JÜDISCHE EMANZIPATION (4/6): Ein jüdischer Abgeordneter

Mit dem Linksliberalen Marcel Cahen zog 1922 erstmals ein jüdischer Politiker ins Luxemburger Parlament ein. Sein Erfolg demonstrierte die Öffnung der Luxemburger Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg.

Ein engagierter Redner in der „Chamber“: Profil von Marcel Cahen während der Parlamentsdebatten, dargestellt von einem „Tageblatt“-Zeichner, 1931.

1919. Der Krieg war vorbei, am 18. Mai hatte die Abgeordnetenkammer, im Rahmen einer groß angelegten Verfassungsreform, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts beschlossen. Dieses sollte nicht mehr nur Männern mit Besitz , sondern allen erwachsenen Frauen und Männern zustehen. Der Begriff „allgemein“ war dabei relativ: Wie selbstverständlich blieben all jene von politischen Rechten ausgeschlossen, die nicht die Luxemburger Nationalität besaßen. Diese Neuerung hatte aber einen Effekt, der weit über den konkreten politischen Bereich hinausging: Die politische Gleichberechtigung förderte die Demokratisierung auf allen Ebenen der Gesellschaft. Somit veränderte sie auch die gesellschaftliche Position der jüdischen Glaubensangehörigen.

Unter dem Zensuswahlrecht im 19. Jahrhundert hatten sich immer wieder auch jüdische Männer in die politische Arena gewagt. Das bekannteste – und erfolgreichste – Beispiel ist jenes der Godchaux-Familie, die auf Schleifmühl eine Weberei betrieb: Durch Von Guetschlick und Samson Godchaux, die 1845 erstmals an Wahlen für die Ständeversammlung teilnahmen, bis zu Emile Godchaux, der bis 1940 im hauptstädtischen Gemeinderat saß, war diese Familie kontinuierlich in der Politik vertreten. Aber auch andere jüdische Männer beteiligten sich im 19. Jahrhundert am Wahlgeschäft, wie der Pferdehändler Abraham Cahen aus Stadt-Luxemburg oder der Ettelbrücker Händler Israel Clement.

Besonders die Godchaux nahmen über ihre politische Beteiligung hinaus auch an diversen Freizeitaktivitäten teil. So war Samson Godchaux in zahlreichen Vereinen Mitglied – etwa im Bürger-Casino oder im Schützenverein – und besaß einen Jagdschein. 1870 finden wir seinen Namen unter den Organisatoren einer patriotischen Manifestation. Zugleich war er aber auch ab 1852 Präsident des jüdischen Konsistoriums. In seinem Habitus passte sich Godchaux damit auch jenem der jüdischen Bürger in den Nachbarländern an, die zugleich Religion und Vaterland hochhielten.

Allerdings waren in Luxemburg wie anderswo die Grenzen des Bemühens um Zugang zur Mehrheitsgesellschaft eng gesteckt: Die Historikerin Josiane Weber stellt für das jüdische Wirtschaftsbürgertum, mit Ausnahme der Godchaux, eine „quasi nicht existente familiäre Einbindung in die Oberschicht Luxemburgs“ fest. Und auch in den öffentlichen Diensten, die sich ab 1839 entwickelten, hatten Juden de facto keinen Zutritt, auch wenn keine formale Exklusion bestand.

Was das Schulpersonal anging, so stellte das Luxemburger Wort noch 1914 klar: „Im letzten Winkel unseres Landes weiß man, dass im lux. Lehrerkorps keine Juden und Protestanten sind.“ Und als 1940 unter der Naziokkupation mit der berüchtigten Verordnung vom 5.9.1940 auch die Bestimmung erlassen wurde, dass jüdische Staatsbedienstete und LehrerInnen ihre Tätigkeit einzustellen hatten, wurden beim Personal der Sekundarstufe kein einziger Jude und nur zwei katholische Lehrer mit jüdischer Abstammung angegeben, sowie ein Lehrer, der mit einer Halbjüdin verheiratet war.

Juden im Demokratisierungsprozess

Vom 1919 eingeführten allgemeinen Wahlrecht konnten aufgrund der Nationalitätenklausel längst nicht alle Jüdinnen und Juden profitieren, denn sie hatten oft keinen luxemburgischen Pass. Bereits 1905 waren unter den jüdischen Glaubensangehörigen die Nicht-LuxemburgerInnen in der Mehrheit (siehe Graphik). Diese Tendenz steigerte sich bis zum Zweiten Weltkrieg, als der luxemburgische Anteil unter den jüdischen Religionsangehörigen nur mehr ein Viertel ausmachte. Neben der polnischen Immigration wuchs nach 1933 die deutsche, bedingt durch die Judenverfolgung nach Hitlers Machtergreifung, rasant. Allerdings stieg der Anteil der jüdischen Minderheit an der Gesamtbevölkerung von 1905 bis 1940 lediglich von 0,46 auf 1,32 Prozent.

Jedoch gab es sicher auch einen beträchtlichen Anteil von Personen, die entweder schon im Großherzogtum geboren wurden, von Kindesalter an dort lebten oder doch zumindest seit Jahrzehnten im Land waren. Für viele mag sich die Frage einer Naturalisierung zunächst nicht gestellt haben. Sie wurde erst akut, als die Regierung begann, AusländerInnen systematisch auszuweisen. Die Luxemburger Nationalität anzunehmen, war für viele keine realistische Option. Der Historiker Denis Scuto hat darauf hingewiesen, dass von 1915 bis 1929, mit Ausnahme jener des Prinzgemahls Felix, überhaupt keine Naturalisationen genehmigt wurden. Darauf folgten 1930 und 1935 zwei Sammel-Naturalisationen. In der gesamten Zwischenkriegszeit seien lediglich 121 Gesuche angenommen worden, davon 13 jüdische.

Zunächst aber schien es, als stünden mit dem Wahlrecht nun alle Türen offen: Demokratisierung und gesellschaftliche Öffnung machten sich etwa im Vereinsleben bemerkbar. So wurde der Metzgermeister Lucien Cahen bereits 1908 Vorstandsmitglied im Feuerwehrkorps des Bahnhofsviertels und versuchte sein Glück bei den Gemeindewahlen. In den zahlreichen populären Fahrrad-Clubs, die im Süden des Landes entstanden waren, fanden sich ebenfalls Juden und Jüdinnen wieder. Cerf Salomon und Ernest Kleeblatt waren 1932 Ehrenmitglieder beim Schifflinger Fahrrad-Club „La Pédale“. Tischtennis, so der Historiker Laurent Moyse, brachte ebenfalls jüdische und nicht-jüdische SportlerInnen zusammen. Nach Hitlers Machtergreifung suchten zudem große Sportler Zuflucht in Luxemburg. In Düdelingen zum Beispiel, berichtet die Historikerin Antoinette Reuter, wurde der Österreicher Mosch Katz Häusler vom Wiener Club Hakoah Fußballtrainer.

Ein jüdischer Politiker

Auch im Bereich der politischen Beteiligung war eine neue Dynamik zu verspüren. In mehreren Gemeinden beteiligten sich jüdische Bürger erfolgreich an den Kommunalwahlen. Und mit Marcel Cahen zog 1922 erstmals ein Jude ins Parlament ein.

Marcel Cahen, geboren 1887, stammte aus Stadt Luxemburg, seine Eltern betrieben in der Großgasse ein Zigarrengeschäft. 1910 eröffnete er als junger Mann mit seinem Bruder in der Rue Wallis eine Zigarettenfabrik, die wirtschaftlich sehr erfolgreich war. In seiner Praxis als Firmenchef entsprach Cahen dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bild des sozial denkenden Arbeitgebers.

Bereits kurz nach dem ersten Weltkrieg bekannte Cahen politisch Farbe: Als frischgewählter Gemeinderat wurde er 1921 bei einem großen, von sozialistischen und liberalen Kräften einberufenen Friedenskongress Mitglied des Organisationskomitees. Kurz danach wurde er unter dem Liberalen Gaston Diderich Stadtschöffe in einer Koalition mit der Rechtspartei. Bei den Parlamentswahlen 1922 kandidierte er auf der liberalen Liste – mit Erfolg.

Cahen entpuppte sich als Vollblutpolitiker. Auf Gemeindeebene vertrat er regelmäßig Bürgermeister Gaston Diderich, sowohl im Gemeinderat selbst als bei den unzähligen Festlichkeiten und Versammlungen, die im Rahmen der Kommunalpolitik anfielen. Im Parlament intervenierte er systematisch als Oppositionspolitiker, aber auch als Berichterstatter zu Gesetzesprojekten, als die Liberalen in die Regierungsmehrheit eingebunden waren. Besonders in der Finanz- und Währungspolitik war er ein engagierter Redner, den sogar das „Luxemburger Wort“ manchmal lobte. Aber auch in anderen Themenbereichen tat er sich durch sein Plädoyer für Modernisierung und Effizienz des Staates hervor.

Er hätte wohl das Zeug zum Bürgermeister und zum Minister gehabt, doch zwei Faktoren verhinderten dies. Einerseits führten Unstimmigkeiten und ein persönlicher Konkurrenzkampf zwischen Gaston Diderich und Cahen zum Streit. 1922 und 1924 hatte Cahen als Erstgewählter der Liberalen zugunsten von Diderich auf das Bürgermeisteramt verzichtet. Die Historikerin Anne Mores schreibt: „Il reste difficile à savoir si Diderich s’est à l’époque opposé à la nomination de Cahen, ou s’il a plutôt été tenu compte de préférences exprimées par la droite.“ Nach den Wahlen von 1925 wurde Cahen sogar als möglicher Minister gehandelt.

Zudem bildeten sich unter den Liberalen zwei Strömungen heraus: Die Rechtsliberalen unter Gaston Diderich, die ab 1926 mit der Rechtspartei die Regierung stellten, und die Linksliberalen, angeführt von Marcel Cahen, die mit der Arbeiterpartei kooperieren wollten und deutlich antiklerikal waren. Die politischen Klärungsprozesse zwischen der liberalen und der sozialistischen Strömung prägten die Politik der Zwischenkriegszeit. In diesen Konflikten zerbrach die fragile liberale Einheit. 1926 enthielt sich Cahen beim Vertrauensvotum für die neue rechts-liberale Regierung und ab 1928 kämpfte er mit einer eigenen Zeitung, der kurzlebigen „Freien Presse“ gegen seinen Kontrahenten Diderich. In dieser Phase näherten sich Cahens linke „Radikale“ stark der Arbeiterpartei an. Erst 1934, nach mehreren Wahlgängen, in den sich die rechten „Radikalsozialisten“ stets als etwas stärker erwiesen hatten, kam es im Rahmen eines Neuanfangs der sich nun radikal-liberal nennenden Partei zur Versöhnung, bei der Cahen sich jedoch die Flügel stutzen ließ: Gegenüber der rechtsgerichteten Regierungspolitik muckte er nicht mehr auf. So stimmte er 1935 die Erweiterung des undemokratischen Systems der Spezialvollmachten für die Regierung mit, die 1915 während des Krieges eingeführt worden waren. Ebenso unterstützte er 1937 das Gesetz zur Kriminalisierung der Luxemburger Spanienkämpfer. Schließlich trug der liberale Politiker 1937 das Gesetzesprojekt „zum Schutz der sozialen und politischen Ordnung“, das sogenannte Maulkorbgesetz mit und forderte sogar „ein strengeres Vorgehen gegen die einzelnen Fremden“. In der anschließenden Kampagne zum Referendum verteidigte Cahen, „allerdings ziemlich lau“, wie ihm das ‚Tageblatt` bescheinigte, das Ordnungs-Gesetz.

Dagegen äußerte er sich 1936 als Mehrheitspolitiker deutlich gegen das Ständestaat-Modell, wie es in Österreich an der Tagesordnung war. Auf einem radikal-liberalen Parteikongress wandte er sich laut „Wort“ „gegen die Mär von der berufsständischen Ordnung. Die ist uns schon dadurch verdächtig, daß sie aus den Diktaturen herübergenommen worden ist. Nachdem diese das Individuum geknebelt haben, wollen sie auch die Berufsstände knebeln.“ Das Wort wies den Abgeordneten scharf zurecht und verteidigte die berufsständische Ordnung. Diese stamme keinesfalls aus Diktaturländern, sondern „aus der naturrechtlich-christlichen Gesellschaftsauffassung und ist das einzige Mittel gegen jede Diktatur von links oder rechts“.

Auch Cahens arbeiterfreundliche Haltung, die er bis 1940 noch aufrechterhielt, passte nicht mehr zur Ausrichtung der Radikalliberalen, die deutlich wieder zur Partei der Arbeitgeber geworden waren. Doch ideologisch gab es keine Heimat für einen linken Liberalismus jenseits der Arbeiterpartei. So befand sich Cahen seit seinem Alleingang 1928 zwischen allen Stühlen. Es gelang ihm weder, der Öffentlichkeit seine Kritik an Diderichs politischem Stil zu vermitteln, noch eine linksliberale Alternative aufzubauen. Nach seiner Rückkehr zu den Radikalliberalen, die ab 1937 zunächst die Regierungskoalition von Rechtspartei und Arbeiterpartei stützten, blieb er unter ihnen ein Außenseiter, obwohl er sich mit Diderich die Präsidentschaft der Partei teilte. Er schien stärker von Loyalitätsdenken gegenüber der Regierungsmehrheit als gegenüber der eigenen Fraktion beseelt.

Religionsangehörigkeit und Demokratie

Die Figur Cahen ist auch interessant, weil sich am Umgang mit dem jüdischen Politiker die Öffnung der Gesellschaft zeigt. Angesichts der antisemitischen Stimmung, die noch um die Jahrhundertwende vorgeherrscht hatte, wurde seine Religionszugehörigkeit erstaunlich wenig in den politischen Auseinandersetzungen thematisiert. Cahen, obwohl Mitglied des jüdischen Konsistoriums und von 1933 bis 1940 dessen Präsident, erschien, ähnlich wie Godchaux vor ihm, als der Prototyp des assimilierten Juden. Generell ist festzustellen, dass die Anerkennung der jüdischen Gemeinschaft im Vergleich zu den Jahren zuvor gewachsen war. Dem alljährlichen in der Synagoge stattfindenden Dankgottesdienst für die Großherzogin etwa wohnten stets auch nicht-jüdische Politiker bei, 1939 nahmen daran auch Kammerpräsident Reuter von der Rechtspartei und der sozialistische Minister Blum teil.

Zwei Elemente werfen jedoch einen Schatten auf dieses Bild der Eintracht. Als Cahen 1928 seine eigene Partei gründete, und damit in Opposition zur Mehrheit von Rechtspartei und Rechtsliberalen trat, waren aus den Äußerungen des „Wort“ erneut antisemitische Andeutungen herauszuhören, wenn auch weit verhaltener als drei Jahrzehnte zuvor. So fielen nun bei den Attacken gegen den politischen Gegner Vokabeln wie „Mauscheln“, „wahrer Jakob“ oder „Stimmenschacher“, und man verdächtigte ihn, Freimaurer zu sein. Man unterstellte ihm gar, das Begräbnis seines Bruders zur Wahlbestechung ausgenutzt zu haben, weil er der dort aufgetretenen Musikgesellschaft eine Spende hatte zukommen lassen. In zwei Beiträgen, die sich allein mit seiner Person befassten, wurde er als charakterlos und unaufrichtig dargestellt.

Zweitens ist festzustellen, dass das „Wort“ im Allgemeinen keinesfalls von seinem antisemitischen Kurs abgekommen war. Während früher angesessene Juden und Jüdinnen zu Fremden deklariert worden waren, wurde nun zwischen „guten“ Einheimischen und bösen Fremden unterschieden. So hieß es 1935 in einem Leserbrief von „einigen Menschenrechtlern aus Esch“ über eine Protestversammlung der Liga für Menschenrechte gegen die zunehmenden Freiheitsbeschränkungen: „Sehr aufgeregt tun in diesen Versammlungen die jüdischen Redner. Begehen sie nicht damit die allergrößte Unklugheit und sollen ihre Glaubensgenossen sie nicht endgültig eines Besseren belehren. Ist denn unser Land nicht z.B. das Dorado des ganz internationalen Judentums geworden? Man durchgehe die Liste der Naturalisationen, welche jüngst von der Kammer angenommen wurden. Wieviele Juden sind darunter? Man spaziere durch die Straßen der Stadt Luxemburg, durch Neumerl, durch die Geschäftsstraßen von Esch, Düdelingen, Ettelbrück, Differdingen usw. Man besuche unsere Jahrmärkte und lausche auf die Sprache der Händler. Und dabei erdreisten sich Grünlinge von Stammesgenossen, für deren Treiben wir selbstverständlich die anderen Juden nicht verantwortlich machen wollen, im Lux. Lande über ‚Freiheitsbeschränkung` zu sprechen? Luxemburg hat bisher den Konfessionen alle Freiheit gelassen. Keiner kann inniger als der Schreiber dieser Zeilen wünschen, daß es so bleibe. Aber dann überlasse man Provokationen, wie die obengenannten, die, wenn die anderen Luxemburger nicht vernünftiger wären als sie, die schönste Hetze auslösen könnten.“

Das „Tageblatt“ nahm den Fehdehandschuh auf, um ihn an den Abgeordneten Cahen weiterzureichen. Ein weiterer „Menschenrechtler“ antwortete nämlich unter dem Titel „Ein kleines Pogrömchen?“ auf die Drohungen des ‚Wort`: „Soviel ich weiss, lässt das ‚Wort` solche Hitler-Hetze hübsch bleiben, wenn es gilt, sich Anzeigen jüdischer Geschäftsleute zu sichern. Ich frage mich auch, was der Präsident des jüdischen Konsistoriums, Hr. Marcel Cahen, von diesem Artikel sagt, der jedenfalls einen sehr sonderbaren Dank seitens der klerikalen Bundesgenossen für seine Koalitions-‚Treue` darstellt.“

Ein Jahr zuvor, als der Gemeinderat sich 1934 bereitgefunden hatte, das Defizit einer Musikgesellschaft zu übernehmen, das durch ein von deutscher Seite organisiertes Furtwängler-Konzert entstanden war, hatte es bereits im „Tageblatt“ geheißen: „Wir sind die Letzten, die dieses hervorragende Kunstereignis nicht gebührend würdigen, sehen aber mit Recht in demselben auch ein schlaues Propagandamittel, das Dr. Göbbels mit der Europa-Tournee seines Operndiktators und Staatsrates klug verwertet und darum lehnte unsere Fraktion im Stadtrat dieses Subsid ab. ‚Keinen Luxemburger Centime für offene oder versteckte Hitlerpropaganda!`, das ist unser Grundsatz. Auffällig war, daß keiner der beiden Juden im Stadtrat die nötige Zivilkourage aufbrachte, gegen dieses Subsid zu stimmen. Der eine Held, Godchaux mit Namen, stimmte dafür (!), während Marcel Cahen sich mit aller Anstrengung bis zur Enthaltung durchrang.“

Wenn auch in diesen Beispielen die Religionsangehörigkeit jüdischer Politiker instrumentalisiert wurde, um sie politisch in die Enge zu drücken, erstaunt es im Nachhinein doch, wie wenig sich Cahen nach 1933 öffentlich mit dem Antisemitismus auseinandersetzte. Dabei hatte in der Zeit von Cahens Annäherung an die Arbeiterpartei die von ihm gegründete, kurzlebige Zeitung „Die Freie Presse“ 1928 bereits frühzeitig gegen die Gefahr des Faschismus gewarnt.

Cahen flüchtete im Zweiten Weltkrieg zunächst nach Südfrankreich, dann nach den USA, um schließlich in London als Finanzberater der Exilregierung zu fungieren. Er kehrte, so das „Tageblatt“, „als gebrochener Mann“ nach Luxemburg zurück, führte aber noch sein Schöffenamt weiter und wurde Mitglied der „Beratenden Versammlung“. Im Gomand-Prozess sagte er zugunsten der Exil-Regierung aus, und brach damit politisch wohl definitiv mit den Liberalen des „Groupement“ – auf jeden Fall kandidierte er weder bei den Kommunal- noch bei den
Nationalwahlen 1945. Er starb 1949.

Cahen war im 20. Jahrhundert der erste und einzige jüdische Abgeordnete. Ein Zufall? Oder schloss sich hier wieder die Tür der gesellschaftlichen Öffnung?

Quellen:
Luxemburger Zeitungen.
Kammerbericht.
Volkszählungen.
ANLUX, IP-1557, Instituteurs et écoliers non-aryens.
Protokollbücher des jüdischen Konsistoriums.

Literatur:
Mores, Anne. Le libéralisme: la crise du parti radical-libéral dans l’entre-deux-guerres au Grand-Duché de Luxembourg (1919-1939/40). Mémoire de maîtrise histoire. Metz, 1985.
Moyse, Laurent: Du rejet à l’intégration. Histoire des juifs du Luxembourg des origines à nos jours, Luxembourg 2011.
Reuter, Antoinette: La présence juive à Dudelange, in: Wagener, Renée / Fuchshuber, Thorsten (Hg.): Émancipation, Éclosion, Persécution. Le développement de la communauté juive luxembourgeoise de la Révolution française à la 2e Guerre mondiale, Bruxelles 2014, 89-118.
Roemen, Robert: Aus Liebe zur Freiheit, 150 Jahre Liberalismus in Luxemburg : von liberalen Akzenten und liberalen Akteuren, Sl 1995.
Scuto, Denis: La nationalité luxembourgeoise (XIXe – XXIe siècles), Bruxelles 2012.
Weber, Josiane. Familien der Oberschicht in Luxemburg. Elitenbildung & Lebenswelten 1850-1900. Luxembourg 2013.

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WOXX-SERIE

Alle gleich? Staat, Gesellschaft und jüdische Minderheit
Jüdische Emanzipation in Luxemburg

1789, der Beginn der Französischen Revolution, steht für die Einführung der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit in Europa. Damit war auch Religionsfreiheit und Gleichheit der Religionsgemeinschaften gemeint. Inwieweit wurde dieses Versprechen für die jüdische Minderheit in Luxemburg im 19. und 20. Jahrhundert eingelöst? Darauf versucht diese Serie, von der vor dem Sommer bereits drei Folgen erschienen sind, Antworten zu finden.
Die Autorin forscht an der Universität Luxemburg zur Geschichte der jüdischen Gemeinschaft, die auch Thema ihres Promotionsprojektes ist.


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