NATURWUNDER ALS ROHSTOFFQUELLE: Und jetzt die Tiefsee?

Sie ist der größte Lebensraum des Planeten – und der unbekannteste dazu: Nicht einmal ein Prozent der Tiefsee ist erforscht. Bergbaufirmen wollen nun am Meeresgrund lagernde Rohstoffe abbauen.

Leuchtet verlockend blau, fischt ohne Wurm und Leine: der Schwarzangler.

Die eigentliche Tiefsee beginnt bei tausend Metern. Dorthin dringt kein Sonnenlicht, und der Druck ist so immens, dass ein Mensch ganz einfach zerdrückt würde. Kalt ist es auch da unten. In den Tiefseegräben sinkt die Temperatur auf beinahe null Grad.

Viele sonderbare Wesen leben in der Dunkelheit, zum Beispiel der Tiefsee-Anglerfisch, ein gruseliger Geselle mit imposantem Maul und langen, spitzen Zähnen, die durchsichtig wie Glas sind. Die Männchen beißen sich an ihrer wesentlich größeren Partnerin fest und vereinigen deren Blutkreislauf mit ihrem eigenen. Manchmal muss ein Weibchen mehrere Männchen auf einmal durchfüttern. Der Anglerfisch ist kein Weitstreckenschwimmer, sondern ein Lauerräuber. Im Wasser schwebend, wartet er auf Beute. Diese kommt bestimmt, denn an seinem Kopf baumelt eine Rute, die in einem Leuchtorgan endet – der ultimative Köder für die Tiefsee. Seine Taschenlampe kann der Anglerfisch an- und ausknipsen.

Besuch bei der Blinki-Qualle

Das Leuchten wird durch eine biochemische Reaktion verursacht: Bei der Spaltung von Luciferin, einem Protein, entsteht Energie, die als Licht freigesetzt wird. Normalerweise senden Tiefseefische blaues Licht aus, das im Wasser die größte Reichweite hat. Der Schwarze Drachenfisch kann aber auch rotes Licht produzieren, mit den Lichtzellen unter seinen Augen, die wie Scheinwerfer funktionieren. Der Schwarze Drachenfisch kann in diesem roten Licht sehen, seine Beute nicht. Ein ganz raffinierter Trick also: Der Jäger beobachtet seine Mahlzeit und bleibt selbst unsichtbar.

Auch Atolla wyvillei, eine Tiefsee-Qualle, erzeugt ihr eigenes Licht. Allerdings wird es von ihr nicht als Lockmittel eingesetzt, sondern dient der Verwirrung von Fressfeinden: Die Qualle beginnt wie eine Polizeisirene zu blinken, sobald sie angegriffen wird.

Warum wir uns diesem fernen Lebensraum nahe fühlen sollten, erklärt Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven: „Die Erde ist Tiefsee. Zumindest rein quantitativ betrachtet. 90 Prozent des belebten Raumes gehören zur Tiefsee. So gesehen ist die Erde für uns noch immer ein fremder Planet. Wir können nicht in der Tiefsee wohnen und die Tiefseetiere auch nicht in unseren Laboren oder Zoos halten. Wir können sie nur mit U-Booten und Tiefseekameras besuchen.“

Weil so ein „Besuch“ recht aufwendig ist, werden bei der Erforschung der Tiefen „Autonomous Underwater Vehicles“ (AUV) eingesetzt, unbemannte Fahrzeuge, die mit Messgeräten, wie Sonden und Massenspektrometern, ausgestattet sind. Normalerweise sind die empfindlichen Teile, zum Beispiel die Steuersysteme und Antriebsaggregate, von einer Druckhülle umgeben, die letztlich ebenfalls empfindlich ist. Jedes kleine Leck bedeutet da einen Totalausfall. Generell ist die Tauchtiefe von AUVs auf 3000 Meter begrenzt.

Fahrzeuge mit druckneutraler Unterwassertechnik tauchen tiefer, weil sie ohne aufwendige Druckkammern funktionieren. Stattdessen wird der Innenraum des Fahrzeugs komplett geflutet, so dass die ganze Technik dem Wasserdruck ausgesetzt ist. Tiefseeforscher nutzen ein ganze Reihe von Technologien, die von Bord aus gesteuert werden oder ihre Mission einprogrammiert haben. Um Sedimentproben zu erhalten, wird zum Beispiel ein Multicorer (MUC) an einem Kabel zum Meeresgrund hinabgelassen, wo Plexiglasrohre etwa 30 Zentimeter lange Sedimentkerne aus dem Boden stechen. Der „Bottom-Lander“ erreicht sein Ziel ohne Kabelverbindung und führt Messungen oder Experimente durch. Danach wird – programmiert oder ferngesteuert – Ballast abgeworfen, und mit dem so gewonnenen Auftrieb kehrt der „Bottom-Lander“ zur Oberfläche zurück.

Eine ganz besondere Möglichkeit bietet der Forschungseisbrecher „Polarstern“, auf dem Antje Boetius zurzeit in der zentralen Arktis unterwegs ist. Dort wird untersucht, welche Auswirkungen der Rückgang des Meereises auf den arktischen Ozean und die Lebensgemeinschaften in der Tiefsee hat. Hochauflösende Kamerasysteme filmen den Meeresboden und liefern Bilder von Regionen, die seit Jahrtausenden von mächtigem Eis bedeckt waren. Gerade hat die Forscherin vier Stunden „Tiefsee-Fernsehen“ hinter sich: „Da erblicke ich Dinge, die noch niemand vor mir gesehen hat. Und kann besser verstehen, wie die unbekannten Ökosysteme funktionieren, als ich es könnte, wenn ich nur die Daten zu Temperatur und Salzgehalt vor mir hätte.“

Ich seh‘ die Seegurke!

Vor zehn Jahren begann der „Census of Marine Life“, die Volkszählung des Lebens im Meer. Ein groß angelegtes Projekt, an dem 2.700 Wissenschaftler aus 80 Ländern beteiligt sind. Dennoch kann bis heute nur geschätzt werden, wieviele Arten in der Dunkelheit leben, sagt Boetius, „denn wir haben ja noch nicht einmal ein Prozent der Tiefsee erforscht“. Bei den Tieren sind Millionen von Spezies zu vermuten, bei den Mikroorganismen sogar Milliarden – die größte noch unbekannte Lebensvielfalt aller Ökosysteme der Erde.

Am meisten fasziniert Boetius die arktische Seegurke Kolga hyalina: „Sie sieht aus wie ein durchsichtiges Nilpferd mit vielen Beinen und weidet den Abfall aus, der von der Meeresoberfläche herabsinkt.“ Das Tier kriecht meistens über den Boden, kann aber auch „fliegen“. Dazu muss es Kopf und Extremitäten zu Segeln erweitern und seinen Darm vollständig entleeren, um leichter zu werden. Es ist erstaunlich, wie viele von diesen kleinen Staubsaugern im arktischen Tiefseebecken leben. Sie scheinen enorm schnell zu wachsen – und das bei Temperaturen von minus 1,6 Grad Celsius und dem enormen Druck von 400 bar, der in 4000 Metern Wassertiefe herrscht.

Ran an die Manganknollen!

Wichtig ist die Tiefsee auch für die Kohlendioxid-Bilanz der Erde, denn sie speichert sehr viel abgesunkene Algenbiomasse über lange geologische Zeiträume. Allerdings entnehmen wir dem tiefen Meeresboden den Kohlenstoff auch wieder – in Form von Gas und Öl. Was sich in Jahrmillionen angesammelt hat, wird in wenigen Jahrzehnten wieder in die Atmosphäre geblasen.

Große Teile der Tiefsee liegen ausserhalb der 200-Meilen-Zonen, den „Ausschließlichen Wirtschaftszonen“ der Anrainer. Diese internationalen Gebiete gehören nach Seerecht zum „gemeinsamen Erbe der Menschheit“. Dieses zu verwalten, ist Aufgabe der Internationalen Meeresbodenbehörde, einer UN-Organisation mit Sitz in Kingston, Jamaika. Dort müssen Länder vorstellig werden, wenn sie am Meeresgrund Bodenschätze heben wollen.

Zum Beispiel Manganknollen. Die sehen aus wie schwarze Kartoffeln und wachsen sehr langsam – etwa um einen Millimeter in einer Million Jahren. Sie bestehen zu 30 Prozent aus Mangan, enthalten aber auch Eisen, Nickel und Kobalt. Im Pazifik hat man in 4.000 bis 6.000 Metern Tiefe gigantische Manganknollen-Felder gefunden, ihr Gesamtgewicht soll mehrere Hundert Milliarden Tonnen betragen. Also nichts wie hin! Zwölf Staaten haben schon Claims für Untersuchungen abgesteckt, darunter Deutschland, das sich ein 75.000 Quadratkilometer großes Gebiet gesichert hat.

„Das Gebiet“ werden der internationale Meeresboden und die Hohe See voller Ehrfurcht genannt. Boetius meint, dass es vernachlässigt werde, weil es niemandem gehört. Beschädigungen blieben deswegen ungeahndet. Solange die Staatengemeinschaft nicht geklärt hat, was ihr der Schutz der Tiefsee und des offenen Ozeans wert ist, werde eben nur an den kurzfristigen Gewinn gedacht. Die Forscherin erinnert an den Deepwater-Horizon-Unfall: „Für alles gab es da Strafzahlungen – außer für die Verschmutzung der Tiefsee, die am allerstärksten betroffen war.“

Immerhin stellten die 15 Ospar-Staaten im Jahr 2010 insgesamt sechs Gebiete im Nordostatlantik unter Schutz – die ersten Meeresschutzgebiete auf Hoher See. Die Unterzeichner des Abkommens – unter anderem Luxemburg – haben sich zum Schutz der Meeresumwelt verpflichtet, vom Nordpol bis zu den Azoren einschließlich der gesamten west- und nordeuropäischen Küstengewässer und der Barentssee. Die Ospar-Kommission berät über Offshore-Öl-und Gasförderung oder die Schifffahrt im Nordost-Atlantik und kann, im Rahmen des Übereinkommens, auch rechtsverbindliche Beschlüsse fassen.

Schwarze-Raucher-Zonen

Die Charlie-Gibbs-Bruchzone im Nordostatlantik ist mit rund 145.000 Quadratkilometern das größte der Ospar-Schutzgebiete. Sie besteht aus einem 700 bis 4.500 Meter tiefen Canyon, der den Mittelatlantischen Rücken durchschneidet. Dort wachsen Korallengärten und Schwammbänke, Rückzugsgebiete für bedrohte Tiefseefische. In dem Schutzgebiet ist zum Beispiel der Einsatz von Grundschleppnetzen verboten, weil sie den Meeresgrund aufwühlen und Korallenriffe in einem einzigen Moment zerstören.

Aber reichen ein paar vereinzelte Schutzgebiete, wenn der Hunger nach Rohstoffen als nächstes auf dem Meeresgrund gestillt werden soll? Boetius hält es für erforderlich, zum Ausgleich für jedes für den Tiefseebergbau erschlossene Gebiet eine ebenso große Schutzzone einzurichten. Allerdings müsse die Raumaufteilung wohlüberlegt sein, denn Meeresgebiete veränderten sich in Temperatur und Sauerstoffgehalt.

Ins Visier der Rohstoffindustrie sind auch die seltsamen „schwarzen Raucher“ geraten, vulkanische Tiefseequellen, die sich wie Schornsteine aus dem Meeresboden heben. Sie speien 300 oder 400 Grad heiße Fontänen aus, eine giftige Schwefelwasserstoffbrühe, reich an Gold, Silber, Zink und Kupfer, die absinkt und die begehrte „Seafloor Massive Sulfide Deposits“, kurz SMS, bildet.

Die kanadische Bergbaufirma Nautilus Minerals hat eine Schürflizenz für ein 148.000 Quadratkilometer großes Gebiet in der Bismarck-See erhalten. Solwara 1 liegt innerhalb der 200-Seemeilen-Zone von Papua-Neuguinea, so dass die Regierung über die Bodenschätze bestimmen kann. Auf die Stimme des Volkes hat sie bei der Genehmigung allerdings nicht geachtet. Die Umweltgruppe Mas Kagin Tapani kritisiert, dass niemand die Folgen der Exploration absehen könne. Die Menschen, die an den Küsten leben, würden behandelt wie Meerschweinchen in einem Tiefseebergbau-Experiment. Mit dieser Meinung steht die Gruppe nicht allein: Forscher fordern ein Netzwerk von Schwarze-Raucher-Schutzzonen, in denen nichts angerührt werden darf. Diese Schutzzonen müssten so liegen, dass Meerestiere in den Bergbaugebiete dorthin ausweichen könnten und diese Gebiete nach Abschluss der Schürfarbeiten wieder besiedeln könnten.

In den Schlot-Landschaften tummeln sich die merkwürdigsten Lebewesen, zum Beispiel die Pompeiji-Würmer, denen Temperaturen von 70 oder 80 Grad Celsius nichts ausmachen, oder langbeinige Spinnenkrabben ohne Augen. Darüber hinaus wird vermutet, dass den Schwarzen Rauchern eine besondere Bedeutung bei der Entstehung des Lebens auf dem Planeten zukommt. Dieses Naturerbe sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.


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