MUSEUM: Zeitreise in Wallonien

Wer schon immer etwas mehr über unsere wallonischen Nachbarn wissen wollte und Objekte als Zeugnisse von Zeitgeschichte mag, dem sei der Besuch im „Musée de la Vie wallone“ empfohlen.

Ein alter Kreuzgang gehört zum „Musée de la Vie wallone“. Das Museum vermittelt einen guten Einblick in die Industriegeschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich Spaltungstendenzen im belgischen Staat zeigten.

Welcher Gegenstand trägt die Nummer eins im Register des „Musée de la Vie wallone“? Es ist ein Trichter aus Kuhhorn, mit dem bei der Herstellung von Würsten Fleischmasse in Därme gefüllt wurde.

Für alle Daheimgebliebenen bietet sich auch in diesem Sommer die Gelegenheit, die Nachbarregionen zu erkunden. Warum nicht einen Ausflug in die am Zusammenfluss von Ourthe und Maas gelegene belgische Stadt Lüttich (Liège) unternehmen, die Wiege der kontinentaleuropäischen Kohle- und Stahlindustrie. Bereits 1720 hatte die erste Dampfmaschine in einer Kohlemine nahe Lüttich ihren Betrieb aufgenommen. Von hier breitete sich die Industrialisierung aus; die Folge waren starke Immigrationsströme aus Flandern, Italien und Nordafrika, die bis heute die Bevölkerungsstruktur der Stadt prägen. Mit dem Niedergang des Kohlebergbaus im Lütticher Becken und der anschließenden Stahlkrise geriet die Region in große ökonomische Schwierigkeiten und sah sich mit einer dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert.

Wer über die Hintergründe dieser Entwicklung etwas mehr wissen will, für den lohnt sich ein Besuch des „Musée de la Vie wallonne“. Hier geht es um mehr als nur um belgisches Bier und Waffeln. Vor allem die letzten beiden Jahrhunderte, an deren Ende die Schaffung der Region Wallonien steht, werden in dem beeindruckenden dreistöckigen Backsteingebäude behandelt.

Das zentral gelegene Museum mit seinem schönen Innenhof, einem offenen Kreuzgang, befindet sich in einem auf das 13. Jahrhundert zurückgehenden ehemaligen Franziskanerkloster. Nach seiner kürzlich erfolgten Renovierung beherbergt das Gebäude nun die ursprünglich von Privatleuten seit Beginn des 20. Jahrhunderts zusammengetragene stattliche Sammlung von volkskundlichen und industriegeschichtlichen Objekten, Fotografien, Filmen und Dokumenten aller Art. Die Sammlung, die nun in Räumen von erfrischend moderner Gestaltung präsentiert wird, erhält ständigen Zuwachs: „Un musée de la vie populaire doit s’enrichir tous les jours et ne jamais être considéré comme une chose terminée“, lautet die Devise des Museums.

Im ersten Raum wird der Besucher denn auch gleich in den lokalen Kontext eingeführt: Die Materialien Stein, Holz, Kohle und Eisen, die natürlichen Reichtümer der Region sind hier in Form von großen Quadern ausgestellt, aus Lautsprechern ertönen Sprachbeispiele in den vielfältigen lokalen Dialekte, – dem mit dem Französischen verwandten „Wallonisch“, den „picardischen Mundarten“ oder dem Lothringischen – und mit Kunstgegenständen und Fotos wird die Verschiedenartigkeit der wallonischen Landschaft illustriert. Das Hauptaugenmerk der Ausstellung liegt auf dem 19. Jahrhundert und dem Beginn der Industrialisierung zu Anfang des 20., als sich Spaltungstendenzen im belgischen Staat zeigten. Anhand von einzelnen, anekdotischen Objekten wird so die Genese einer unabhängigen Region nachgezeichnet. Kurz nach der Gründung des belgischen Staates im Jahre 1830 widersetzten sich die niederländischsprachigen Flamen dem Vorhaben der Brüsseler Eliten, einen französischsprachigen Einheitsstaat zu gründen. Es entstand die so genannte „Flämische Bewegung“, die den Gebrauch des Niederländischen in Flandern durchzusetzen versuchte. Als Gegenreaktion auf diese Entwicklung bildete sich gegen Ende des Jahrhunderts eine „Wallonische Bewegung“. Diese „Bewegungen“ waren Ausdruck der zunehmenden Besinnung der beiden Volksgruppen auf ihre Identität. Davon zeugen auch die verherrlichenden Plakate, Relikte der Weltausstellung die 1905 in Lüttich stattfand, auf denen Frauen, die damals im Kohlebergbau arbeiteten in stolzer Pose abgebildet waren.

Thematisiert wird hier auch der aus dem Jahr 1912 stammende Brief von Jules Destrée an den König, in der der Schreiber auf den bestehenden Konflikt und erstmals auf die Möglichkeit einer Teilung des Landes in Wallonien und Flandern hinwies: „Es gibt keine Belgier, sondern Wallonen und Flamen.“ Zur gleichen Zeit wurde der expressionistische Maler Pierre Paulus mit der Schaffung eines Emblems der Wallonie beauftragt. Der kampfeslustige rote Hahn auf gelbem Grund erscheint seitdem auf Objekten der verschiedensten Art: auf Tabakpapier, Seife, Bier- und sonstigen Getränkeflaschen usw. Die Ausstellung zeigt eine ganze Reihe von ihnen.

Nach dem zweiten Weltkrieg, und besonders nach dem Einsetzen der „Kohlekrise“ und dem Niedergang der Industrie, verstärkten sich die Forderungen nach der Schaffung einer wallonischen Region. Mit der Entstehung einer auf Dienstleistungen orientierten Wirtschaft und der Verlagerung der Industrie hin zur Petrochemie verlor die Wallonie ihre Funktion als wirtschaftlicher Motor Belgiens an die nördliche Nachbarregion Flandern. Um den wachsenden Konflikt einzudämmen, wurde in den Jahren 1962-1963 eine sogenannte Sprachgrenze zwischen Flandern und Wallonien festgelegt. 1980 kam es schließlich zur Verfassungsänderung, und die Wallonie wurde als unabhängige Region mit eigenen Institutionen und Zuständigkeiten im Rahmen des belgischen Staates anerkannt.

Das Museum zeichnet diese segregativen Schübe jeweils anhand emblematischer Objekte nach. Thema ist daneben jedoch auch die Entwicklung zur Moderne. Und zwar nicht nur, was die Produktionsbedingungen und den Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnik anbelangt. Mit der „rodje narène“, einer Tabakspfeife mit figurativem Männerkopf und einer roten Nase, symbolisierten die Arbeiter schon Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Zugehörigkeit zu den Idealen von Genossen- und Gewerkschaften. Einen gesellschaftlichen Umbruch bewirkten vor allem soziale Errungenschaften, wie die Begrenzung der Arbeitszeiten auf acht Stunden und das Recht auf einen bezahlten Urlaub, das 1936 gesetzlich festgelegt wurde – wesentliche Vorbedingungen des beginnenden Tourismus und der Veränderungen in der Freizeitkultur. Die Ausstellung veranschaulicht anhand vieler konkreter Beispiele diese Entwicklung. Ebenso die Umbrüche, die sich im Transportwesen vollzogen haben und an deren Beginn z. B. jene Frauen stehen, die in Rückentragekörben Steinkohle schleppten.

Der Übergang in die Moderne wird auch am häuslichen Umfeld veranschaulicht. Eine Revolution bildete hier etwa die Ersetzung der mit Kohlen beheizten Kochstelle durch den elektrischen Herd. Ausgestellt ist eine industriell hergestellte Kücheneinrichtung – Markenname „Cubex“ – von 1920, die erste modulare Küchenzeile überhaupt. Auch die hygienischen Fortschritte sind Thema – Badezimmer werden erst ab den 1950er Jahren für die Mehrheit der Belgier zur Normalität. Es ist der Zeitraum, in dem auch Funk- und Fernsehen Einzug in die Wohnzimmer halten und von der Demokratisierung des Wohlstandes zeugen.

Neben dieser allgemeinen Entwicklung, die sich ähnlich auch in Luxemburg abgespielt hat, sind vor allem die in der Ausstellung dargestellten regionalen Eigenarten interessant – die Feste, die Cafékultur, auch etwa die zahlreichen Marionettentheater, die es in der Region gab. Mehr als 600 Puppen aus diesen Theatern hat das Museum in seinem Besitz.

Der Besucher fühlt sich im „Musée de la Vie wallone“ zuweilen wie auf einem reich bestückten, wohlgeordneten Flohmarkt. Manchmal hätte man sich eine konkretere Fragestellung in diesem großen chronologischen Rundumschlag gewünscht. Diese Lücke versuchen die Ausstellungsmacher durch temporäre Ausstellungen zu schließen. Noch bis Ende des Jahres werden in einer solchen Ausstellung – Titel „Vie de grenier“, also Leben auf dem Dachboden – ganz besondere Relikte der Vergangenheit gezeigt. Es sind sozusagen die Lieblingsstücke der Sammlung, Kuriosa vor allem, aber auch Dinge, die geeignet sind, nachdenklich zu machen. In die erste Kategorie gehören etwa die in einer Bücherattrappe verborgene Kloschüssel und die Spezialtasse, die Bartträgern das Kaffetrinken erleichtern sollte. In die zweite die Guillotine, die von 1796 bis 1824 in Lüttich in Betrieb war, oder das Kommunionskleid aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Stoff von einem auf dem Feld gefundenen alliierten Fallschirm stammt.

Mehr Infos unter:
http://www.viewallonne.be


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