KUNSTAUSSTELLUNG: Schade um da Vinci

Die großartig angekündigte Brüsseler Ausstellung „Leonardo da Vinci. The European Genius“ hat Kirmescharakter und zu wenig Inhalt.

Hoch hinaus wollte da Vinci schon im 16. Jahrhundert.

„Zum fünfzigsten Geburtstag der europäischen Union ist in Brüssel nun die größte und vollständigste Leonardo da Vinci Ausstellung der Welt zu sehen. In der Basilika von Koekelberg, der fünft größten Kirche der Welt, finden die Werke einen würdigen Rahmen“ – schon diese Ankündigung der Pressedienste hätte stutzig machen müssen. Eine Show der Superlative also. Auf 3.000 Quadratmeter sind Gemälde, Zeichnungen, Traktate sowie Modellbauten des „Universalgenies der Renaissance“ ausgestellt, mit dessen Geist sich die europäische Union nur allzu gerne schmücken würde: Gilt da Vinci nicht als genialer Vorreiter seiner Zeit? Als jemand der Visionen hatte, und der Grenzen überschritten hat – so wie die europäische Union? Es ist also kein Zufall, dass anlässlich der Festlichkeiten zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge gerade er auserwählt wurde, und dass die Ausstellung unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso steht. Umso erstaunlicher, dass die Gestaltung dieser aufwändigen Ausstellung letztlich kein gutes Licht auf die Informations-, Kultur- und Wissenschaftspolitik der EU wirft.

Man betritt die Ausstellung in der „Basilique Nationale du Sacré-C?ur“, eine Art-Deco-Basilika, die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, durch einen vergoldeten Bilderrahmen. Der Besucher wird durch ein abgedunkeltes Gangsystem geschleust, gebaut aus unprofessionell zusammengefügten, gestrichenen Holzplatten. Hinter eingelegten Fenstern befinden sich geschmacklos gerahmte Werke – wobei aus den dazu gehörenden Bildlegenden nicht klar hervorgeht, inwiefern es sich um Originale oder Faksimiles handelt. Auf Nachfrage erfährt man, dass insgesamt wohl ein gutes Dutzend Originalzeichnungen da Vincis aus der Turiner Bibliothek und aus Privatsammlungen zu sehen sind, sowie zwei originale Gemälde, „Maria Magdalena“ und „Madonna in der Felsengrotte“, die da Vinci zugeschrieben werden. Auch das Traktat über den „Flug der Vögel“, das auf Beobachtungen da Vincis des Flügelschlags und der Winde beruht und ihm als Inspiration für seine Flugmaschinen diente, ist ein Original. Dagegen punktet die in vier Themenschwerpunkte gegliederte Ausstellung – Mensch, Künstler, Ingenieur und Humanist – nicht durch die auf Spanplatten aufgeklebten italienischen Landschaftsfotos oder die nachgestellten Filmsequenzen, in denen etwa ein Schauspieler sich an einer Leinwand probiert, dem man wahrlich nicht abnimmt, dass er jemals zuvor einen Pinsel in der Hand hielt.

Grundsätzlich vermisst man eine fundierte und kritische kulturhistorische Einbettung der Person da Vincis in seine Zeit, vor dem Hintergrund politischer und geistesgeschichtlicher Entwicklungen. Stattdessen werden in additiver Manier die verschiedenen Stationen im Leben da Vincis oder Werke anderer Künstler vorgestellt, die den Meister beeinflusst haben.

In der ersten Abteilung der Ausstellung werden die Etappen in Leonardos Leben nachgezeichnet. Vom befestigten Hügeldorf Vinci in der Toskana, wo er als nichtehelicher Sohn des Notars Ser Piero und des Bauernmädchens Caterina 1452 geboren wurde, seinem wachsenden Interesse für die Wissenschaften und die Natur, bis zu seiner Lehrzeit in der Werkstatt von Andrea del Verrocchio, einem der bedeutendsten Bildhauer im damaligen Florenz. Der Besucher erfährt bruchstückhaft etwas vom Verhältnis da Vincis zu seinen reichen Mäzenen, den Medicis und den Sforzas, sowie über seine Aufenthalte in Rom, Venedig und an der Adriaküste. Der letzte biografische Abschnitt behandelt den Aufenthalt da Vincis im französischen Val de Loire, wo er bis zu einem Tod unter dem Schutz von Franz I., seinen Forschungsarbeiten nachgegangen ist. Zumindest erhält man – trotz der teilweise schlechten Qualität einiger Faksimiles sowie der ungünstigen Aufhängung von Originalen – einen Eindruck der Arbeitsweise von Leonardo da Vinci. So vermitteln etwa die Studien zu einem sieben Meter langen Reitermonument zu Ehren von Francesco Sforza, die das Universaltalent um 1490 machte, einen Endruck seiner umfangreichen Planungen im Vorfeld: Eingehend studierte er anhand von Skizzen die Bewegung und die Anatomie von Pferden und informierte sich über die Bronzebearbeitungstechnik. Überhaupt vermitteln gerade seine Notizbücher, Zeichnungen und Skizzen, die insgesamt aus rund 6.000 Blättern bestehen und die zu seinen Lebzeiten größtenteils nicht veröffentlicht wurden, eine ganz spezifische Herangehensweise: ihm waren Umsetzen und Erkennen gleichermaßen wichtig. Zahlreiche Entwürfe für Gemälde und Skulpturen wurden nie ausgeführt – wohl auch, weil sein Forschungsdrang überwog. Überliefert sind heute künstlerisch wertvolle Illustrationen, die sich mit verschiedensten Themen wie Biologie, Anatomie, Technik, Kriegsführung, Architektur und Kartografie befassten. „Le peintre doit s’efforcer d’être universel“, lautet denn auch eines der wenigen in der Ausstellung angeführten Zitate.

Die Rolle da Vincis als Renaissancekünstler wird in der Ausstellung nicht wirklich erläutert. Zwar werden einige seiner Architekturprojekte und Traktate vorgestellt, die den Einfluss der Renaissance zeigen, jener Entwicklung, die bedingte, dass die mystisch-geistig orientierte Formensprache des Mittelalters von weltlicher, mathematisch-wissenschaftlicher Klarheit abgelöst wurde. Hierzu zählen etwa seine Nachforschungen über die Proportionen des menschlichen Körpers, den so genannten „Vitruvischen Menschen“: In diesem bekannten Proportionsschema der menschlichen Gestalt, das heute die italienischen Ein-Euro-Münzen ziert, wird der Mensch zum Maßstab für ein neues Ordnungssystem gemacht, dem Beginn der neuzeitlichen anthropozentrischen Weltsicht. Typisch für die Renaissance ist auch die Zentralperspektive, eine Methode, um Verkürzungen in der Raumtiefe darzustellen. Auch dieser Technik bediente sich da Vinci, etwa in seinem bekannten Wandgemälde „Das letzte Abendmahl“ des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand, von dem in der Brüsseler Ausstellung eine eher schlechte Reproduktion auf einer Plane zu sehen ist. In diesem Austellungsabschnitt, der da Vinci als Künstler vorstellt, werden zwar verschiedene Werke – auch Originale – präsentiert, einige seiner Schüler erwähnt, jedoch fehlt ein kulturgeschichtlicher Zusammenhang, der das Schaffen Leonardos kritisch einordnet.

Hinter eingelegten Fenstern befinden sich geschmacklos gerahmte Werke – wobei aus den dazu gehörenden Bildlegenden nicht klar hervorgeht, inwiefern es sich um Originale oder Faksimiles handelt.

Ein weiterer Teil der Ausstellung widmet sich dem Ingenieur da Vinci: Rund zwei Dutzend dreidimensionale Modelle aus Holz illustrieren seine Beschäftigungen mit Mechanik, Hydraulik und veranschaulichen seine Erfindungen im Bereich der offensiven und defensiven Militärtechnik sowie des Bauwesens. Er entwickelte Federtypen, konstruierte spezielle Schneckenschrauben und verfeinerte die Mechanik von Schwungrädern. Interessant ist die Vielseitigkeit seiner Forschungen: vom Wagenheber, über das Panzerfahrzeug, verschiedenen Brückenentwürfen bis hin zu den ersten Vorgängern des Automobils oder Entwürfen von Flugobjekten. Eine Einordnung in die Technikgeschichte der damaligen Zeit wäre bei diesem Themenabschnitt interessant gewesen. Dennoch vermitteln die überlieferten Zeichnungen, wie stark sich da Vinci von den Notwendigkeiten seiner Gegenwart inspirieren ließ. Er forschte nach Gesetzmäßigkeiten, mechanisch-funktionalen Urgesetzen. Er leitete seine Lösungen oft unmittelbar aus der Beobachtung der Natur her. Davon zeugt insbesondere der letzte Themenbereich der Ausstellung, die dem Humanisten da Vinci gewidmet ist. Zu sehen sind Faksimiles und Originale seiner anatomischen Studien, die er heimlich im Hospital des Klosters Santa Maria Nuova anfertigte. Im 16. Jahrhundert war die Leichensektion geächtet und offiziell verboten. Die Studien von Muskeln, Nerven und Blutbahnen aus verschiedenen Winkeln heraus, erlaubten da Vinci nicht nur den menschlichen Körper mit seinen Proportionen zu verstehen, sondern auch den Zusammenhang der verschiedenen Organe zu erklären. „Vom Bau des menschlichen Körpers“, heißt denn auch ein grundlegendes Traktat da Vincis, das die systematische Anatomie mitbegründete. Interessant ist, wie Text und Bild in seinen Arbeitsheften eng verflochten sind. Er visualisierte seine Beobachtungen und Erkenntnisse mit solcher Eindringlichkeit und Perfektion, dass seine technischen Zeichnungen selbst wieder zu Kunstwerken wurden. Dass da Vinci es verstand, wissenschaftliche, empirische und philosophische Ansätze miteinander zu verbinden, davon zeugt auch der ausgestellte Nachlass an Notizbüchern und Manuskripten. Leider wurde hier versäumt, Passagen aus seinen Kodexen zu zitieren, die einen Eindruck des Schreibstils vermittelt hätten. Zumindest gewinnt man eine Idee seiner graphischen Schreibweise, denn da Vinci hielt seine Visionen in Spiegelschrift fest. Die Erklärung dafür ist nach wie vor umstritten. Einerseits wird vermutet, dass dies ein Ausdruck seiner ausgeprägten Linkshändigkeit war, andererseits wird davon ausgegangen, dass die Spiegelschrift ihm dazu diente, seine Ideen nicht sofort allgemein zugänglich zu machen.

Nach Verlassen von „Leonardo da Vinci. The European Genius“ wird man den Eindruck nicht los, dass bei diesem Budget eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit dem Werk des vielschichtigen Künstlers und Wissenschaftlers durchaus möglich gewesen wäre. Die EU dürfte ruhig anspruchsvoller sein.

Zu sehen in der Basilika von Koekelberg in Brüssel, noch bis zum 15. März 2008.


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