Wer in den Niederlanden Asyl beantragen will, muss sich in einem Anmeldezentrum bei Groningen registrieren lassen. Immer wieder führen die Wartezeiten dazu, dass Menschen im Freien campieren müssen; die hygienischen Umstände werden schon mit jenen im berüchtigten griechischen Camp Moria verglichen. Eine politisch herbeigeführte Krise, die tief blicken lässt.
Haiti, Myanmar, Ukraine, Afghanistan, Guatemala – in all diesen Ländern ist die Hilfsorganisation „Médecins sans Frontières“ (MsF) aktiv. Seit Ende August gehören auch die Niederlande zu den Einsatzgebieten der Organisation – genauer gesagt das „Anmeldezentrum“ für Asylbewerber in Ter Apel bei Groningen. „Eigentlich sollten wir hier nicht sein müssen“, kommentierte dies Judith Sargentini, Direktorin des niederländischen MsF-Zweigs, kurz nach ihrer Ankunft dort. Dass man erstmals in der Geschichte in den Niederlanden bei einer Krise einspringen müsse, sei „beschämend“.
Der Einsatz des fünfköpfigen Teams markiert den Höhepunkt der seit Monaten anhaltenden Krise in Ter Apel. Dort müssen sich alle registrieren lassen, die in den Niederlanden um Asyl bitten. Immer wieder gerät dieser Prozess ins Stocken. Über Monate hinweg übernachten dort deshalb immer wieder Menschen im Freien, die eigentlich in staatlichen Wohnheimen das Ergebnis ihres Asylverfahrens abwarten sollen. Ende August, auf dem Höhepunkt der Krise, sind es in drei aufeinanderfolgenden Nächten je etwa 700 Personen gewesen.
Die entsandten MsF-Mitarbei- ter*innen waren bereits beim ersten Ortsbesuch mit einer Realität konfrontiert, die sie nicht erwartet hatten: Sie stellten so schwere Mängel bei den hygienischen Verhältnissen fest, dass sie die Situation mit jener im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos verglichen. Zwei Asylbewerber wurden unmittelbar nach Einsatzbeginn ins Krankenhaus gebracht. Kurz zuvor war ein drei Monate altes Baby in einer Sporthalle, die als Notunterkunft dient, verstorben. Die seit Monaten schwelende Krise landete nun mit einem Mal im Zentrum des politischen Diskurses der Niederlande.
Inzwischen hat die Regierung neben mehreren kurzfristigen Notunter- künften eine leerstehende Kaserne für bis zu 700 Asylsuchende gefunden. Mitte September kamen die ersten 450 davon dort an. Das Dorf Zoutkamp, eine Stunde nordwestlich von Ter Apel gelegen, ist damit fortan zum „Wartezimmer“ des Anmeldezentrums geworden.
Der Rückstand der Behörden, die Asylanträge bearbeiten ist deswegen nicht kleiner geworden, und auch die von der Regierung vorschnell getroffene Entscheidung, nach der Flüchtlingskrise von 2015 die Zahl verfügbarer Unterkünfte zu verringern, wurde nicht rückgängig gemacht. Verschärft wird das Problem zudem durch den enormen Wohnungsmangel im Land: Es fehlen rund 300.000 Wohneinheiten, und so müssen auch Tausende anerkannter Asylbewerber*innen länger in Übergangswohnheimen verharren. Die aktuelle Situation der Asylsuchenden ist also mit anderen Krisen verknüpft, die sich gegenseitig verstärken.
Die politisch zu verantwortenden strukturellen Engpässe bei den Asylverfahren will die Regierung nun mit einer Doppelstrategie lösen: Einerseits will die Mitte-Rechts-Koalition – neben den liberalen Parteien VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) und D66 (Democraten66) auch die christlichen Parteien CDA (Christen-Democratisch Appèl) und CU (ChristenUnie) – die Zahl der Auffangplätze um 20.000 erhöhen, andererseits den Familiennachzug bis zu 15 Monate aussetzen, wenn keine Unterkünfte für die Betroffenen zur Verfügung stehen. Damit soll der Druck auf das Asylsystem reduziert werden. Bei der progressiv-urbanen D66 trifft dieser „Asyl-Deal“ nicht gerade auf Begeisterung, ebenso wenig bei der calvinistischen CU, die sich gerne mit sozialem Bewusstsein und Nächstenliebe profiliert.
Wie angespannt die Stimmung ist, zeigte sich zuletzt Anfang September in einer Parlamentsdebatte in Den Haag. Man merkte Eric van der Burg, dem Staatssekretär für Asyl, an, dass er etwas gutzumachen hatte und nach diesen hektischen Wochen im Soll steht. Selbstkritisch räumte er ein, es sei „außergewöhnlich ungeschickt“ gewesen, nach der Welle syrischer Geflüchteter die Notunterkünfte abzubauen. Oft würden Asylsuchende im Norden und Osten des Landes untergebracht, weil dort eben mehr Platz sei und geeignete Gebäude leer stünden, so van der Burg weiter.
Dass die Bewohner*innen dieser Regionen sich ohnehin von Den Haag stiefmütterlich behandelt fühlen, weiß er. Die Proteste dieses Sommers, erst die der Bauern, dann an verschiedenen Orten gegen Asylunterkünfte, lassen sich auch als Aufstand der Provinz gegen „den Westen“ mit seiner politischen, wirtschaftlichen und demografischen Macht verstehen. Van der Burg plädierte daher für ein Gesetz, um Asylsuchende „ehrlich“ über das Land zu verteilen. Der nach ihm sprechende Joost Eerdmans von der Rechtspartei JA21 schlug hingegen schärfere Töne an: Kompromisse seien schön und gut, sagte er, doch helfe einzig eine strengere Asylpolitik, und die Mehrheit der Niederländer hätten es satt.
Bei einer TV-Umfrage haben sich 69 Prozent dafür ausgesprochen, vorübergehend keine Asylsuchenden mehr aufzunehmen.
Tatsächlich haben sich im August 69 Prozent der Teilnehmenden einer Umfrage in einem führenden TV-Nachrichtenmagazin dafür ausgesprochen, vorübergehend keine Asylsuchenden mehr aufzunehmen. Zugleich ist in sozialen Medien eine Rhetorik zum Mainstream geworden, die Asylbewerber*innen immer selbstverständlicher „Glückssucher“ nennt, die vor allem aus sogenannten sicheren Ländern kämen. Das Schlagwort „Asyl-Stopp“ wird so bis weit ins bürgerliche Lager konsensfähig.
Eine direkte Auswirkung hiervon: Wenn es darum geht, neue Notunterkünfte bereitzustellen, wird die Mitarbeit von Kommunen zu einem heiklen politischen Manöver. 20.000 Aufnahmeplätze sollen landesweit geschaffen werden. Doch immer, wenn Pläne konkreter werden, regt sich sofort Wiederstand. Wie weit dies führen kann, zeigte sich vor kurzem beispielhaft in Albergen, einem Dreieinhalbtausend-Seelen-Dorf an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen. Dort kaufte die „Zentrale Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern“ (Centraal Orgaan opvang asielzoekers, COA), die für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständig ist, im August ein Hotel auf, um 300 Personen darin unterzubringen – ohne die zuständige Kommune überhaupt zu konsultieren. Es war das erste Mal, dass man in Den Haag zu einem so drastischen Schritt griff.
Während der folgenden Proteste schwankte der Tenor zwischen Frust darüber, bei dieser Entscheidung übergangen worden zu sein, Angst vor vermeintlich „zu vielen“ Asylbewerber*innen in dem kleinen Dorf bis zu unverhohlen rassistischer Ablehnung. Inzwischen haben sich die Kommune und die Asylbehörde darauf geeinigt, 150 Auffangplätze in dem Hotel zu schaffen. Doch in einem Klima, das noch immer aufgewühlt ist von den wochenlangen Agrarprotesten dieses Sommers, ist Albergen von einem unbedeutenden Dorf zum Symbol dafür geworden, wie Den Haag die eigenen Bürger*innen behandelt – zumal die in der Peripherie ansässigen. Ein Symbol aber auch dafür, wie diese sich zur Wehr setzen: So wie sich 2019 die Hälfte der Bevölkerung mit den Bäuer*innen solidarisch erklärte, die gegen eine Reduzierung der Stickstoff-Emissionen auf die Straße gingen (siehe den Artikel „Stunk um Stickstoff“ in woxx 1557), identifiziert man sich jetzt mit den Menschen in Albergen: deren Unmut spiegelt die diffuse Anti-Regierungs-Stimmung in weiten Teilen des Landes wider.
Wenn etwas all die Proteste symbolisch verbindet, dann die umgedrehte niederländische Flagge. „Blau-Weiß-Rot, Schiff in Not“, diese sprichwörtliche Bedeutung hatte die umgedrehte Fahne einst in der Schifffahrt. Heute ist die Botschaft: Die Niederlande sind in Not, weil die Interessen der Bevölkerung nicht mehr zählen. Seit die Traktoren die Autobahnen des Landes blockierten und am Fahrbahnrand die Heuballen brannten, findet sich die auf dem Kopf stehenden niederländischen Farben überall entlang der Straßen in der Provinz. In Albergen wehen sie noch immer an fast jeder Laterne. Diese Fahne, die ebenfalls während der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie zu sehen war, steht nicht nur für das Unbehagen zahlreicher Bürger gegenüber der Regierung von Premier Mark Rutte, sondern auch für jenes der ländlichen Gebiete, die sich von den Machtzentren in Den Haag und Amsterdam benachteiligt fühlen. Auch die Asylsuchenden werden auf diese Weise als Instrument wahrgenommen, mit dem die „Elite“ die Bevölkerung draußen im Land drangsaliert, vergleichbar mit Umweltauflagen und Kontaktbeschränkungen während der Pandemie.
All dies bleibt nicht folgenlos: Ende August hat es auf die Unterkunft in Albergen einen Brandanschlag gegeben. In Ter Apel wiederum hat Anfang September ein 22-jähriger Mann durch die Gitterabsperrung hindurch fünf Personen, darunter ein Asylbewerber, zwei Sicherheitsleute und zwei Mitarbeiter*innen der Einrichtung, mit einer Substanz besprüht. Den Betroffenen wurde daraufhin übel. Der Täter wurde festgenommen.
Vorfälle wie diese zeugen von einem Klima, in dem wütende Bür- ger*innen glauben, ihr vermeintliches Recht in die eigenen Hände nehmen zu müssen. Dieses Klima geht über eine lokale Notsituation, wie sie in Ter Apel geschaffen wurde, weit hinaus. Sie sind auch Ausdruck sich verschärfender sozialer Widersprüche in einer Gesellschaft, in der sich auch die Verteilungskämpfe um politisch verknappte Güter wie Wohnraum zuspitzen. Angesichts all dessen drohen politische Grundrechte wie das auf Asyl auf der Strecke zu bleiben.