendurch hat der Zuschauer viel gelacht, gestaunt und etwas geträumt. +++ Im Länderindex des Programms war dieses Jahr auch „Luxembourg“ zu finden. Regisseurin, Schauspielerin und Leiterin des Théâtre du Centaure, Marja-Leena Juncker hat mit ihrer Truppe Marguerite Duras „Agatha“ aufgeführt. Die Zwei-Personen-Inszenierung über die unerlaubte Liebe zwischen Geschwistern war Anfang 2010 bereits in Luxemburg gezeigt und von der Kritik gelobt worden. Auch in Avignon, so Juncker, seien die Reaktionen positiv. Auf der von Jean Flammang entworfenen, spartanisch gehaltenen Bühne gaben Nicole Dogue und Christophe Ratandra dem Text eine schnörkellose Intensität. Sie konnten die Zuschauer mühelos mit auf Duras stark autobiographische Reise zurück in ihre Kindheits- und Jugendtraumwelt nehmen. +++ Der in Luxemburg aufgewachsene und derzeit in Paris studierende Fábio Godinho inszenierte „Le Privilège des Chemins“ von Fernando Pessoa. Bereits voriges Jahr hatte der 24-jährige sich mit seinem fünfköpfigen Ensemble „Théatre de Personne“ in Avignon an den dichten, philosophisch angehauchten Text gewagt und auch diesmal spielte er selber eine der Rollen. Die Beharrlichkeit der Truppe wurde belohnt: Das Publikum war zahlreicher, die Reaktionen begeisterter als noch 2009. Der Stoff war für die allesamt erst Anfang-zwanzigjährigen Schauspieler zweifellos einige Nummern zu groß, aber Pessoas kompliziert ineinandergefädelten Gedankengänge über die großen Themen Liebe, Freiheit und Identität brachten sie souverän und mit Gänsehauteffekt auf die Bühne. Man kann sich also darauf freuen sie vielleicht auch in den nächsten Jahren in Avignon und weshalb nicht ebenfalls Mal in Luxemburg anzutreffen! +++


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