Alter und Popkultur: Dem Alter(n) ins Gesicht sehen

Die bereits seit 2017 auf dem virtuellen Markt verfügbare FaceApp verbuchte diese Woche einen großen viralen Erfolg. Allen voran die Funktion, sein Antlitz mithilfe eines aktuellen Fotos um etliche Jahre altern zu lassen, wurde verstärkt in Anspruch genommen. Birgt dieser kurzlebige Spaß Risiken und wie kann die scheinbare Bereitschaft, sich mit seinem älteren Selbst zu konfrontieren, gedeutet werden?

Die Tatsache, dass Menschen im „Dritten Alter“ zunehmend als aktive Charaktere über die Bildschirme flimmern, lässt einen gesellschaftlichen Wandel der Sichtweise auf das Altern vermuten. (Copyright: CC BY Viola NG – ND 2.0)

„AI ist das Ding, die Weltherrschaft. Wer AI versteht, hat den Heiligen Gral gefunden.“ Was die deutsche Autorin Sibylle Berg hier in ihrem leider gar nicht mehr allzu fiktionalen Werk „GRM-Brainfuck“, das in einer Überwachungsdiktatur im Großbritannien der Post-Brexit-Ära spielt, in Bezug auf künstliche Intelligenz (KI, engl.: Artificial Intelligence, kurz: AI) statuiert, hinterlässt mit Blick auf die netzpolitische Aktualität einen mehr als nur bitteren Nachgeschmack. Das derzeitige Brimborium um die sogenannte FaceApp hat auf datenschutzrechtlicher Ebene durchaus seine Berechtigung. Bei näherer Betrachtung (siehe Infobox) wirkt sogar Bergs Weltherrschaftsvergleich nicht einmal so weit hergeholt. Das ist definitiv ein Schlag ins (noch) faltenfreie Gesicht.

Besieht man sich nun noch das Gleichnis mit dem Heiligen Gral, so stellt man fest, dass der Graldem Ansinnen der App eigentlich widerspricht, da diese einen Blick auf die Konsequenzen des unaufhaltbaren Alterns ermöglicht, während das mittelalterliche Gefäß den Sagen zufolge ewige Jugend verspricht. Könnte der Boom der App etwa bedeuten, dass die Gesellschaft tatsächlich bereit ist, sich nicht mehr an der mittelalterlichen Legende aus der Feder von Chrétien de Troyes festzuklammern, und einen ehrlichen Blick in den Spiegel sowie die Gesichter älterer Mitmenschen wagt?

Bei der Beantwortung dieser Fragen bewegt man sich unweigerlich auf einer soziokulturellen Ebene des Sehens und Gesehenwerdens. Demnach bietet sich ein Abstecher in die Popkultur an. In diesem Feld war das Altern als Thema lange aufgrund seines schwierigen Vermarktungspotenzials unterrepräsentiert. Mittlerweile sind die Zeiten, in denen populäre Produktionen den Anschein erweckten, dass nur fitte, schöne Menschen mittleren Alters existieren, vorbei – wenn auch in Sachen Repräsentation noch einiges zu tun bleibt. An dieser Stelle seien nun jeweils ein musikalisches, ein filmisches sowie ein literarisches Beispiel aus den vergangenen fünf Jahren erlaubt, um zumindest den Ansatz einer potenziellen Wende zu illustrieren.

Gekonnter Hüftschwung

Mit „Uptown Funk“ landete der britische Musikproduzent Mark Ronson 2014 einen Welthit, der sich in etlichen Ländern wochenlang auf Platz eins hielt. Aktuell verzeichnet der FuSong, der im Original von Bruno Mars gesungen wird, 3.614.502.424 Plays auf Youtube. Jedoch existiert auch ein sogenanntes „Oldtown Cover“ des nigerianischstämmigen Künstlers Alex Boyé, der in seiner Version von den zauberhaften „Dancing Grannies“ unterstützt wird. Zwar kann dieses Remake „nur“ knapp acht Millionen Aufrufe verbuchen, aber das dort vermittelte humorvolle Empowerment geht weit über schiere Klickzahlen hinaus.

Der 48-jährige Boyé umgibt sich von Anfang an mit älteren Menschen. Über den Bildschirm huschen nicht etwa schnelle Protzkarren, sondern motorisierte Rollstühle, Gehstöcke werden geschwungen und es zeigt sich, dass ein Tanzschritt genauso elegant rüberkommen kann, wenn er mit etwas mehr Ruhe vollzogen wird. Die gezeigten Menschen wirken weder glatt, noch außerordentlich sportlich und entsprechen nicht den typischen Schönheitsidealen. Nichtsdestotrotz offenbart sich hier kein von Musik untermaltes Memento mori. Betagtere Menschen werden mit ihren Fähigkeiten gezeigt, anstatt dass der Fokus auf dem liegt, was eventuell nicht mehr funktioniert. Etwaiges Mitleid muss der Bewunderung dafür weichen, dass der ein oder andere Opa sowie etliche Omas weitaus coolere Dancemoves draufhaben als man selbst.

Ein weiteres Beispiel kann der Serienwelt entnommen werden. Zwar befinden sich beim Netflix-Original „Grace and Frankie“ die ungleichen Frauen nicht gerade im Paradies, als ihre Ehemänner sich mit über 70 Jahren als homosexuell outen und die Scheidung einreichen, was indes keineswegs einem Trauerspiel gleicht. Aufkommende Schwierigkeiten werden humorvoll, aber niemals verharmlosend dargestellt und das Drehbuch hält Lösungsansätze bereit.

Copyright: CC BY Alex Proimos NC 2.0

Arthrose vs. Vibrator

So zum Beispiel für Frankies eher beschränkte Medienkompetenz oder auch Graces Problem, einen konventionellen Vibrator in der Hand zu halten, da die Arthrose auch vor ihrem pingelig in Schuss gehaltenen Körper nicht haltmacht. Durch Selbstreflexion und Selbstvertrauen entwickeln beide Charaktere Tools zur Selbsthilfe. So bewegt sich die Serie weg vom Bild des alternden, handlungsunfähigen und ohnmächtigen Menschen. Außerdem impliziert der Handlungsverlauf der Serie den langen Prozess der Thematisierung und Verbalisierung von Belangen älterer Menschen. Die Kommunikation zwischen Gleichaltrigen sowie mit den eigenen erwachsenen Kindern über Tabus (zum Beispiel Sexualität im Alter) bekommt ihren berechtigten Raum und wird mit ihren möglichen Tiefen, aber auch realistischen Höhen dargestellt.

Für den literarischen Kontext darf der traurige, aber ebenso lebensbejahende Roman „Ein Mann namens Ove“ des schwedischen Schriftstellers Fredrik Backman herangezogen werden. Etwas unverhofft drängt sich so mancher Vergleich mit Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ auf, obwohl beide Werke mehr als ein halbes Jahrhundert trennt, da so aufgezeigt wird, welche Umstände sich verändert haben und welche Probleme nach wie vor bestehen. Auf der einen Seite haben wir den schwedischen, ordnungsverliebten, in Zwangsrente versetzten Witwer Ove, der in einer Reihenhaussiedlung lebt. Auf der anderen den betagten kubanischen Fischer Santiago, der trotz größerer Gebrechen bis zu seinem Tod arbeiten muss. Während Letzterer obwohl am Ende seiner Kräfte noch zu überleben versucht, zielt Ove auf einen bis ins letzte Detail durchgeplanten Suizid ab, da seine Frau nicht mehr lebt und ihm seine in seinen Augen sinnlose Existenz zu schaffen macht. Santiagos Leben wird von einem eigentlich erfolgsversprechenden Fischfang bedroht. Ove wird seinerseits immer wieder beim Sterben gestört, weil ihm Menschen in die Quere kommen, die ihn brauchen und die letztendlich auch er braucht. Beide Protagonisten verbindet die zumindest anfängliche Einsamkeit, die zu Hemingways wie zu Backmans Zeiten ein Element im Alterungsprozess ausmachen. Auch die Frage nach der (Selbst-)Wertigkeit älterer Menschen steht im Raum. Inwiefern die Gesellschaft als potenziell inkludierendes Kollektiv hier eine Mitverantwortung zu tragen hat fragen beide Autoren, und es gilt, eine zeitgemäße Antwort hierauf zu finden.

Wenn Menschen über 60 zuvor im popkulturellen Kontext überhaupt Visibilität erfuhren, dann häufiger nicht aufgrund ihres Potenzials, sondern als stotternde Zeug*innen einer längst vergessenen Zeit. Mittlerweile kann die Tatsache, dass immer mehr aktive Menschen im sogenannten „Dritten Alter“ über die Bildschirme flimmern, längst nicht nur darauf zurückgeführt werden, dass die Zahl der kaufkräftigen älteren Konsument*innen steigt. Auch das jüngere Publikum horcht auf und zeigt Interesse. Alle zitierten Beispiele sind nicht einmal Nischen entliehen, sondern erfreuen sich, wie die FaceApp, großer Popularität. Sie lassen vermuten, dass das Sichtfeld sich langsam, aber sicher weitet und sich nicht mehr nur auf den ultrapotenten Menschen im angeblich besten Alter fokussiert wird. Wer sich selbst als alterndes Lebewesen wahrnimmt, dessen Perzeption älterer Menschen kann sich ebenfalls verändern. Im besten Fall funktioniert das auch ohne App und unnötiges Verbraten von privaten Daten.

Zu FaceApp

Die FaceApp erlaubt Nutzer*innen wahlweise eine Verjüngungskur oder eben die Möglichkeit, virtuell zu altern. Nutzer*innen zahlen nur auf den ersten Blick nichts für das recht kurze Vergnügen. Sogar wenn die Behauptungen des Herstellers zutreffend sein sollten und das gesammelte Material nicht an Dritte weitergegeben wird, ermöglichen die gelieferten Daten es der KI, sich weiterzuentwickeln.
Obwohl diese russische Software nicht an europäische Richtlinien gebunden ist und nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, was nach der Nutzung mit den hochgeladenen Originalfotos passiert, darf sie fast schon als Kinkerlitzchen im Gegensatz zu zahlreichen anderen Apps, bei denen Gesichtserkennung im Zusammenhang mit KI eine Rolle spielt, gelten.
Wie der Leiter des Digitalressorts der Süddeutschen Zeitung Jannis Brühl kürzlich treffend anmerkte, wird das Gesicht durch derartige Software zum „Peilsender, den man nicht mehr loswerden kann“. Der Vergleich stammt nicht von ungefähr, wenn man bedenkt, dass auf ähnliche Datensätze zurückgegriffen wird, um die Technik von Kampfdrohnen und deren Zielerkennung zu verfeinern.


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