Afroamerikanischer Romanklassiker: Von Hoffnung beseelt

Mit „The Street“ von Ann Petry 
ist ein Meisterwerk der afro-
amerikanischen Literatur in neuer Übersetzung auf Deutsch erschienen. Die Milieustudie aus dem Jahr 1946 ist schonungslos, aber nicht deprimierend.

Verlag Nagel & Kimche

„Lutie hatte die Zeitung lange in Händen gehalten und zu verstehen versucht, wie für den Reporter aus dem abgerissenen Hungerhaken ein ‚kräftiger Neger‘ hatte werden können.“ Die junge Afroamerikanerin Lutie Johnson kann es zunächst nicht fassen, wie in der Zeitung über einen erstochenen Schwarzen berichtet wird. Doch im Grunde weiß sie, was die Wahrnehmung des Journalisten bestimmt: „Wer das ganze aus der Warte eines satten Wochenlohnes betrachtete und Farbige für von Natur aus kriminell hielt, der sah den einzelnen Schwarzen ja gar nicht. Und zwar deshalb nicht, weil ein Schwarzer für ihn kein Individuum war. Der war eine Bedrohung, ein Tier, ein Fluch, eine Plage oder ein Witz.“

Mit diesen wenigen Zeilen aus ihrem Roman „The Street“ hat Ann Petry die Voreingenommenheit der Weißen gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung prägnant charakterisiert. Vorurteile, die heute genauso wie vor einem Dreivierteljahrhundert bestehen. Die Romanhandlung beginnt im November 1944 in Harlem. Die Verhältnisse in der 116th Street, wo die Geschichte größtenteils spielt, sind prekär. Ein Ausweg aus dem Viertel ist schwer zu finden.

Lutie Johnson will, dass es ihrem achtjährigen Sohn Bubb einmal besser geht. Sie will ihm den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen, ohne dabei ihre Würde zu verlieren. Sie schuftet, doch die Widerstände sind übermächtig. Zunächst lebt sie mit ihrem Mann in Queens, nimmt eine Stelle als Haushälterin bei einer weißen Familie in Connecticut an. Sie schickt monatlich Geld, während er säuft und fremdgeht, worauf sie beschließt, zusammen mit Bubb auszuziehen. In Harlem angekommen, hat sie ihr Schicksal in die eigene Hand genommen. Das bedeutet Befreiung und Niederlage zugleich: für viele wird die 116th Straße zu einer Sackgasse – zu einem Ghetto, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Doch Lutie gibt nicht auf. Sie verwahrt sich gegen die doppelte Diskriminierung, die Herabwürdigung als Afroamerikanerin und die sexuelle Ausbeutung als Frau. „Das schien bei Weißen ein Reflex zu sein“, heißt es in dem Buch. „War eine Frau dunkelhäutig und noch jung, tja, dann war sie ein Flittchen, ganz klar.“

Ist der Alltag der Bewohner Harlems vom Kampf gegen die Armut geprägt, sind die Afroamerikaner allgemein in der US-Gesellschaft einem alltäglichen Rassismus ausgesetzt. „The Street“ beschreibt diese strukturelle Benachteiligung: den weißen Anwalt, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und die Angst und das Unwissen seiner Klientin Lutie ausnutzt; die weißen Lehrer, die gleichgültig gegenüber ihren schwarzen Schülern sind.

Ann Petry liefert mit ihrem Buch eine gesellschaftskritische Darstellung bis ins Detail.

Ann Petry liefert mit ihrem Buch eine gesellschaftskritische Darstellung bis ins Detail. Sie verzichtet dabei auf unnötige Ausschweifungen. Ihr Stil ist direkt und ohne Umschweife, aber stets genau. Mit wenigen Sätzen entwirft sie meisterhaft Szenerien, etwa wenn sie einen stärker werdenden Wind beschreibt. Sie zeichnet die verschiedenen Figuren in ihrer Ambivalenz und Komplexität, wenn sie in deren „Stream of Consciousness“ eintaucht. Dabei wechselt sie elegant die Perspektiven, wechselt beispielsweise von Lutie zu deren Sohn. Petry versteht es, ihre Beobachtungen prägnant in Worte zu fassen. So wenn sie beschreibt, wie Lutie in einem Heim für straffällig gewordene Kinder und Jugendliche wartet: „Nach und nach war sie unmerklich zusammengesunken wie die anderen wartenden Frauen. Und jetzt wusste sie auch, warum alle so dasaßen. Weil wir uns wie die Tiere um unsere Weichteile krümmen bei Gefahr, die in einem solchen Raum lauert und noch verstärkt wird durch das Schweigen.“

Der Roman ist eine Milieustudie über Not und Perspektivlosigkeit par excellence. War er 1946 der bis dahin erfolgreichste Roman einer Afroamerikanerin, hat „The Street“ nichts von seiner Aktualität eingebüßt und gilt noch immer als ein Meilenstein in der Geschichte der afroamerikanischen Literatur, die mit einer Ballade von Lucy Terry (ca. 1730-1821) begann. Die Poetin Phillis Wheatley (ca. 1753-1784) war schließlich die erste schwarze Autorin, deren Texte gedruckt wurden.

Die große Zeit der afroamerikanischen Literatur setzte indes erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Spät war mit Charles Gordone 1970 ein erster schwarzer Dramatiker geehrt worden, für sein Theaterstück „No Place to Be Somebody“. Jahrzehntelang hatte man die afroamerikanischen Literaten bei der Vergabe von renommierten Literaturpreisen weitgehend ignoriert – und damit auch jene Literatur, die sich kritisch mit dem Rassismus in den USA auseinandersetzte. Erst im Jahr 1993 wurde mit Toni Morrison schließlich die erste Afroamerikanerin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Von der Apothekerin zur zur Autorin von Weltliteratur: Ann Petry. (© Carl Van Vechten/Yale Collection of American Literature, 
Beinecke Rare Book and Manuscript Library)

Bereits der 1908 in Mississippi geborene Richard Wright hatte 1938 mit einer Sammlung von Erzählungen unter dem Titel „Uncle Tom’s Children“ den institutionellen Rassismus in den Südstaaten thematisiert. Sein Roman „Native Son“ erregte zwei Jahre später nicht zuletzt wegen seiner kompromisslosen Darstellung des Rassismus große Aufmerksamkeit. Die Bühnenversion des Romans wurde 1941 von Orson Welles am Broadway aufgeführt. Zu jener Zeit wurde New York mehr und mehr zum Zentrum der aufkommenden afroamerikanischen Literatur, angeführt von Wright, der den 16 Jahre jüngeren James Baldwin förderte, ihm ein Stipendium verschaffte und kurz darauf das autobiographische Buch „Black Boy“ veröffentlichte.

Auch auf Ann Petry hatte Wright großen Einfluss, von vielen Kritikern wird die Autorin gar zu Wrights Schule gezählt. Ungeachtet dessen zeichnet sich das Werk der 1908 als Ann Lane in Connecticut geborenen Apothekerstochter durch große Eigenständigkeit aus. Sie wuchs in relativ wohlhabenden Verhältnissen auf, folgte zunächst der Familientradition und studierte an der pharmazeutischen Fakultät der Universität von Connecticut. Danach arbeitete sie sieben Jahre lang als Apothekerin, bevor sie heiratete und nach New York übersiedelte.

Dort wurde sie mit der Armut der Schwarzen konfrontiert. Zuerst verarbeitete sie wie viele andere Schriftsteller ihre Erfahrungen als Journalistin für zwei Zeitungen in Harlem, besuchte dann aber Kurse an der Columbia University und verfasste erste Geschichten sowie ihre ersten Romane. Ihr Meisterwerk ist und bleibt „The Street“. Später schrieb die 1997 verstorbene Schriftstellerin unter anderem ein Buch über Harriet Tubman, das wohl bekannteste Mitglied der „Underground Railroad“. So wurde das Netzwerk von Fluchthelfern genannt, das entflohenen Sklaven bei der Flucht aus den Südstaaten in den Norden half und dem später unter anderem von Colson Whitehead und Ta-Nehisi Coates ein literarisches Denkmal gesetzt worden ist.

In „The Street“ ist Lutie Johnson zwar die Heldin, die nie aufgibt und zuversichtlich bleibt – und die neben ihren Putzjobs Schreibmaschineschreiben und Stenografie lernt. Die neben ihr zweite Protagonistin ist jedoch die titelgebende Straße. Auf ihr wachsen die Kinder auf. Spielplätze haben sie nicht. Die Straße ist der Schauplatz eines gnadenlosen Lebens, das einem nichts schenkt, wo Generation auf Generation in einen nicht enden wollenden Kreislauf gerät. Gegen Ende von „The Street“ heißt es: „Und während du auf der Arbeit warst, um die Miete für das Drecksloch zusammenzubringen, na, da sorgte die Straße für deinen Jungen. Mehr noch. Die Straße wurde ihm Mutter und Vater und zog ihn für dich auf, und sie war ein schlechter Vater und eine böse Mutter, und du selbst, ja, du hast es der Straße noch leichter gemacht, indem du deinen Jungen dauernd mit dem Geld in den Ohren lagst.“

Die Milieuschilderung durch die Autorin gehört zu den großen Stärken des Buches, das nun, nach 1982 neu auf Deutsch herausgegeben, in einer gelungenen Übersetzung von Uda Strätling vorliegt. Die US-Autorin Tayari Jones hat ein passendes Nachwort verfasst: „The Street“ biete alles, schreibt sie, als Meisterin des Noir blicke Petry in den Abgrund, ohne zu stürzen. Ihre Geschichte sei düster, aber nicht deprimierend. In der Tat erscheinen selbst die unsympathischen Figuren letztendlich so, als seien sie durch die prekären Lebensverhältnisse zu dem geworden, was sie sind. „The Street“ hat wirklich nichts, aber auch gar nichts an Aktualität verloren. „Die Geschichte ist verstörend“, so Tayari Jones, „aber auch fesselnd (…) Und wie alle menschliche Erfahrung ist die Geschichte leidvoll, aber von Hoffnung beseelt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ann Petry: The Street – Die Straße. 
Mit einem Nachwort von Tayari Jones. 
Aus dem amerikanischen Englisch von 
Uda Strätling. Verlag Nagel & Kimche, 
384 Seiten.

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