Alte und neue Kriege
: Denken statt schießen

Feiern zum Gedenken an vergangene Kriege, Politikertreffen zur Vorbereitung oder Abwendung künftiger Konflikte – die Zufälle des Kalenders laden zum Nachdenken ein.

Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs. Deutscher Soldatenfriedhof an der Somme. (Foto: Raymond Klein)

Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs. Deutscher Soldatenfriedhof an der Somme. (Foto: Raymond Klein)

Nationalfeiertag in Luxemburg heißt Mega-Party in den Gassen der Altstadt – wer könnte dagegen etwas haben? Hinzu kommen das Feuerwerk und die Militärparade – ja, aber … Gewiss, die bunten Muster, die sich am Nachthimmel entfalten, das Wechselbad von Aua in den Ohren und Oh in den Augen, das hat schon was Betörendes. Und der gut orchestrierte Marsch der Gala-Uniformen, das stolze Vorzeigen von Gewehr und Hund, Bazooka und Dingo, das lässt eine feierliche Stimmung aufkommen. Und doch … Wer könnte in Zeiten wie diesen das Knallen hören, die Lichter am Himmel sehen, ohne an jene Orte zu denken, an denen das Feuerwerk am Himmel nicht Feier und Festfreude signalisiert, sondern Tod und Verderben? Und wer könnte es den Organisationen Jonk Lénk und Richtung 22 verdenken, dass sie die Militärparade stören und als Teil der „Gewaltspirale, an der wir mitdrehen“ und die „Krieg immer wieder mit Krieg beantwortet“ anprangern?

Am 1. Juli versammeln sich am Lochnagar-Krater in der Nähe des nordfranzösischen Städtchens Albert 5.000 Menschen, um des Beginns der Somme-Offensive vor 100 Jahren zu gedenken. Mehr Menschen passen aus Sicherheitsgründen nicht in diesen Minenkrater, der einen Durchmesser von fast 100 Metern hat – und damit der größte seiner Art ist. Am Morgen des Angriffs, um 7.28 Uhr, brachten dort Soldaten der Royal Engineers 27 Tonnen Sprengstoff zur Detonation, um die deutsche Stellung „Schwabenhöhe“ zu beseitigen. Die Mine war am Ende eines 300 Meter langen unterirdischen Stollens platziert, an dem über sieben Monate gegraben worden war.

Zwar verschüttete die Explosion die Schützengräben der ersten deutschen Linie und begrub deren Verteidiger, aber der große Durchbruch gelang nicht – bereits am Abend war die Schwabenhöhe wieder in deutscher Hand. Den ganzen Sommer über wurde an der Somme weitergekämpft, doch als die Offensive im November eingestellt wurde, war die Frontlinie um gerade einmal zehn Kilometer nach Osten verschoben – zum Preis von über einer Million toter, verwundeter und vermisster Soldaten auf beiden Seiten.

Massaker an der Somme

Die Somme ist für die Briten so symbolträchtig wie Verdun für die Franzosen. Doch während für letztere die Stadt an der Meuse – unter anderem – für heldenhaften Widerstand und Sieg steht, assoziiert man jenseits des Ärmelkanals die Somme-Offensive mit dem sinnlosen Opfergang einer ganzen Generation. Die jungen Soldaten aus Großbritannien und dem Commonwealth wurden von ihren Generälen wie Lämmer zur Schlachtbank geführt, so der von dem Geschehen entstandene Eindruck. Dass nach dem blutigen Scheitern am 1. Juli die Offensive monatelang fortgesetzt wurde ohne ernsthafte Aussicht auf Erfolg, ist in der Tat schockierend. Aber zugleich doch wenig verwunderlich: Kriege entwickeln eine Eigendynamik, die Generäle und Politiker dazu antreibt, den Einsatz immer weiter zu erhöhen, obwohl sie kaum Resultate aufweisen können. Am Ende steht manchmal ein Sieg aufgrund politischer Entwicklungen – wie des Kriegs-eintritts der USA im April 1917. Oder die Situation wird so unhaltbar, dass man sich nach Jahren endlich doch unverrichteter Dinge zurückzieht; siehe Frankreich in Algerien oder die USA in Vietnam und Afghanistan.

Haben also die Protestler von Nationalfeiertag Recht mit dem, was auf ihrem Plakat stand: „Lëtzebuerg brauch keng Arméi“? Oder sollte man sie auf den Herrenberg schicken, damit sie „Disziplin und Respekt“ lernen, wie ein Besucher ihrer Facebook-Seite empiehlt? Ihr Pazifismus wirkte jedenfalls nicht friedensstiftend: Ein Polizeibeamter versuchte, sie am Vorzeigen des Plakats zu hindern, und später wurde dieses von wütenden Zuschauern zerrissen. Historische Erfahrungen wie jene des Ersten Weltkriegs liefern ein gutes Argument, der Kriegslogik zu misstrauen, statt sich, wie es Luxemburg zurzeit tut, an der Militarisierung der Außenpolitik der westlichen Staaten zu beteiligen.

Braucht Luxemburg eine Armee?

Die Erfahrungen der Somme-Offensive und des Ersten Weltkriegs im Allgemeinen waren es, die bis in die 1930er Jahre in Großbritannien pazifistischen Ansichten zur Popularität verhalfen. Im Umgang mit anderen Großmächten setzte die britische Außenpolitik auf Abrüstung und Verhandlungslösungen. Allerdings wurde diese Art des politischen Vorgehens nach dem Münchner Abkommen von 1938 als „Appeasement“ verfemt. Damals war die Tschechoslowakei durch Großbritannien und Frankreich gezwungen worden, sich Adolf Hitlers ultimativer Forderung nach Abtretung der Sudeten-Gebiete an Deutschland zu beugen – damit würden, so die Hoffnung, die Revisions- und Expansionsbegehren des Dikators endgültig befriedigt. Dass dies ein Irrtum war, daran erinnert ein weiterer Jahrestag: Am 22. Juni vor 75 Jahren begann der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion, der als eine Art krönender Abschluss der Expansionspolitik im Osten gedacht war. Die Lehre aus all dem scheint klar zu sein: Si vis pacem, para bellum. Auch wer den Frieden will, tut gut daran, sich auf den möglichen Krieg vorzubereiten – sonst nutzen skrupellose Gegner die Schwäche der Friedliebenden aus. Braucht Luxemburg also doch eine Armee?

Im Rückblick kann man die Entscheidungen der Westmächte in den Jahren 1939 bis 1941, Nazideutschland entgegenzutreten, nur begrüßen und bedauern, dass die vorausgegangene Kompromissbereitschaft das Ende der Hitler-Diktatur verzögert hat. Doch für die Politiker jener Tage war es wohl schwierig, die bevorstehenden Angriffskriege und erst recht den Holocaust vorherzusehen und „Mein Kampf“ als etwas anderes als ein Hirngespinst zu betrachten. Außerdem – wann genau wäre der richtige Zeitpunkt für ein frühzeitiges militärisches Vorgehen gewesen? 1938 während der Sudetenkrise, 1936 bei der Remilitarisierung des Rheinlands oder gleich 1933 nach der Machtergreifung Hitlers? Oder hätte man bereits 1919 beim Versailler Friedensvertrag oder spätestens 1923 beim Ausbleiben der Reparationszahlungen das Deutsche Reich endgültig zerschlagen sollen, wie manche französische Historiker meinen?

1378stoosAuch in jüngster Zeit hat sich die Frage, wann man militärisch gegen wen vorgehen soll, immer wieder gestellt. Anfang der 1990er intervenierten die USA kurzentschlossen gegen den Irak und die somalischen Warlords, zögerten in den Jahren danach aber, in die Jugoslawien-Kriege einzugreifen, und machten während des Völkermords in Ruanda 1994 keinen Finger krumm. In Libyen half der Westen 2011, Muammar al-Gaddafi zu stürzen, in Syrien entschied er sich 2013 nach den Giftgasangriffen in Syrien dafür, mit Baschar al-Assad zu verhandeln. Der Eindruck drängt sich auf, dass das Para-bellum-Argument eher als Rechtfertigung für opportunistische Entscheidungen denn als Richtschnur für langfristige Strategien zum Einsatz kommt.

Nato, hilf!

„Die USA täten gut daran, Russland als die dauerhafte globale Bedrohung anzuerkennen, die es darstellt“, schrieb der ehemalige Nato-Oberkommandierende in Europa, Philip M. Breedlove, vor zwei Wochen in einem Online-Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs. Beim Nato-Gipfel am 8. und 9. Juli in Warschau steht eine Entscheidung in diesem Sinne an: Vier multinationale Bataillone sollen in Polen und den drei baltischen Staaten stationiert werden. Diese insgesamt 4.000 Soldaten umfassenden Einheiten stellen zwar für Russland keine Bedrohung dar, wirken aber durchaus als Provokation – erstmalig wird es eine dauerhafte Truppenpräsenz so nahe an der russischen Grenze geben.

Konkreter ist da schon die bereits entschiedene Aufstockung auf 40.000 Soldaten der „Nato Response Force“. Diese schnelle Eingreiftruppe könnte zum Beispiel zur Verteidigung Lettlands eingesetzt werden … oder zur „Befreiung“ der Ostukraine. Breedlove bedauert jedenfalls, dass die Nato bisher auf russische Aktionen eher reagiert hat, statt sie vorwegzunehmen. Ganz im Sinne des „Para bellum“ warnt er vor Passivität und Unentschlossenheit: „Der Preis in Blut und Geld (…) wird künftig höher sein, wenn die USA es versäumen, jetzt zu handeln.“

Der von vielen Experten angekündigte zweite „Kalte Krieg“ mit Russland wirft die Frage auf nach dem angemessenen Umgang mit einem „Erzfeind“ – als der Deutschland seinerzeit den Westmächten erschien. Doch zwischen 1945 und 1989 gab es – zum Glück – keinen ernsthaften Versuch, die sowjetische Bedrohung mit militärischen Mitteln zu beseitigen. Dies, obwohl gerade in der Anfangszeit der Terror des stalinistischen Regimes und sein rücksichtsloses Vorgehen in den Ländern Osteuropas einen moralischen Grund dafür geliefert hätten. Und obwohl viele Generäle und Politiker mit einer ähnlichen Rhetorik wie Breedlove Stimmung machten für Aufrüstung und Konfrontation.

Domino oder Mikado?

Mit der Explosion der ersten sowjetischen Atombombe 1949 war allerdings die Option eines präventiven Kriegs für die USA grundsätzlich nicht mehr gegeben. Was nicht verhinderte, dass es immer wieder Vorschläge gab, wie man einen Nuklearkrieg gewinnen könne. Am bekanntesten dürfte Ronald Reagans „Strategic Defense Initiative“ (SDI) sein, ein Abwehrsystem, das vor einem Angriff durch Raketen mit Atomsprengköpfe schützen sollte. Auch heute gilt wieder: Einen Krieg mit Russland zu riskieren wäre ein Spiel mit dem – apokalyptischen – Feuer. Trotzdem werden im Rahmen des „National Missile Defense“-Programms, dem Nachfolger von SDI, in Rumänien und Polen Raketenabwehrsysteme installiert. Und damit die Versuchung geschaffen, es im Falle einer drohenden Konfrontation darauf ankommen zu lassen – vielleicht reicht der Schutz ja aus, damit der Westen einen nuklearen Schlagabtausch überlebt.

Doch nicht nur Russland wird von den Nato-Generälen und Diplomaten als Feind definiert, der Kampf gegen den Terrorismus wird ebenfalls dafür benutzt, das Militärbündnis zusammenzuschweißen. Der Warschauer Gipfel wird auch eine Strategie für die „hybride“ Kriegsführung, eine Mischung von militärischen und zivilen Operationen, verabschieden. Die soll Propaganda- und Guerrillaangriffen entgegenwirken, wie sie Russland in der Ukrainekrise führt, könnte aber auch gegen die islamistische Bedrohung und den „Feind im Inneren“ zum Einsatz kommen.

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Außen fix, innen nix. Die Nato verfügt über Hitech-Kriegsgerät wie diesen Turboprop-Transporter A400M, es fehlt ihr aber eine globale Strategie zur Friedenssicherung. (Foto: Wikimedia / Tangopaso / CC-BY-SA 3.0)

Hierfür liefert der Kalte Krieg ebenfalls ein Vorbild: das globale Feinbild Kommunismus. Unter dem Banner dieses Kampfes unterwanderten in Europa Geheimdienste linke und rechte terroristische Gruppen, während in Lateinamerika von den USA unterstützte Militärputschs soziale Reformen verhinderten. Auch Militärinterventionen beriefen sich auf die Notwendigkeit, präventiv gegen die kommunistische Bedrohung vorzugehen – vor 50 Jahren, im Juni 1966, überzeugte der US-Oberbefehlshaber in Vietnam, William Westmoreland, Präsident Lyndon B. Johnson von der Notwendigkeit, die Truppenstärke in Vietnam auf über eine halbe Million anzuheben. Die Kriegsbefürworter bemühten den Vergleich mit Dominosteinen: Wenn Vietnam erst einmal kommunistisch sei, dann würden die anderen Länder eines nach dem anderen umfallen. Rückblickend erkennt man, dass die damalige Lage in Südostasien, wie die heutige im Mittleren Osten, eher einem Haufen Mikado-Stäbchen entspricht: Ungeschickte Eingriffe ziehen dramatische Folgen nach sich.

Mit der stärkeren Gewichtung der Zusammenarbeit im Rahmen der Nato geht eine Präferenz für Aufrüstung und Abschreckung statt für Nationbuilding und Konfliktprävention einher. Insofern haben die Protestler unrecht: Um im internationalen Trend zu bleiben, braucht Luxemburg eine Armee. Seit Étienne Schneider 2013 das Ressort übernommen hat, zeichnet sich eine neue Herangehensweise ab. Statt die Militärausgaben, wie bisher, eher niedrig zu halten, gibt der Minister dem Druck aus Nato-Kreisen nach. Zur Erinnerung: Eigentlich ist jedes Bündnismitglied verpflichtet, zwei Prozent des BIP für seine Armee aufwenden – das ist dreimal so viel wie die Zielmarke für Entwicklungshilfe … und das Fünffache des aktuellen Luxemburger Militärbudgets.

Mogherini statt Schneider!

Schneider versucht, aus der Pflicht eine Tugend zu machen, indem er Projekte vorantreibt, die der nationalen Wirtschaft zugute kommen, zum Beispiel die Erneuerung der Findel-Landebahnen oder die Beteiligung an einem Kommunikationssatelliten. Weitere Fragen dazu stellt der Minister nicht – also zum Beispiel die, ob der Satellit oder die ebenfalls geplanten Tankflugzeuge nicht Beihilfe zu Kriegsverbrechen leisten können. Die Aufrüstung moralisch zu verbrämen, wie es insbesondere Charles Goerens Anfang der 2000er Jahre versucht hatte, ist nicht Schneiders Sache. So wird in einer Antwort auf eine Question parlementaire zum A400M die Entscheidung von vor 15 Jahren, eines dieser Transportflugzeuge zu kaufen, gerechtfertigt. Das Hauptargument von damals aber, die Möglichkeit, den A400M für humanitäre Zwecke einzusetzen, wird erst gar nicht erwähnt – was vermutlich ehrlicher ist.

Ginge es auch anders? Auf den ersten Blick stellt die neue „Global Strategy“ der EU einen Gegenentwurf zur Militarisierung der Außenpolitik dar. Das Dokument wurde diese Woche auf dem EU-Gipfel von der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik vorgelegt. Federica Mogherini plädiert für eine globale Herangehensweise, die sich nicht auf militärische Aspekte beschränkt, sondern Aspekte wie sozialen Zusammenhalt, Menschenrechte und regionale Zusammenarbeit einbezieht. „Wir werden in Win-win-Lösungen investieren und die Illusion überwinden, internationale Politik könne ein Nullsummenspiel sein“, heißt es im Vorwort zum Strategiedokument.

Die „Global Strategy“ wurde auf dem Gipfel nicht, wie vorgesehen, durchdiskutiert – der Brexit hatte Priorität. Das Ausscheiden Großbritanniens eröffnet aber auch anderen strategischen Ansätzen neue Chancen. So erscheint es jetzt möglich, eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik, vielleicht sogar eine EU-Armee, aufzubauen. Für diese Nato-freie militaristische Vision, die von den US-freundlichen Briten abgelehnt worden war, tritt vor allem Frankreich, die potenzielle Führungsmacht eines solchen Projekts, ein. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass aufgrund der Zerrissenheit der Post-Brexit-EU die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik stagnieren und zunehmend durch Renationalisierungsbestrebungen geschwächt werden wird – was wiederum auch keine erfreuliche Perspektive ist.


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