Facebook-Welt, reale Welt: Durch das Bildschirmglas

Eine Fotoausstellung, bei der man Schulkameraden trifft. In Roeser haben Freunde der Lokalgeschichte Facebook genutzt, um mit alten Klassenfotos Erinnerungen wachzurufen – und haben so den Sprung in die reale Welt geschafft.

Ob Premierminister oder Journalist, jeder möchte die alten Klassenfotos sehen. Und alte Bekannte treffen – nicht nur auf Facebook, sondern auch vor Ort, im Roeserbann.

Computerbildschirme, sogar die besten, spiegeln. Heißt das, dass man durch sie in eine andere Welt hindurchgehen kann, wie die Heldin in „Through the Looking-Glass“ (Alice im Spiegelland)? Doch halt mal: Die Welt, in die Alice gelangt, ein riesiges Schachbrett, auf dem sie mit lebenden und ziemlich überspannten Spielfiguren zu tun hat, ist logisch und irreal-pfiffig zugleich. Mit anderen Worten: Sie ähnelt der virtuellen Welt, in der wir uns bewegen, wenn wir in den sozialen Medien unseren „Friends“ und „Followern“ begegnen und dort „chatten“ und „tweeten“. Daraus folgt, dass der Sprung durch das Bildschirmglas uns aus der virtuellen in die reale Welt zurückbefördert.

Zum Beispiel in den Festsaal der Roeser Gemeinde, wo am vergangenen Wochenende eine Art Konveniat rund um eine Fotoausstellung stattfand. Eine Veranstaltung, zu der es ohne Social Media wohl kaum gekommen wäre. Am Anfang stand die Mode der „Du bist nur aus …, wenn …“-Facebook-Gruppen, in denen der Lokalpatriotismus gepflegt wird mittels Erinnerungsfotos und Sprüchen wie „… wanns de beim Pündel geléiert hues schwammen“. Im März vergangenen Jahres lancierte die Düdelinger „Du bass nëmmen“-Seite einen Flashmob vor dem Rathaus, und im Juli organisierte die Bettemburger Gruppe ein Mega-Konveniat. Als in der Réiserbann-Gruppe ein paar Mitglieder anfingen, alte Klassenfotos zu posten, waren die Reaktionen recht lebhaft: „Das bin ich“, „Kennt jemand den?“, „Ist das nicht … ?“

Klassenfoto mit Xavier

René Ballmann, Gemeindesekretär im Ruhestand und Vizepräsident der „Amis de l’histoire“, hatte sich eigentlich wegen seiner Kinder auf Facebook angemeldet. Doch nun fing er an, fleißig Fotos aus seinem Archiv zu posten. Im Herbst 2014 begann er, das Konzept einer Ausstellung zu entwickeln, bei der möglichst viele Klassenfotos mit möglichst vielen Namen gezeigt werden sollten. „Fotos sammeln und ordnen, eine gute Winterbeschäftigung“, erklärt er mir am Samstag in der „Buvette“ neben dem Festsaal. Ich hatte ihn als jungen Gemeindebeamten in Erinnerung, und der weißhaarige Senior, der mich herzlich empfängt, versprüht den gleichen Tatendrang wie vor 40 Jahren. Er sei sich nicht sicher, dass das plötzlich aufgeflammte Interesse an alten Klassenfotos im Internet von Dauer sein werde, sagt er, deshalb sei es ihm wichtig gewesen, die Idee in anderer Form weiterzuführen.

Bei der Organisation mitgeholfen haben auch der HC Berchem – wohl der wichtigste Verein im „fußballfreien“ Roeserbann – und die Gemeinde. Bürgermeister Tom Jungen ist auch auf einigen Fotos zu sehen. René Ballman will noch den Sonntag abwarten, um zu sehen, wie viel Interesse die Ausstellung hervorruft. Einen ersten Erfolg kann er allerdings schon jetzt verbuchen: Zur Einweihung am Freitag war Premierminister Xavier Bettel persönlich erschienen – auch ein Roeserbänner. „Natürlich hatten wir ihn eingeladen“, stellt René Ballmann klar, „aber er hatte sich nicht angemeldet – wir waren überrascht, als er plötzlich da stand und sich mit seiner alten Lehrerin unterhielt.“

Samstagsabends habe sogar eine ehemalige Klasse die Ausstellung besucht, erzählt er mir tags darauf. „Deren Konveniat war zufällig für dieses Wochenende geplant gewesen, also sind sie vorbeigekommen, um sich die Fotos anzuschauen und einen Aperitif zu nehmen. René Ballmann ist ein guter Erzähler, er erinnert sich an seine Jugend, als die Berchemer Bahnschranke noch von Hand geschlossen wurde und die Bahnwärterinnen sich manchmal viel Zeit ließen. „Eine gute Entschuldigung, wenn wir zu spät zur Schule kamen“, grinst er. Ich kenne die Schranke, zu meiner Zeit war sie schon mechanisiert. „Es sind zwei Züge nacheinander gekommen“ klang weniger überzeugend als Entschuldigung. Mittlerweile gibt es den Bahnübergang nicht mehr, stattdessen eine Unterführung für die Autos; Fußgänger müssen den Umweg über den Bahnhof nehmen.

Erinnerungen@Roeserbann.lu

Während wir uns unterhalten, begrüßt René Ballmann mehrere Besucher, wird herbeigerufen, um ein Detail zu erklären oder einen Namen zu ergänzen. Um Personen ohne Facebook zu erreichen, hatte er einen Aufruf in der Gemeindezeitung „De Buet“ veröffentlicht, berichtet er. Doch Fotos und Informationen in der realen Welt zusammenzubekommen, erwies sich als schwieriger als im Internet. „Kaum jemand meldete sich, ich musste die Leute ansprechen, wenn ich sie im Cactus oder im Match traf.“ An diesem Wochenende aber sind viele gekommen, ganz gleich, ob sie es über den „Buet“ oder über Facebook erfahren haben.

Die neben den alten Klassenfotos angebrachten erklärenden Notizen verbinden lokalgeschichtliche Fakten mit skurrilen Anekdoten. Aus dem Deliberationsregister stammt die Geschichte von Pfarrer Neuens, dem 1885 vorgeworfen wurde, beim Religionsunterricht zu überziehen, so dass die Suppe schon kalt war, wenn die Kinder nach Hause kamen. Ein Jahr später wurde landesweit der Religionsunterricht auf zwei Stunden die Woche verkürzt … außer in Biwingen: „Um Pfarrer Neuens entgegenzukommen, darf er drei Stunden abhalten, muss dafür aber die Kinder um 11 Uhr nach Hause gehen lassen.“

René Ballmann geht es darum, die kollektive Erinnerung des Roeserbanns zu bewahren. Mit diesem Projekt hofft er, seinen Mitbürgern den Wert dieses Unterfangens vor Augen zu führen – „damit bei der nächsten Räumaktion nicht alle alten Dokumente und Fotos auf den Müll wandern“. Doch mit dem Sammeln alter Objekte ist es nicht getan, man muss sie auch in einen Kontext setzen können. „Die alten Klassenfotos sind nett, aber was ist ein Foto ohne die Namensliste?“ Dank Facebook wurden die alten Fotos zum Leben wiedererweckt, alte Bekanntschaften per Chat wiederbelebt, um manchmal in ein Wiedersehen „face to face“ zu münden.

Die Vorstellung, das Internet sei etwas Schädliches, ist fast so alt wie mein Klassenfoto. Im Gymnasium mussten wir seinerzeit einen Aufsatz über die Gefahren der Telematik – so nannte man das damals – verfassen. Ich vertrat die These, die Virtualisierung der menschlichen Beziehungen führe nicht notgedrungen zu Oberflächlichkeit und Vereinsamung. Projekte wie die lokalen Facebook-Gruppen und die aus ihnen hervorgegangene Roeser Ausstellung bestätigen mein Aufsatz-Argument: Die Menschen haben die Möglichkeit zu wählen. Gewiss, sie können Computer und Internet als Schutzwall vor der Realität zu nutzen – aber auch als zusätzliche soziale Vernetzungsmöglichkeit, die dann auch zu neuen Bekanntschaften und Freundschaften in der realen Welt führt.

Wer bin ich?

Mit seiner Bitte, zu den Klassenfotos die Namen anzugeben, hat René Ballmann den Prozess in Gang gebracht. Manche hat das „Fahndungs“-Fieber so gepackt, dass sie alle technischen Möglichkeiten einsetzen. Bei einem der Fotos hat Nicole den Namen des Jungen vergessen, erinnert sich aber daran, wie dessen Vater aussieht und stellt ein Bild von ihm online. „Das ist M. D.“, postet Gilles, und Denise erinnert sich prompt: „Der Junge ist P.“ Bei einigen Fotos kommen auch weniger gute Erinnerungen hoch. „Die hat ‚Pouten` ausgeteilt“, wird das Foto einer Lehrerin kommentiert – also Schläge mit dem Lineal auf die Handflächen. „Ich hab` auch welche bekommen, das war damals so“, tröstet eine Leidensgenossin.

Im Festsaal der Gemeinde herrscht am Sonntagnachmittag Gedränge – ein Erfolg für die Organisatoren. Die Besucher grüßen sich freundlich, und beim gemeinsamen Studieren eines Fotos beginnt man sich zu unterhalten. Die ältere Dame im Sonntagskleid neben meiner Schwester – ach ja, das ist die Mutter ihrer besten Schulfreundin. Dann stürmt eine Frau auf uns zu, grüßt uns freundlich, „Man erkennt sich wieder!“ Es ist K., eine Klassenkameradin, die wir lange nicht mehr gesehen haben – so muss sie ihren Vornamen selbst nennen. „Mit der Brille siehst du ganz anders aus“, stellt meine Schwester fest. Gemeinsam studieren die drei Frauen das Foto der Vorschulklasse, versuchen, die Namensliste unter dem Bild zu ergänzen. Am Ende fehlen nur noch drei Namen. Neun waren zuvor auf Facebook zusammengekommen, zehn weitere wurden während der Austellung ergänzt – von mindestens fünf verschiedenen Besuchern, wie die Handschriften belegen.

Später setzt sich meine Schwester zu K., plaudert und gibt ihr ihre Postanschrift – damit die Einladung zum nächsten Konveniat klappt. Ich habe ein paar alte Bekannte getroffen, doch niemanden aus meiner Klasse, schade. Allerdings bin ich beim Essen am Sonntag mit netten Leuten ins Gespräch gekommen, die ich vorher nicht kannte. Die Unterhaltung mit René Ballmann war gewiss auch eine andere Art Gespräch als seinerzeit in der Ferienkolonie, an der er als Begleiter und ich als Schüler teilnahmen. Beim nächsten Versuch, virtuelle und reale Welt zusammen zubringen, bin ich jedenfalls dabei. Auch, um mitzuhelfen, dass möglichst viele in alle Winde verstreuten ehemaligen Roeserbänner Schulkinder den Sprung durchs Bildschirmglas vollziehen.


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