Serie: (Un-)heiliger Krieg 2/4
: Ordnung und Wahnsinn


Über das Innenleben des Islamischen Staates zu lesen, kann schlaflose Nächte bereiten. Doch was ihn wirklich charakterisiert, was ihn besonders erfolgreich und gefährlich macht, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Tod und Verderben im Bagdader UN-Hauptquartier 2003. Einer der frühesten und spektakulärsten Selbstmordanschläge von At-Tauhid wa-l-Dschihad, der Vorgängerorganisation des IS. (Foto: MSgt James M Bowman / USAF / PD)

Wie soll man den Schrecken des Westens, die Köpfe abschneidenden Barbaren – und die erfolgreichsten Dschihadisten der vergangenen 1.300 Jahre – nennen? Die Organisation selbst hat ihren Namen seit 1999 mehrfach geändert und will mittlerweile „Kalifat des Islamischen Staates“ tituliert werden. Das erklärt der Spiegel-Korrespondent Christoph Reuter im Vorwort seines Buches „Die schwarze Macht“. Die arabische Bezeichnung Da’ish für die Organisation charakterisiert er als „ein Wort, das sich hervorragend mit dem Gestus der Abscheu hervorstoßen lässt“ – und deren Gebrauch deshalb von ihr selbst verboten wurde. Reuter hat sich für den neutraleren Namen „Islamischer Staat“ (IS) entschieden. Die Anführungszeichen unterstreichen, dass er sich ihn nicht zu eigen macht – schließlich werfen manche muslimischen IS-Gegner der Organisation, vor, un-islamisch zu sein.

Der Anspruch, ein Staat zu sein, scheint dagegen den wenigsten Experten Probleme zu bereiten – auch wenn der IS häufig als Terrororganisation bezeichnet wird. Aber unbestreitbar herrscht er über große Teile im Osten Syriens und im Norden des Irak und versucht dort, flächendeckend eine einheitliche Ordnung – unter anderem auf Basis der Scharia – zu etablieren. Das ist mehr, als die meisten „Terrororganisationen“ der jüngsten Geschichte jemals versucht haben.

Zwar hat al-Qaida um die Jahrtausendwende weit spektakulärere Anschläge im Westen verübt als die IS-Anhänger – jener auf das World Trade Center fand vor exakt 14 Jahren statt. Doch für eine Staatsgründung oder gar die Ausrufung des Kalifats wollte Osama Bin Laden warten: auf einen Aufstand der muslimischen Massen, der nie zustande kam. Reuter urteilt, al-Qaida sei „immer wieder daran gescheitert, zu sehr zu glauben (…) statt die realen Verhältnisse für sich zu nutzen.“ Letzteres sei dagegen typisch für den IS, den viele westlichen Beobachter falsch einschätzten: „Vor allem die Frage nach dem religiösen Kern verstellt den Blick auf den höchst facettenreichen Weg dieser Terrororganisation.“

Die Bedeutung der Übernahme einer Radikalengruppe durch glaubensfreie Ingenieure der Macht geht in den sich überschlagenden Nachrichten zum Terror vollkommen unter.

Christoph Reuter gilt aufgrund seiner Berichte auch im englischsprachigen Raum als einer der besten Kenner der Situation vor Ort. Unter der Kapitelüberschrift „Das Stasi-Kalifat“ beschreibt er, wie der IS systematisch Informationen über soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse in der Bevölkerung sammelt – auch in noch nicht eroberten Gebieten. Beim Einmarsch, oder wenn es zu Aufständen kommt, weiß die Organisation ganz genau, wer ihre potenziellen Verbündeten sind und welche Gegner sie als erstes verschwinden lassen muss. Der Autor beruft sich auf die Aufzeichnungen eines gewissen Haji Bakr, die er als „Masterplan“ für die Eroberungen des IS betrachtet. Anfang 2013 herrschte in Syrien seit anderthalb Jahren Bürgerkrieg, und weite Teile des Landes wurden von der – stark zersplitterten – Opposition kontrolliert. In diesem Chaos Fuß zu fassen, war der Plan des IS – und so entstanden Woche um Woche unauffällige Büros des IS in den Gebieten, die nicht mehr von der Regierung kontrolliert wurden. Die erste Hälfte von „Die schwarze Macht“ beschreibt detailliert die weitere Umsetzung des Plans in Syrien.

Dass diese Vorgehensweise eher der eines Geheimbunds als der einer Miliz gleicht, ist kein Zufall. Haji Bakr war zuvor ein Kader der irakischen Baath-Partei gewesen. Laut Reuter „modifizierte [er] lediglich, womit er groß geworden war: Saddam Husseins allumfassenden Geheimdienstapparat“. Und dass der IS, der sich damals noch „Islamischer Staat im Irak“ nannte, sich Syrien zuwandte, lag daran, dass die US-Besatzungstruppen und die schiitischen Milizen ihn in den Jahren zuvor stark dezimiert hatten (woxx 1331). Möglicherweise war letzteres auch der Grund dafür, dass der Einfluss der ehemaligen Baath-Kader innerhalb des IS stetig zunahm. Reuter sieht jedenfalls in dieser Ausrichtung auf Effizienz den größten Grund zur Sorge: „Was für eine enorme Bedeutung diese faktische Übernahme einer Radikalengruppe durch glaubensfreie Ingenieure der Macht bedeutet, geht in den sich überschlagenden Nachrichten zum Terror des IS vollkommen unter.“

Wie die Macht in diesem Zweckbündnis verteilt ist und ob es sich halten kann, dazu gibt es auch Einschätzungen, die sich von Reuters These unterscheiden. Unbestritten ist aber, dass die IS-Führungsriege – islamischer Internationalismus hin oder her – vor allem aus Irakern besteht. Und dass die „schwarze Macht“ im Aufkommen eines sunnitischen Nationalismus wurzelt – forciert durch die Bedrohung durch das alawitische Assad-Regime und die schiitische Regierung in Bagdad.

Standbild: Karl-Ludwig Poggemann / Flickr / CC-BY 2.0

Selbstdarstellung der Kämpfer des Islamischen Staates: Eine Mischung von Tradition und Moderne, von Überredungskunst und brachialer Gewalt. (Standbild: Karl-Ludwig Poggemann / Flickr / CC-BY 2.0)

Effizient ist auf den ersten Blick auch die Wirtschaftspolitik des IS. Immerhin hat sie seit der Eroberung und Plünderung der nordirakischen Stadt Mossul im Sommer 2014 Anspruch auf einen Guinnessbuch-Eintrag als vermögendste Terrororganisation der Welt. Mit dem Geld versuche der IS, flächendeckend eine öffentliche Grundversorgung zu sichern, schreiben Michael Weiss und Hassan Hassan in „Isis: Inside the Army of Terror“. Das unterscheide sie von den Oppositionsgruppen, die zuvor die syrischen Ölfelder kontrolliert und das mit dem Verkauf des Öls verdiente Geld bestenfalls für die lokale Versorgung genutzt hatten.

Seit Herbst 2014 macht Christoph Reuter allerdings beim IS eine „Erosion von innen“ aus. Einnahmequellen, wie die Schutzgelder aus sunnitischen Gebieten, die von der irakischen Regierung kontrolliert wurden, seien versiegt: „[Das] war in dem Moment zu Ende, da die Untergrundmafia selbst zum Staat wurde.“ Auch die US-Luftangriffe bewirkten neben der militärischen Schwächung einen Rückgang der Erdölförderung und -aufbereitung, einer der wichtigsten Einnahmequellen.

Un-islamischer Staat? Eine wortwörtliche 
Lektüre der muslimischen Überlieferung kann durchaus als 
Rechtfertigung für 
Eroberungszüge 
und grausamste Unterdrückung herhalten.

Vor allem aber ist sind es die Auswirkungen des religiösen Fanatismus, die in Reuters Augen zersetzend wirken. Dass der IS nichts mit Islam zu tun habe, schreibt er, sei „nur die halbe Wahrheit“. Eine wortwörtliche Lektüre des Korans und der Frühgeschichte des Islam könne durchaus Eroberungszüge und grausamste Unterdrückung rechtfertigen. Der Autor erweitert gewissermaßen seine These: „Dieser Proto-Staat vereint im Inneren rationale und irrationale Anteile. Rational, im Sinne der Machterhaltung, sind seine Kontrolle und Grausamkeit. Irrational aus dieser Perspektive ist die religiös verbrämte Schikane der Bevölkerung.“

Reuter beschreibt, wie die Sittenpolizei – oft internationale IS-Kämpfer und Kämpferinnen – kleinste Details der Kleiderordnung durchsetzen. Kinder und Jugendliche sind einem sehr selektiven Schulunterricht ausgesetzt und sie werden ermutigt, Erwachsene zu denunzieren. Details wie die Verhüllung von Kuheutern – als Schutz vor sündigen Phantasien – oder das Verbot von Ersatzreifen – um Gottvertrauen zu demonstrieren – lassen unweigerlich an die willkürlichen und kontraproduktiven Vorschriften denken, die es während der chinesischen Kulturrevolution gab. Der Autor prognostiziert: „Der IS [wird] immer größere Schwierigkeiten haben zu funktionieren, denn ein Koranrezitator kann keine Stromleitung reparieren, keine Excel-Tabelle erstellen und keinen Kranken behandeln.“

Dass es jenseits des Mainstream-Klischees über die Natur des IS – „islamistische wahnwitzige Barbaren“ – auch unter Experten sehr verschiedene Einschätzungen gibt, kann nicht verwundern. Aus Kriegsgebieten unter geheimdienstähnlicher Kontrolle berichtet man nicht wie aus der Luxemburger Chamber. Ob Reuter oder Weiss und Hassan, sie alle berufen sich zum Teil auf Aussagen und Material aus westlichen Geheimdienstquellen – was vielleicht auch erklärt, warum in ihren Büchern die Fehler und Missetaten der USA nur am Rand behandelt werden.

Sowohl Weiss/Hassan als auch der französische Journalist Nicolas Hénin („Jihad Academy“) nennen als Vordenker des IS nicht Haji Bakr, sondern Abu Bakr Naji, der 2004 mit „Management of Savagery“ eine Art Handbuch des Dschihadismus verfasst hat. Es gehe darum, eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen, die die pro-westlichen arabischen Regime ins Chaos stürzt, fasst Hénin Najis Idee zusammen. In diesem Chaos würden die Menschen dann eine islamische Ordnung willkommen heißen.

Wovor flüchten die Menschen wirklich? Sind Folter und Massaker „im Dienste der Laizität“ akzeptabler als im Namen der Scharia?

Anders als Reuter führen Weiss/Hassan viele Belege dafür an, dass die vom IS etablierte Ordnung für die Betroffenen relativ attraktiv ist. Wo zuvor rivalisierende Oppositionsgruppen gekämpft, geplündert und gemordet hatten, herrsche jetzt eine gewisse „governance“: Die Konfiskation aller Waffen habe den Alltag befriedet, die Scharia-Justiz sei zwar hart, aber relativ unparteiisch. Der IS gewähre – bei aller Überwachung und gegebenenfalls brutaler Einmischung – einen gewissen Spielraum für lokale Selbstverwaltung der Städte und der Stammesgebiete. Hénin sieht darüber hinaus in den Luftangriffen der USA eine große Stärkung der Akzeptanz des IS in der Bevölkerung. Da sich diese gegen die Islamisten, nicht aber gegen die syrischen Regierungstruppen richten, erscheine der IS als mächtigste Bastion im Kampf gegen Baschar al-Assad. Luftangriffe, von denen dagegen Reuter meint, der IS habe sie unbedacht provoziert und werde dies noch bedauern.

Einig sind sich alle Autoren darin, dass ein Aufstand gegen den IS unwahrscheinlich ist, solange es keine Alternativen für die syrischen und irakischen Sunniten gibt: Die Barbarei der islamischen Ordnung erscheint für die meisten Menschen erträglicher als der Terror des Assad-Regimes und der irakischen schiitischen Milizen – deren Übergriffe insbesondere bei Hénin dokumentiert sind.

(Grafik: Axiom292 / Wikimedia / PD)

Die Flagge des At-Tauhid wa-l-Dschihad. Ähnliche Flaggen werden heute vom IS und anderen dschihadistischen Gruppen benutzt. (Grafik: Axiom292 / Wikimedia / PD)

Dass die jetzt in Europa ankommenden Flüchtlinge auf der Flucht vor dem IS seien, mag für Jenny, Menni, den luxemburgischen Premier und den französischen Präsidenten klar sein. Es ist nichtsdestoweniger falsch. Sie flüchten vor dem Bürgerkrieg und der mit ihm einhergehenden Verarmung. Und, an erster Stelle, vor dem mörderischen Vorgehen von Assads Geheimdiensten und Milizen. Im Kapitel „Qui tue qui? Mais, surtout, combien?“, schätzt Hénin – selbst zehn Monate lang in islamistischer Gefangenschaft -, dass die Zahl der Assad-Opfer jene der IS-Opfer um ein Vielfaches übersteigt.

Sind Folter und Massaker „im Dienste der Laizität“ akzeptabler, als wenn sie im Namen der Scharia praktiziert werden? Und wenn der religiöse Fundamentalismus wirklich per se bedrohlich ist, wieso wird er im „friedlichen“ Saudi-Arabien hingenommen? Dort wird ebenfalls regelmäßig geköpft und, wie Reuter anmerkt, Frauen dürfen, anders als im IS, noch nicht einmal Auto fahren.

Schließlich wäre die vermeintliche Einzigartigkeit der grausamen IS-Methoden zu hinterfragen. Zum einen, weil die Berichte über die Folterpraxis insbesondere der syrischen Dienste zwar weniger bekannt, aber nicht minder erschreckend sind. Zum anderen, weil, im Gegensatz zum Assad-Regime, der IS die Belege für seine Gewalttaten per Youtube um die Welt schickt – Angst und Schrecken zu verbreiten, ist Teil seiner Eroberungs- und Rekrutierungsstrategie. Reuter nennt interessanterweise Beispiele von westlichen Falschmeldungen über Gräueltaten – die selbstverständlich nicht vom IS dementiert wurden. Es scheint, als ob die Verteufelung des Gegners, trotz der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte, vom westlichen Publikum als Begleitmusik für „gerechte“ Kriege gewünscht wird. Vielleicht weil sie hilft, zu verdrängen, dass die eigenen Drohnen- und Bombenangriffe häufig nichts anderes sind als Gräueltaten auf Knopfdruck.

Christoph Reuter: Die Schwarze Macht, Deutsche Verlags-Anstalt 2015
Michael Weiss and Hassan Hassan: ISIS – Inside the Army of Terror, Regan Arts 2015
Nicolas Hénin: Jihad Academy, Fayard 2015

Islamischer Staat, arabisches Chaos

Bücher, die den Zerfall des Iraks und Syriens, die Terroranschläge in Europa und den Aufstieg des IS erklären, sind keine leichte Lektüre. Doch die nach Europa strömenden Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten wecken den Wunsch, solche Ereignisse besser einordnen zu können. Thorsten Fuchshuber und Raymond Klein haben sich für die woxx eingelesen. Nach einem ersten Beitrag zur Vorgeschichte der Krise (woxx 1331) und der vorliegenden Charakterisierung des IS folgen in den kommenden Wochen zwei weitere Artikel zu möglichen künftigen Entwicklungen und zum Phänomen der aus dem Westen kommenden IS-Kämpfer.


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