EXPO/RUHR 2010: Kulturhauptstadt-Realitäten

Eine Foto-Ausstellung in Gelsenkirchen schafft es, reale soziale Probleme der beiden Kulturhauptstädte 2010, dem Ruhrgebiet und Istanbul, sprechend zu dokumentieren – ohne in Sozialkitsch abzugleiten.

Will man über das Ruhrgebiet sprechen, so denkt man unwillkürlich an die prominente Zeche Zollverein, Schmuckstück der Industriestadt Essen, insbesondere seitdem ihr das berühmte Architekturbüro Sanaa mit dem prunkvollen Erweiterungsbau seinen Stempel postmoderner Star-Architektur aufgedrückt hat. Was zweifellos als Publikumsmagnet funktioniert, ist wohl kaum Spiegelbild des Ruhrgebiets.

Doch was ist Ruhrpott-typisch? Geht man durch das Städtchen Gelsenkirchen, so springen einem die Anzeichen sozialer Armut förmlich ins Gesicht. Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre wächst in den Städten der Ruhrmetropole die soziale Polarisierung. Durch Leiharbeit, Minilöhne und Hartz IV steigt die Armut stetig. Seit 1980 stieg die Arbeitslosenzahl im Ruhrgebiet um 300%. Heute lebt mehr als ein Viertel der RuhrgebietbewohnerInnen in „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf“. Der Wegfall traditioneller Arbeitsplätze in der Montanindustrie wirkt sich vor allem auf Arbeitsmigranten aus. Ganze Wohngegenden, ehemals Stahl- und Bergarbeitersiedlungen verwaisen, Kleinwarenläden und Kneipen stehen heute leer.

Dieses Phänomen dokumentieren die Aufnahmen Thomas Lisons in seiner Fotostrecke „Miet mich!“. Der in Köln lebende Fotograf hat leer stehende mittelständische Kleinwarenläden abgelichtet und damit die Suburbanisierung in den Vorstädten des Ruhrgebiets dokumentiert. An den typischen 50er-Jahre-Bauten mit ihren hohen Schaufenstern, den Blumenläden, Fleischereien oder Kiosken bröckelt der Putz ab. Seine Bildserie zeigt leer stehende altmodisch gekachelte Räume, an deren maroden Fassaden trostlos Leuchtreklamen herabhängen. Henning Christophs schwarz-weiße Fotostrecke „Türken im Ruhrgebiet“ richtet hingegen den Blick auf das Leben türkischer Zuwanderer im Ruhrpott: Beim Mittagsgebet im Freien vor einer Industriekulisse in Gelsenkirchen, beim Festessen oder auf Hochzeiten. Brigitte Kraemer hält in ihrer Fotoserie „So nah – so fern“ nachbarschaftliche Kontraste fest: türkische Familien Tür an Tür mit deutschen Hartz IV-Empfängern.

Den gelungenen Ruhrpott-Aufnahmen werden Foto-Serien der zweiten Kulturhauptstadt Istanbul gegenübergestellt. Die Entscheidung zur Europäischen Metropole hat den sich seit Jahren abzeichnenden städtischen Transformationsprozess rapide beschleunigt und zu einer Vertiefung der sozialen Schere geführt: Auf der einen Seite leben die im Business Erfolgreichen in modernst ausgestatteten ?gated cities‘, auf der anderen Seite die Verlierer des Transformationsprozesses Istanbuls – an die Peripherie gedrängte ethnische Minderheiten. Die mit allen Mitteln durchgesetzte städtische Transformation bedeutete für viele ohnehin in Armut lebende Menschen Zerstörung ihrer Wohngebiete und Vertreibung. So etwa für die Istanbuler Roma aus dem historischen Stadteil Sulukule, dem weltweit ältesten Roma-Viertel. Der türkische Fotograf S?ahan Nuhog?lu hat in seiner Fotostrecke „Sulukule – Abriss und Widerstand“ die Zerstörung dieses Stadtgebiets dokumentiert. Der Widerstand gegen den Totalabriss ihres Viertels führte in Sulukule zu einem 40-tägigen Protestmusizieren der dort lebenden Roma-Minderheit. Während die erste Aufnahme eine bunte Menge beim Musizieren zeigt, spiegelt eine zweite Fotografie bereits die abgrundtiefe Resignierung wider und zeigt eine Familie zwischen von Bulldozern abgerissenen Gemäuern. Auf einem dritten Bild durchsuchen Menschen die Trümmer nach ihren Habseligkeiten. Die Arbeiten des Foto-Journalisten Fatih Pinar dokumentieren hingegen die Gettoisierung des Viertels Tarlaba?si. Bereits 1986 wurden für den Bau des Tarlaba?si-Boulevards 300 traditionelle levantinische Häuser abgerissen und das Viertel räumlich vom ökonomisch aufsteigenden Taksimgebiet getrennt. In Pinars bunter Fotostrecke fließen die Kontraste zusammen: Armut und Verelendung mischen sich mit anrüchigem großstädtischen Ghetto-Flair und erinnern an Bilder des New Yorker Stadtteils Harlem.

So hinterlässt das zugleich in Istanbul und dem Ruhrgebiet produzierte Fotografie-Projekt bleibende Eindrücke. Die schleichenden Transformations- und Gentrifizierungsprozesse der Kulturhauptstadt-Metropolen Istanbul und Ruhr und ihre Auswirkungen auf die dort lebende Bevölkerung werden in den Aufnahmen der jungen, deutschen und türkischen Fotografen eindrucksvoll dokumentiert.

„UNTEN ? Brüche und Vitalität der Metropolen“ Fotografie aus Istanbul und dem Ruhrgebiet, noch bis zum 25. September 2010 im Wissenschaftspark Gelsenkirchen.


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