GESCHICHTE: Die Resistenz der Schneegänse

Das Geschichtsmuseum als Denkfabrik: Historikerin Marie-Paule Jungblut hat keine Angst vor heißen Eisen.

Die 10-jährige Marie-Paule Jungblut möchte verstehen, was in der Zeitung steht. Der beste Weg dahin sei es, Geschichte, Wirtschaft und Jura zu studieren, meint ihr Vater. Die Tochter entscheidet sich schließlich für Geschichte. Nicht allein aus Begeisterung für das Vergangene, sondern vor allem aus Interesse für die gesellschaftlichen Entwicklungen von heute.

Sommer 1983: Marie-Paule Jungblut will Dolmetscherin für Arabisch werden. Im Fernsehen sieht sie Dolmetscher in winzigen Kabinen sitzen und ist sich plötzlich nicht mehr sicher. „Ein Dolmetscher spricht nicht seine eigenen Gedanken aus, sondern ist gezwungen ein Sprachrohr für jemand anders zu sein, auch für dessen Dummheiten.“ Dessen „Kallefzegkeeten“, sagt Marie-Paule Jungblut. Im Herbst schreibt sie sich im Centre universitaire für Geschichte ein.

Ein Jahr später geht sie nach Göttingen. „Weil dort nicht so viele Luxemburger waren.“ Studentenvereinigungen sind nicht ihr Ding. Den Weg des geringsten Widerstandes peilt sie gar nicht erst an. Sie weiß, dass sie Glück hatte, den Job als Historikerin im Geschichtsmuseum zu ergattern. Gerade deshalb war es ihr wichtig, sich ganz bewusst dafür entscheiden zu können. Nach abgeschlossenem Studium geht sie als Forschungsassistentin nach Manchester, dann dank eines Stipendiums nach Florenz und kehrt zurück, um unter der Leitung von Paul Margue an der Ausstellung über 150 Jahre Luxemburger Unabhängigkeit teilzunehmen. Der Historiker wird für sie eine Art Mentor, er holt sie auch ins Geschichtsmuseum. Vorher aber stellt sich Marie-Paule Jungblut dem „Proffeconcours“, erst als sie angenommen wird, sagt sie endgültig im Museum zu. Für sie keine paradoxe Entscheidung. „Es war wichtig die freie Wahl zu haben. Ich möchte nichts aus Frust tun.“

Marie-Paule Jungblut sitzt hinter ihrem Büro, gegenüber vom hauptstädtischen Geschichtsmuseum. Aus dem Regal fischt sie ein Buch mit ihrem Lieblingszitat von Jacques Hainard: „Gute Ausstellungen sind wie Mille-feuilles.“ Für die Dauerausstellung, vor allem aber für die temporären Ausstellungen, hat das Geschichtsmuseum viel Lob eingeheimst, geriet aber auch ins Kreuzfeuer der Kritik. Zu polemisch, zu sehr auf Effekt bedacht. Für die Historikerin ist jede Reaktion ein Erfolg: „Über Themen bei denen Konsensus herrscht, brauchen wir keine Ausstellungen zu machen.“ Allein „Luxembourg, les Luxembourgeois“ im Jahre 2001 mit Lady Rosa wühlte das luxemburgische Tagesgeschäft auf, wie es Ausstellungsobjekte hier zu Lande selten getan haben.

Jungbluts größte Angst ist es eines Tages bequem zu werden und nicht mehr die Energie zu haben, um unangenehme Fragen zu stellen. Im Januar dieses Jahres wurde sie zur Präsidentin der AIMH (Association internationale des musées d’histoire) gewählt. Dort ist es ihr erstes Ziel die verfeindeten Schwestern IGMA (eine ähnliche Vereinigung, bei der die Archäologen jedoch stärker vertreten sind) und AIMH zu versöhnen. „Meine zweite Hoffnung ist es, neue Ausstellungsmöglichkeiten zu finden, neue Wege, um eine Ausstellung in einem größeren Projekt zu verankern“, erklärt Marie-Paule Jungblut.

„Ich bin nicht die Historikerin, die sich in einem Themengebiet vergräbt. Ich möchte Geschichte vermitteln“, sagt sie. Dabei scheut sie sich nicht davor auch streitbar zu sein. Anlässlich der Ausstellung „Et wor alles net esou einfach…“ über Luxemburg im Zweiten Weltkrieg, wurde ihr bewusst, wie schwierig es ist nationale Mythen zu hinterfragen. „Man hätte uns sogar Beiträge über die Resistenz der Schneegänse geliefert, wenn wir gewollt hätten.“ Kritischere Themen, wie die Haltung der Luxemburger nach der Befreiung sind die Stiefkinder der historischen Forschung. Infragestellung sei nicht Karriere fördernd, behauptet sie. „Es gibt leider noch niemanden, der die Arbeit eines Paul Cerf fortführt.“

Das Geschichtsmuseum kann jedoch verhältnismäßig unabhängig arbeiten: „Wir haben Glück, dass die Stadt Luxemburg keine Angst davor hat, sich selbst in Frage zu stellen.“ Auch wenn Marie-Paule Jungblut dabei nicht immer so weit gehen kann, wie sie es möchte. Bei der aktuellen Ausstellung „Sei sauber!“, wollte sie eine tiefer gehende Überlegung zum Idealbild des Körpers anstreben. Es ist ein Thema, was die Vierzigjährige auch im persönlichen Leben beschäftigt. Als Jugendliche litt sie unter Essstörungen: „Es ist ein gesellschaftliches Tabuthema.“ Sie scheut nicht davor zurück, es anzusprechen. Schließlich sei der Druck, sich in ein Schema der oberflächlichen Perfektion zu zwängen, heute allgegenwärtig. Als öffentliche Person prescht sie nach vorne, um diese Barrieren zu durchbrechen.

Marie-Paule Jungblut erzählt, räumt ein paar Bücher aus dem Blickfeld, sie hakt die Kapitel ab, wartet nicht auf Stichwörter. Auf einen Zettel neben ihrem Computer hat sie eine Karikatur gezeichnet. Sie blickt vom Schreibtisch auf: „Haben Sie alles, was Sie wissen wollten?“


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